Fliehen oder standhalten
Die «Flüchtlingskrise» zeigt uns, dass es positive emotionale Ansteckung geben kann. Und dass es konstruktiv sein kann, Probleme willkommen zu heissen.
Willkommenskultur: Was für ein warmes Wort. Für mich als Deutsche war sein Auftauchen einer der schönsten und überraschendsten Momente dieses Jahres. Wobei es mir hier nicht um die Ausbreitung deutscher Befindlichkeiten geht, sondern um die Beschreibung des historischen Moments, wie die Stimmung in einer vergleichsweise starren konservativen Gesellschaft in eine positive Aufnahmebereitschaft gegenüber Fliehenden kippte.
Nie hätte ich mir in diesem jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang tendenziell fremdenfeindlichen Land träumen lassen, dass Flüchtlinge am Münchner oder Dortmunder Hauptbahnhof mit Beifall empfangen werden! Dass eine unglaubliche Welle spontaner Hilfsbereitschaft fast die ganze Bevölkerung erfasst, dass sich gespendete Kleider, Schokolade und Spielsachen stapeln, dass Ärzte gratis Kranke verpflegen, pensionierte Lehrerinnen Deutschunterricht anbieten, Prominente und Unbekannte, Junge und Alte, politische und unpolitische Menschen Fremde bei sich aufnehmen oder ihnen musikalische Ständchen in der Notunterkunft bringen. Die in Deutschland ausgetragene Fussball-Weltmeisterschaft 2006 ging als «Sommermärchen» in die Geschichte ein, nun haben wir das «Sommermärchen II» erlebt.
All das darf man nicht mit Harmonie oder Euphorie verwechseln – ganz im Gegenteil. Die Hilfsbereitschaft war und ist auch eine Reaktion auf das Totalversagen der Behörden und auf menschenverachtende Anschläge von Rechtsradikalen, und entsprechend wütend sind viele Engagierte. In Berlin ist das für die Registrierung und Verteilung der Betroffenen zuständige Amt bis heute nicht in der Lage, menschenwürdige Prozeduren zu organisieren, sodass Traumatisierte, Kranke, alte Leute im Rollstuhl, ganze Familien in Parks nächtigen müssen. Nicht der zuständige Staat, sondern eine vielhundertfüssige ehrenamtliche Initiative versorgt sie mit dem Nötigsten; sie schafft an einem Tag, was die Behörde in vier Wochen nicht hinbekommt.
Auch ein erzkonservatives Provinznest wie das schwäbische 24'000-Seelen-Städtchen Wertheim summte im September «wie ein Bienenstock», als dort 600 Flüchtlinge eintrafen, wie eine Beteiligte erzählt. Weil wie an so vielen Orten die staatliche Unterstützung ausblieb, packten neben Feuerwehr, Deutschem Rotem Kreuz, Technischem Hilfswerk vor allem unzählige Freiwillige mit an, unter anderem um eine Sporthalle einzugsfertig zu machen. Kurz vor ihrem Bezug verübten Unbekannte einen Brandanschlag, sie brannte aus. Rund 1'500 wütende Wertheimer protestierten tags darauf gemeinsam gegen die mutmasslich rechtsradikalen Täter und versicherten den Flüchtlingen ihr Willkommen. Ereignisse, wie sie Wertheim und viele andere deutsche Orte noch nie erlebt hatten.
Obwohl über 60 solcher Brandanschläge im ganzen Bundesgebiet zu beklagen sind, befindet sich die Fremdenfeindlichkeit heute paradoxerweise auf historischem Tiefstand. In Umfragen wird regelmässig getestet, wer Statements wie dem folgenden zustimmt: «Hier leben schon so viele Ausländer, wir können keine weiteren mehr aufnehmen.» Anfang der 2000er Jahre waren fast 40 Prozent dieser Meinung – in einer Zeit stark sinkender Asylantragszahlen. Jetzt, wo diese auf Rekordhöhen schnellen, stimmen dem nur noch 18 Prozent zu. Nach einer weiteren Umfrage sind 80 Prozent für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Das sei in der deutschen Geschichte «einmalig», bestätigt der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismusexperte Hajo Funke. Allerdings kippt die Stimmung jetzt wieder, oder vielmehr: Sie wird von Spin-Doctors und in Redaktionsstuben gekippt, die Moral für überflüssiges Gutmenschentum halten.
In den Zahlen zeigt sich auch, dass persönliche Erfahrungen das Bild von Fremden wesentlich bestimmen. Wer ausländische Nachbarn hat oder Flüchtlingskinder in seiner Schulklasse, verliert die Angst vor den Kulturen anderer und entdeckt, dass überall Mensch drin ist, wo Mensch aussen erkennbar ist, egal wie er oder sie aussieht. Umgekehrt sind die Ressentiments genau in jenen Gegenden Ostdeutschlands bis heute besonders stark, in denen das DDR-Regime keine persönliche Begegnungen mit Ausländern zuliess. In der Schweiz ist die Ablehnung gegen Minarette am grössten in den Kantonen, in denen die wenigsten Muslime leben.
Flüchtlinge repräsentieren ungewollt «das Fremde in uns selbst» – das bestätigen sozialpsychologische Studien immer wieder. Also unsere Schattenseiten, die uns selbst befremdenden Gefühle. An der menschenwürdigen oder -unwürdigen Behandlung von Fremden zeigt sich, wie eine Gesellschaft mit ihren inneren Ängsten umgeht. Labile Menschen brauchen als Container für ihre Wut und Statusangst andere, die sozialen Abstieg verkörpern, die sie ausgrenzen, hassen und verachten können. Prominente Beispiele dafür sind der turkophobe deutsche Politiker Thilo Sarrazin, dessen Nachname auf türkische Vorfahren verweist, oder der künstlich erblondete niederländische Rechtspopulist Geert Wilders mit seinen indonesischen Gesichtszügen.
Und: «Flucht», das ist ein Angstschweiss-Thema, wohl so alt wie die Menschheit. Es rührt an Existenzängste, dass auch wir irgendwann vor irgendwas fliehen müssen, dass unsere wohlige heizkörperwarme Zivilisation so stabil nicht ist. Flüchten oder Standhalten ist für uns alle ein Thema. Auch deshalb haben wir «Flucht» zum Schwerpunkt dieser Ausgabe gewählt, mit all ihren Facetten.
Es ist also eine sehr beruhigende Erfahrung, dass in unruhigen Zeiten die Menschlichkeit siegen kann und nicht die Abwehr. Reporter, die sich unter die Zehntausende von Freiwilligen mischten, machten mehrere Leitmotive für deren Handeln aus: Die Wut, dass die amtlich Zuständigen versagen. Der Wunsch, sich Rechtsradikalen in den Weg zu stellen. Der Versuch, aus dem Zustand von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu entkommen, die einen angesichts der Kriegsbildern im Fernsehen überwältigen. Das Glücksgefühl, Menschen in Not helfen zu können und damit die eigene Selbstwirksamkeit zu spüren.
Und schliesslich auch eigene Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Migration, die in vielen Familien der deutschen Nachkriegsgesellschaft präsent sind – sei es, dass die eigenen Grosseltern vertrieben wurden oder die Eltern selbst Flüchtlinge waren. Eine jahrzehntelange Aufarbeitungskultur der deutschen Verbrechen im Dritten Reich trägt hier womöglich auch Früchte. Und Boulevardmedien wie «Bild» spielten eine ausnahmsweise positive Rolle. Früher hetzten sie gegen «Asylmissbraucher» und «faule Griechen», nun plötzlich schwimmen sie eifrig im Wärmestrom der Menschlichkeit mit – wie lange noch, ist allerdings unklar. All das wirkt, als ob nach Jahrzehnten neoliberaler Hirnwäsche ein Selbstheilungsprozess einsetzt und eine Gesellschaft wieder Freude an kooperativer Gemeinschaft statt an konkurrenzhafter Aggression entwickelt hätte.
Zusammengenommen ergab all dies eine neue historische Situation: Die Zivilgesellschaft hat die Bundesregierung zum Handeln gebracht. Die deutsche Kanzlerin hiess die Kriegsflüchtlinge willkommen – eine Regierungschefin, die für ihre Vorsicht ebenso bekannt ist wie für ihren politischen Instinkt. Dieser «Instinkt» beruht vor allem auf Meinungsumfragen. Merkel richtet sich stets subtil nach Volkes Wille aus, indem das Kanzleramt tagtäglich Umfragen herausgibt und genau auswertet, was opportun erscheint.
Viele Granden in Merkels Partei fanden das allerdings gar nicht witzig, der Bruch in der Regierung ist unübersehbar. Der Innenminister glänzte mit dem verfassungswidrigen Vorschlag, das Grundrecht auf Asyl durch eine Quote zu ersetzen. Und die bayrische CSU ist eh gegen alles und jeden. Demonstrativ lud sie jüngst den ungarischen Ministerpräsidenten und schlimmsten Stacheldrahtzieher nach dem Mauerfall ein. Wütende Demonstranten drehten die Parole des früheren US-Präsidenten gegen die Berliner Mauer in die Gegenwart: »Mr. Orbán, tear down this wall!»
Wie das alles ausgeht, ist ungewiss. Die angepeilten Gesetzesänderungen in Deutschland und der EU verheissen nichts Gutes. Aber wie gesagt, nicht die deutsche Erfahrung ist daran interessant, sondern die allgemeine, wie Gesellschaften in der Krise mit der Krise umgehen. Denn machen wir uns nichts vor: Die Krise ist Normalzustand geworden und der Normalzustand krisenhaft. Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Eurokrise, Umweltkrise, Klimakrise, Hungerkrise, Wasserkrise – der Kapitalismus selbst ist zum Krisismus mutiert. Die Krisen überlagern sich in systemischer Weise, keine kann mehr ohne die andere gelöst werden, und die politischen Eliten haben dafür keinerlei Konzepte.
Perspektivlos gewordene Menschen fliehen in Massen aus den »failed states» im Nahen und Mittleren Osten, im Maghreb und Schwarzafrika, auch die EU droht auseinanderzufallen, und die Schweiz mittendrin wird keine Oase der Seligen bleiben. Grenzzäune, und seien sie noch so hoch, werden irgendwann überrannt, wenn die Not unerträglich wird – auch das ist eine Lehre dieses Sommers.
Und wir in den westlichen Ländern beginnen zu ahnen, dass das alles nur der Anfang ist. Denn die eigentlichen Fluchtursachen bekämpft trotz vollmundiger Erklärungen mancher Politiker niemand – ganz im Gegenteil. Wehe, wenn weitere militärische Versuche von «Regime Change» islamistische Monster erst so richtig gross machen. Wehe, wenn Diktatoren, durch westliche und östliche Rüstungsexporteure mitbewaffnet, ihre Bevölkerung weiter drangsalieren, foltern und umbringen. Wehe, wenn Monsanto, Syngenta & Co. mit Landgrabbing und Gentechnik die Existenzgrundlage von Abermillionen kleinbäuerlicher Familien in Afrika zerstören.
Wehe, wenn die EU mit Exportsubventionen lokale afrikanische Märkte ruiniert. Wehe, wenn Freihandelsabkommen wie TTIP Schwellenländer verarmen lassen. Wehe, wenn die Schweiz & Co. der Welt das Kapital entziehen, indem sie superreiche Steuerflüchtlinge aufnehmen. Wehe, wenn die Klimakrise irgendwann südliche Länder unbewohnbar macht. Mit welchem Recht werden wir Millionen von Hunger- und Umweltflüchtlingen von unseren Grenzen fernhalten? Werden wir dann immer noch moralisch standhalten? Oder werden wir unsere menschenrechtlichen Standards für «überlebt» erklären und vor ihnen flüchten?
Auch der bekannte US-Systemtheoretiker Otto Scharmer vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) sieht in seinem Artikel «As Systems Collaps, Citizens Rise» die Flüchtlingskrise als «Mikrokosmos» dessen, was uns in den nächsten 10 bis 20 Jahren erwartet. Er macht darauf aufmerksam, dass es prinzipiell drei Wege für Regierungen und Gesellschaften gibt, darauf zu reagieren: Erstens Regression und Idealisierung früherer Zustände, Gesetzesverschärfungen und strukturelle oder direkte Gewalt gegen Fremde, Minderheiten und Sündenböcke. Zweitens «Durchwurschtelei» und «mehr vom selben. Mehr Treffen. Mehr Worte. Mehr Deklarationen. Mehr Heuchelei.» Drittens «empathisch-menschliche Antworten» – wozu er auch die jetzigen der Zivilgesellschaft zählt. In der Praxis sehen wir natürlich auch viele Mischformen.
Bekanntlich haben wir in Deutschland schon einmal den regressiven-repressiven Weg erlebt. Nach Superinflation und Weltwirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre ergriff die Mehrheit der Deutschen massive Statuspanik. Regressive Wünsche machten sich breit, man wollte «heim ins Reich«, zurück in die Gebärmutter Germania. Hetzmeuten machten die angeblich reichen Juden für das nationale Unglück verantwortlich und steckten die ganze Gesellschaft antisemitisch an. Stück für Stück verschoben sich die moralischen Massstäbe für das, was man ihnen antun durfte. Zuerst war es nur Ausschluss, dann Berufsverbote, Haustierverbote, Eheverbote, Beraubung, Verfolgung, schliesslich Vergasung und Völkermord. «Shifting baselines» nennt die Sozialpsychologie diese schleichende Entmenschung.
Was für eine Erleichterung, dass sich im Sommer 2015 die Stimmung in eine ganz andere Richtung entwickelt hat – zumindest vorläufig. Emotionale Ansteckung funktioniert also auch positiv. Zivilgesellschaften sind nicht hilflos, sie können Regierungen in die richtige Richtung treiben. Übrigens nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse, denn Helfen bringt Freude und Sinn ins eigene Leben. Und überhaupt ist es die beste und konstruktivste Haltung, Probleme willkommen zu heissen, weil sie Menschen und Gesellschaften helfen, sich weiterzuentwickeln – auch das ist eine Spielart der Willkommenskultur.
Das alles gilt natürlich weit über die Bundesrepublik hinaus. Menschen aus ganz Europa mieten derzeit Schiffe oder Autos, um Fliehende aus schlimmen Situationen herauszuholen. Andere nehmen bezahlten oder unbezahlten Urlaub, um auf griechischen Inseln Flüchtlinge zu versorgen. In einer provisorischen Versorgungsstation auf Lesbos, wo jeden Tag Hunderte Überlebende stranden, schmieren schwedische Rentnerinnen Stullen, Holländerinnen oder französische Ärzte leisten Erste Hilfe. «Das ist sehr erfüllend», sagt eine Schwedin. Und eine Bankangestellte, die sich unbezahlten Urlaub genommen hat, ergänzt: «Helfen macht süchtig.» Helfen ist standhalten.
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Nie hätte ich mir in diesem jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang tendenziell fremdenfeindlichen Land träumen lassen, dass Flüchtlinge am Münchner oder Dortmunder Hauptbahnhof mit Beifall empfangen werden! Dass eine unglaubliche Welle spontaner Hilfsbereitschaft fast die ganze Bevölkerung erfasst, dass sich gespendete Kleider, Schokolade und Spielsachen stapeln, dass Ärzte gratis Kranke verpflegen, pensionierte Lehrerinnen Deutschunterricht anbieten, Prominente und Unbekannte, Junge und Alte, politische und unpolitische Menschen Fremde bei sich aufnehmen oder ihnen musikalische Ständchen in der Notunterkunft bringen. Die in Deutschland ausgetragene Fussball-Weltmeisterschaft 2006 ging als «Sommermärchen» in die Geschichte ein, nun haben wir das «Sommermärchen II» erlebt.
All das darf man nicht mit Harmonie oder Euphorie verwechseln – ganz im Gegenteil. Die Hilfsbereitschaft war und ist auch eine Reaktion auf das Totalversagen der Behörden und auf menschenverachtende Anschläge von Rechtsradikalen, und entsprechend wütend sind viele Engagierte. In Berlin ist das für die Registrierung und Verteilung der Betroffenen zuständige Amt bis heute nicht in der Lage, menschenwürdige Prozeduren zu organisieren, sodass Traumatisierte, Kranke, alte Leute im Rollstuhl, ganze Familien in Parks nächtigen müssen. Nicht der zuständige Staat, sondern eine vielhundertfüssige ehrenamtliche Initiative versorgt sie mit dem Nötigsten; sie schafft an einem Tag, was die Behörde in vier Wochen nicht hinbekommt.
Auch ein erzkonservatives Provinznest wie das schwäbische 24'000-Seelen-Städtchen Wertheim summte im September «wie ein Bienenstock», als dort 600 Flüchtlinge eintrafen, wie eine Beteiligte erzählt. Weil wie an so vielen Orten die staatliche Unterstützung ausblieb, packten neben Feuerwehr, Deutschem Rotem Kreuz, Technischem Hilfswerk vor allem unzählige Freiwillige mit an, unter anderem um eine Sporthalle einzugsfertig zu machen. Kurz vor ihrem Bezug verübten Unbekannte einen Brandanschlag, sie brannte aus. Rund 1'500 wütende Wertheimer protestierten tags darauf gemeinsam gegen die mutmasslich rechtsradikalen Täter und versicherten den Flüchtlingen ihr Willkommen. Ereignisse, wie sie Wertheim und viele andere deutsche Orte noch nie erlebt hatten.
Obwohl über 60 solcher Brandanschläge im ganzen Bundesgebiet zu beklagen sind, befindet sich die Fremdenfeindlichkeit heute paradoxerweise auf historischem Tiefstand. In Umfragen wird regelmässig getestet, wer Statements wie dem folgenden zustimmt: «Hier leben schon so viele Ausländer, wir können keine weiteren mehr aufnehmen.» Anfang der 2000er Jahre waren fast 40 Prozent dieser Meinung – in einer Zeit stark sinkender Asylantragszahlen. Jetzt, wo diese auf Rekordhöhen schnellen, stimmen dem nur noch 18 Prozent zu. Nach einer weiteren Umfrage sind 80 Prozent für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Das sei in der deutschen Geschichte «einmalig», bestätigt der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismusexperte Hajo Funke. Allerdings kippt die Stimmung jetzt wieder, oder vielmehr: Sie wird von Spin-Doctors und in Redaktionsstuben gekippt, die Moral für überflüssiges Gutmenschentum halten.
In den Zahlen zeigt sich auch, dass persönliche Erfahrungen das Bild von Fremden wesentlich bestimmen. Wer ausländische Nachbarn hat oder Flüchtlingskinder in seiner Schulklasse, verliert die Angst vor den Kulturen anderer und entdeckt, dass überall Mensch drin ist, wo Mensch aussen erkennbar ist, egal wie er oder sie aussieht. Umgekehrt sind die Ressentiments genau in jenen Gegenden Ostdeutschlands bis heute besonders stark, in denen das DDR-Regime keine persönliche Begegnungen mit Ausländern zuliess. In der Schweiz ist die Ablehnung gegen Minarette am grössten in den Kantonen, in denen die wenigsten Muslime leben.
Flüchtlinge repräsentieren ungewollt «das Fremde in uns selbst» – das bestätigen sozialpsychologische Studien immer wieder. Also unsere Schattenseiten, die uns selbst befremdenden Gefühle. An der menschenwürdigen oder -unwürdigen Behandlung von Fremden zeigt sich, wie eine Gesellschaft mit ihren inneren Ängsten umgeht. Labile Menschen brauchen als Container für ihre Wut und Statusangst andere, die sozialen Abstieg verkörpern, die sie ausgrenzen, hassen und verachten können. Prominente Beispiele dafür sind der turkophobe deutsche Politiker Thilo Sarrazin, dessen Nachname auf türkische Vorfahren verweist, oder der künstlich erblondete niederländische Rechtspopulist Geert Wilders mit seinen indonesischen Gesichtszügen.
Und: «Flucht», das ist ein Angstschweiss-Thema, wohl so alt wie die Menschheit. Es rührt an Existenzängste, dass auch wir irgendwann vor irgendwas fliehen müssen, dass unsere wohlige heizkörperwarme Zivilisation so stabil nicht ist. Flüchten oder Standhalten ist für uns alle ein Thema. Auch deshalb haben wir «Flucht» zum Schwerpunkt dieser Ausgabe gewählt, mit all ihren Facetten.
Es ist also eine sehr beruhigende Erfahrung, dass in unruhigen Zeiten die Menschlichkeit siegen kann und nicht die Abwehr. Reporter, die sich unter die Zehntausende von Freiwilligen mischten, machten mehrere Leitmotive für deren Handeln aus: Die Wut, dass die amtlich Zuständigen versagen. Der Wunsch, sich Rechtsradikalen in den Weg zu stellen. Der Versuch, aus dem Zustand von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu entkommen, die einen angesichts der Kriegsbildern im Fernsehen überwältigen. Das Glücksgefühl, Menschen in Not helfen zu können und damit die eigene Selbstwirksamkeit zu spüren.
Und schliesslich auch eigene Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Migration, die in vielen Familien der deutschen Nachkriegsgesellschaft präsent sind – sei es, dass die eigenen Grosseltern vertrieben wurden oder die Eltern selbst Flüchtlinge waren. Eine jahrzehntelange Aufarbeitungskultur der deutschen Verbrechen im Dritten Reich trägt hier womöglich auch Früchte. Und Boulevardmedien wie «Bild» spielten eine ausnahmsweise positive Rolle. Früher hetzten sie gegen «Asylmissbraucher» und «faule Griechen», nun plötzlich schwimmen sie eifrig im Wärmestrom der Menschlichkeit mit – wie lange noch, ist allerdings unklar. All das wirkt, als ob nach Jahrzehnten neoliberaler Hirnwäsche ein Selbstheilungsprozess einsetzt und eine Gesellschaft wieder Freude an kooperativer Gemeinschaft statt an konkurrenzhafter Aggression entwickelt hätte.
Zusammengenommen ergab all dies eine neue historische Situation: Die Zivilgesellschaft hat die Bundesregierung zum Handeln gebracht. Die deutsche Kanzlerin hiess die Kriegsflüchtlinge willkommen – eine Regierungschefin, die für ihre Vorsicht ebenso bekannt ist wie für ihren politischen Instinkt. Dieser «Instinkt» beruht vor allem auf Meinungsumfragen. Merkel richtet sich stets subtil nach Volkes Wille aus, indem das Kanzleramt tagtäglich Umfragen herausgibt und genau auswertet, was opportun erscheint.
Viele Granden in Merkels Partei fanden das allerdings gar nicht witzig, der Bruch in der Regierung ist unübersehbar. Der Innenminister glänzte mit dem verfassungswidrigen Vorschlag, das Grundrecht auf Asyl durch eine Quote zu ersetzen. Und die bayrische CSU ist eh gegen alles und jeden. Demonstrativ lud sie jüngst den ungarischen Ministerpräsidenten und schlimmsten Stacheldrahtzieher nach dem Mauerfall ein. Wütende Demonstranten drehten die Parole des früheren US-Präsidenten gegen die Berliner Mauer in die Gegenwart: »Mr. Orbán, tear down this wall!»
Wie das alles ausgeht, ist ungewiss. Die angepeilten Gesetzesänderungen in Deutschland und der EU verheissen nichts Gutes. Aber wie gesagt, nicht die deutsche Erfahrung ist daran interessant, sondern die allgemeine, wie Gesellschaften in der Krise mit der Krise umgehen. Denn machen wir uns nichts vor: Die Krise ist Normalzustand geworden und der Normalzustand krisenhaft. Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Eurokrise, Umweltkrise, Klimakrise, Hungerkrise, Wasserkrise – der Kapitalismus selbst ist zum Krisismus mutiert. Die Krisen überlagern sich in systemischer Weise, keine kann mehr ohne die andere gelöst werden, und die politischen Eliten haben dafür keinerlei Konzepte.
Perspektivlos gewordene Menschen fliehen in Massen aus den »failed states» im Nahen und Mittleren Osten, im Maghreb und Schwarzafrika, auch die EU droht auseinanderzufallen, und die Schweiz mittendrin wird keine Oase der Seligen bleiben. Grenzzäune, und seien sie noch so hoch, werden irgendwann überrannt, wenn die Not unerträglich wird – auch das ist eine Lehre dieses Sommers.
Und wir in den westlichen Ländern beginnen zu ahnen, dass das alles nur der Anfang ist. Denn die eigentlichen Fluchtursachen bekämpft trotz vollmundiger Erklärungen mancher Politiker niemand – ganz im Gegenteil. Wehe, wenn weitere militärische Versuche von «Regime Change» islamistische Monster erst so richtig gross machen. Wehe, wenn Diktatoren, durch westliche und östliche Rüstungsexporteure mitbewaffnet, ihre Bevölkerung weiter drangsalieren, foltern und umbringen. Wehe, wenn Monsanto, Syngenta & Co. mit Landgrabbing und Gentechnik die Existenzgrundlage von Abermillionen kleinbäuerlicher Familien in Afrika zerstören.
Wehe, wenn die EU mit Exportsubventionen lokale afrikanische Märkte ruiniert. Wehe, wenn Freihandelsabkommen wie TTIP Schwellenländer verarmen lassen. Wehe, wenn die Schweiz & Co. der Welt das Kapital entziehen, indem sie superreiche Steuerflüchtlinge aufnehmen. Wehe, wenn die Klimakrise irgendwann südliche Länder unbewohnbar macht. Mit welchem Recht werden wir Millionen von Hunger- und Umweltflüchtlingen von unseren Grenzen fernhalten? Werden wir dann immer noch moralisch standhalten? Oder werden wir unsere menschenrechtlichen Standards für «überlebt» erklären und vor ihnen flüchten?
Auch der bekannte US-Systemtheoretiker Otto Scharmer vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) sieht in seinem Artikel «As Systems Collaps, Citizens Rise» die Flüchtlingskrise als «Mikrokosmos» dessen, was uns in den nächsten 10 bis 20 Jahren erwartet. Er macht darauf aufmerksam, dass es prinzipiell drei Wege für Regierungen und Gesellschaften gibt, darauf zu reagieren: Erstens Regression und Idealisierung früherer Zustände, Gesetzesverschärfungen und strukturelle oder direkte Gewalt gegen Fremde, Minderheiten und Sündenböcke. Zweitens «Durchwurschtelei» und «mehr vom selben. Mehr Treffen. Mehr Worte. Mehr Deklarationen. Mehr Heuchelei.» Drittens «empathisch-menschliche Antworten» – wozu er auch die jetzigen der Zivilgesellschaft zählt. In der Praxis sehen wir natürlich auch viele Mischformen.
Bekanntlich haben wir in Deutschland schon einmal den regressiven-repressiven Weg erlebt. Nach Superinflation und Weltwirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre ergriff die Mehrheit der Deutschen massive Statuspanik. Regressive Wünsche machten sich breit, man wollte «heim ins Reich«, zurück in die Gebärmutter Germania. Hetzmeuten machten die angeblich reichen Juden für das nationale Unglück verantwortlich und steckten die ganze Gesellschaft antisemitisch an. Stück für Stück verschoben sich die moralischen Massstäbe für das, was man ihnen antun durfte. Zuerst war es nur Ausschluss, dann Berufsverbote, Haustierverbote, Eheverbote, Beraubung, Verfolgung, schliesslich Vergasung und Völkermord. «Shifting baselines» nennt die Sozialpsychologie diese schleichende Entmenschung.
Was für eine Erleichterung, dass sich im Sommer 2015 die Stimmung in eine ganz andere Richtung entwickelt hat – zumindest vorläufig. Emotionale Ansteckung funktioniert also auch positiv. Zivilgesellschaften sind nicht hilflos, sie können Regierungen in die richtige Richtung treiben. Übrigens nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse, denn Helfen bringt Freude und Sinn ins eigene Leben. Und überhaupt ist es die beste und konstruktivste Haltung, Probleme willkommen zu heissen, weil sie Menschen und Gesellschaften helfen, sich weiterzuentwickeln – auch das ist eine Spielart der Willkommenskultur.
Das alles gilt natürlich weit über die Bundesrepublik hinaus. Menschen aus ganz Europa mieten derzeit Schiffe oder Autos, um Fliehende aus schlimmen Situationen herauszuholen. Andere nehmen bezahlten oder unbezahlten Urlaub, um auf griechischen Inseln Flüchtlinge zu versorgen. In einer provisorischen Versorgungsstation auf Lesbos, wo jeden Tag Hunderte Überlebende stranden, schmieren schwedische Rentnerinnen Stullen, Holländerinnen oder französische Ärzte leisten Erste Hilfe. «Das ist sehr erfüllend», sagt eine Schwedin. Und eine Bankangestellte, die sich unbezahlten Urlaub genommen hat, ergänzt: «Helfen macht süchtig.» Helfen ist standhalten.
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26. Oktober 2015
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