Entsagung als Widerstand
«Nun habe ich den Zeitpunkt fast vollständig gelesen, aber das Rezept für einen Widerstand ohne Gegenkraft habe ich nicht gefunden», schreibt uns ein Leser. Er findet auch: Ob sich Aktivismus lohnt, ist eine Frage der Umstände – von «set» und «setting».
Die Ausgabe des Zeitpunkt mit dem Titel «Widerstand ohne Gegnerschaft» hatte interessante Artikel zu Aktivisten, die erfolgreich waren und zu Berühmtheit gelangten, so dass sie für ihren Kampf belohnt wurden. Aber einen Prinzipienwechsel, so etwas wie das Wu Wei oder eine grundsätzlich andere Taktik, habe ich nicht erkennen können.
Die Frage, ob wir Aktivismus betreiben sollen und ob es sich lohnt, Aktivist zu sein, ist aus systemtheoretischer Perspektive eine der Umstände. Gandhi hatte Glück, dass seine Gegner die Briten waren und nicht Nazis, jene Briten, die ohnehin Indien als Kolonie aufgeben wollten. (Mit Indiens Unabhängigkeit haben die Besitzer nicht gewechselt; 80% der Teeplantagen z.B. blieben in britischer Hand.) Daher war der Kampf, der gewaltfreie Widerstand, möglich und sinnvoll – und hat Erfolg gebracht.
Die Schweizer Eidgenossenschaft hatte Umstände, die den bewaffneten Aufstand als Weg zur Freiheit zuliessen. Das «set und setting» waren derart, dass dieses Vorgehen zu Erfolg führte. Die äusseren Umstände, das setting, bestanden darin, dass Habsburg die neue Schweiz nicht mit allen Mitteln besiegen wollte. Die Qualität des sets waren der Zusammenhalt der Eidgenossen, die Bereitschaft für die Gemeinschaft einzustehen und sich auch zu opfern. Diese Gegebenheiten haben den Aufstand zum Erfolg geführt. Beide Seiten, set und setting, müssen entsprechende Qualitäten aufweisen, auf dass ein Wandel möglich ist.
Gemäss Chris Hedge haben die Konzerne und Milliardäre gewonnen. Denn das setting ist massiv im Vorteil für die Mächtigen. Kapitalkonzentration, quasi-Medienmonopol, Lohnsklaverei, etc., geben der Oberschicht alle Vorteile und Machtmittel, um die 99% zu kontrollieren und zu manipulieren. Und dem set, den 99%, fehlt es an Zusammenhalt, Gemeinschaftsgefühl und Aufopferungs-Wille. Nicht einmal eine gemeinsame Ausrichtung ist festzustellen. Divide et-impera hat die Gesellschaft atomisiert und monadisiert! Es gibt keinen Konsens.
Unsere ganze Gesellschaft ist auf die 1‰ getrimmt und so ausgerichtet, dass diese die Profite einsacken und die Kontrolle behalten. Die Kapitalkonzentration formt das setting derart, dass jeglicher Widerstand in irgendeiner Weise zerbröselt, aufgerieben oder umgeleitet wird. Gekaufte Medien liefern Propaganda, kontrollierte Oppositionen entzweien und verhindern einen Konsens, Pseudothemen (e.g. «woke») binden Ressourcen und lenken vom Wesentlichen ab. Alles so, dass nie eine kritische Masse erreicht wird, die tatsächlichen Wandel bringen könnte.
Auch das set ist in der «me-first» Welt, in der alle «rich and famous» werden wollen, Lichtjahre entfernt von dem, was für echte Veränderung nötig wäre. Dem set fehlt das Wir-Gefühl, die Solidarität, der Zusammenhalt, ja gar eine gemeinsame Vision (Betonung auf «gemeinsam»). Der Bürger passt sich lieber an.
Diese beiden Faktoren, das set der Bürger und das setting der Gesellschaft, sind so, dass im Moment keine Erfolgsausicht für einen Umbruch besteht. Die Situation ist wie anno 1815. Der Aufstand ist niedergeschlagen, ergo Rückzug aus dem Politischen, hin zum Biedermeier.
1848 kam dennoch – oder gerade deswegen?
Ist der Rückzug in den Biedermeier die Antwort? Ist dies der Widerstand ohne Gegenkraft? In der Erkenntnis, dass im Äusseren derzeit nichts möglich ist, kehren wir uns vom Äusseren ab. Eine scheinbare Aufgabe – in Wirklichkeit eine Verlagerung zu innerem Widerstand, gestärkt durch Tätigkeiten der Musse. Ein Rückzug, so dass der Widerstand im Äusseren verschwindet, aber im Bewusstsein nicht nur weitergeht, sondern sich ausbreitet wie ein Sauerteig, der den ganzen Teig durchsäuert, um dann – wenn die Zeit reif ist – unaufhaltsam auszubrechen! Das wäre eine Form des Widerstands ohne Gegenkraft.
Oder müssen wir einen Schritt weitergehen, indem wir den Widerstand resp. den Aktivismus vollständig ins Transzendentale verlagern? Alles Materielle aufgeben, buddhistische Entsagung, Mönchstum. Eine Entsagung als Protest gegen den Materialismus, gegen die Korruption, gegen die Ausbeutung, gegen die Ungleichheit (den Gini-Koeffizienten), gegen Kriege für Profit, gegen Klimawandel und Klimawandel-Missbrauch, gegen alles, mit dem wir nicht einverstanden sind.
Die Entsagung steht der persönlichen Bereicherung, Komfort, Karriere – auch jener durch Aktivismus – diametral entgegen und fördert somit Solidarität und Opfer bringen für die Gemeinschaft. Diese Qualitäten sind essentiell für einen Wandel und sie sind deutlich untervertreten in unserer Gesellschaft. Entsagung ist ein Arbeiten am set.
Entsagung ist eine Form des Widerstands, die nicht mehr am äusseren Resultat gemessen wird. Sie ist nicht dem Erfolgszwang unterworfen. Die buddhistische Entsagung ist transzendental, der Lohn (engl. merit) liegt im Jenseits resp. im guten Karma im nächsten Leben. Der Widerstand und Protest ist da; der Gegner kann aber mit nichts dagegen halten. Im Gegenteil, nun muss der Reiche und Mächtige, das Kapital, sich umso mehr ein Nadelöhr suchen, durch das ein Kamel hindurch gehen kann…
Denn in der Entsagung ist der Entsagende den Mächtigen unendlich überlegen. Die irdischen Freuden, die Reichtümer, die Vorteile und Machtmittel der Reichen unterliegen der Vergänglichkeit, sie werden der Endlichkeit überführt. Die zerrinnende Zeit lässt auch Macht und Reichtum zerrinnen. Das Irdische wird nichtig, das Jenseits rückt ins Zentrum. Memento mori, ihr Reichen und Mächtigen, das jüngste Gericht nähert sich euch unaufhaltsam…
Die konsequente Entsagung hält auch einem Atomkrieg stand. Aus meiner Sicht ist der Rückzug in die Spiritualität, die Transzendenz und somit die Entsagung des Weltlichen die letzte Möglichkeit, die uns bleibt.
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Kommentare
schön geschrieben
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