Gnüüsse und chrampfe

Begegnungen und Entdeckungen im Tessin

Das Tessin war einmal das Mekka der Aussteiger. Mit ein paar Adressen von Projekten im Sopraceneri ziehen wir für einen Augenschein über den Gotthard. Die Freiheit hat ihren Preis.

Den Streifzug durch das vormals gelobte Land der zivilisationsmüden Schweizer beginnen wir bei Johannes Lustenberger und Peter Gugger in Vosa di dentro, am Eingang des Onsernonetals. Die beiden heute 51-Jährigen kamen vor 27 Jahren an den Ort, kauften einen Hektar terrassierten Waldes mit zwei Häuschen und einer Ruine und machten sich daran, ein neues Leben zu beginnen. Das bedeutete zunächst sehr viel Arbeit und Entbehrung: Roden, renovieren und einen Garten für die Selbstversorgung anlegen. Zum Ort führt keine Strasse, und alles Material musste eine Stunde weit auf Traggestellen hergeschleppt werden. Im Unterschied zu vielen Neu-Tessinern, die ihren Ausstieg mit Zinserträgen, Erspartem oder gelegentlichen Jobs in der Deutschschweiz finanzierten, verdienten sich die beiden das nötige Geld, indem sie für die Einheimischen die Arbeiten erledigten, die niemand mehr machen wollte: Mähen, Holz schlagen, abgelegene Rusticos und Ställe in Stand stellen. Im Schweisse ihres Angesichts entstanden so gute Beziehungen und ein kleines Paradies mit drei liebevoll restaurierten Häusern, wunderbaren Aussenräumen und einem grossen Gemüsegarten – ein Ort, der einen berührt und verändert.

Eine Wende nahm das Leben der beiden, als ein schizophrener Jugendlicher ein paar Ferientage in Vosa verbrachte und dann auf Wunsch der Eltern gleich ein paar Monate blieb. Die unerwartete Verbesserung des gesundheitszustandes machte die Vormundschaftsbehörde aufmerksam, die Johannes und Peter besuchte, um weitere Platzierungen abzuklären. So kam es, dass die beiden in den letzten zwölf Jahren ständig zwischen zwei und vier straffällige Jugendliche betreuten, die meisten davon mit einer langen Vergangenheit in den verschiedensten Institutionen der strengsten Kategorie. «Mittlerweile sind wir der belastbarste Platz der Schweiz», sagt Johannes. Das ist insofern verständlich, als Gewalt in den Schweizer Institutionen nicht toleriert und sofort mit einer Umplatzierung geahndet wird. Dies hat eine Abspaltung der Gewalt zur Folge und verhindert den Aufbau von stabilen Beziehungen, die die Jugendlichen so dringend bräuchten. In Vosa spaltet man die Gewalt nicht ab, sondern versucht, mit ihr umzugehen, und das kann einiges nach sich ziehen. Johannes und Peter wurden denn auch schon zusammengeschlagen, haben aber auch zurückgegeben.
Jetzt haben die beiden genug von der Rundumbetreuung der schweren Jungs, die andernorts einen dreifachen Personalaufwand erfordert. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs haben gerade zwei höchst anspruchsvolle junge Menschen einen mehrjährigen Aufenthalt in Vosa abgeschlossen, ein dritter ist in den Ferien, und so nutzen Peter und Johannes die freie Zeit, um laut über die Zukunft des schönen Platzes nachzudenken. Burn-out-Patienten sollen hier wieder zu sich finden können, eine einleuchtende Idee, zumal Vosa di dentro in all den Jahren immer auch Feriengästen offen stand. Die grosse Jurte, ein Baumhaus mit vier Schlafplätzen und verschiedene Zimmer bilden ein Angebot, das fast allen gerecht wird, denen das Naturleben ein gesundes Heimweh beschert.
Vosa di dentro ist ein idealer Ort, um einen Streifzug durch das andere Tessin zu beginnen. Peter und Johannes kennen Krethi und Plethi, sind nie um eine Geschichte verlegen und bei ihnen trifft man interessante Menschen. Zum Beispiel Lilo Schwarz. Sie zieht sich jedes Jahr ein paar Wochen in ein einsam gelegenes Häuschen ganz in der Nähe zurück, um ihre Gedanken zu sammeln und ganz einfach anders zu leben. Mit ihr unterhalten wir uns über ihr vor kurzem erschienenes Buch «Im Dialog mit den Bildern des Tarot» (Urania, 2005. 293 S. Geb. Fr. 33.60). Als Psychologin steht für sie nicht die Mythologie des Tarot im Vordergrund, sondern die Psychologie. Das Buch entstand aufgrund von Fragen von KursteilnehmerInnen in fast zehnjähriger Arbeit und ist ein Instrument, um über das Tarot mit sich selber in Dialog zu kommen. Zu den Erklärungen der einzelnen Karten gibt es ein ganzes Set von Anschlussfragen, die das Thema erweitern. «Als Psychologin brauche ich Problemlösungen und Entscheidungshilfen», sagt Lilo Schwarz, und diese Haltung zieht sich durch das ganze Buch. So praktisch und umfassend das Buch auch ist, Tarot ist nicht für jede Phase im Leben geeignet. So schreibt Lilo Schwarz den schönen Satz: «Tarot ist kein Therapieersatz. Tarot ist eine Blumenwiese, aber in der Krise braucht ein Mensch oft eine einzelne Heilpflanze.» Bemerkenswert sind auch die modernen Tarot-Karten, die sie mit der Berliner Künstlerin Kitty Kahane gestaltet hat (ebenfalls bei Urania).

Als nächstes machen wir uns auf die Suche nach den «New Natives», die im Zeitpunkt 83 per Kleininserat und Artikel ein Wildniscamp zuhinterst im Onsernonetal ankündigten. Der Ort Bagni ist an sich clever gewählt. Die paar Häuser des seit Jahrzehnten verlassenen Thermalbades liegen auf italienischem Boden und die Behörden sind weit – für die Besiedlung durch die neuen Wilden durchaus ein Vorteil. Weder über die im Inserat angegebene Handy-Nummer noch über die Website sind Details über das Projekt zu erfahren. Und in Bagni selber sind keine Spuren einer Neubesiedlung sichtbar. Hannes Fischer, Biobauer in der Nähe, erinnert sich immerhin an ein paar wilde Campierer, die nach ein paar Wochen weggewiesen worden seien und sich oberhalb Brissago niedergelassen hätten. Im kleinen Laden in Spruga sei ein Infozettel mit weiteren Informationen. Dort weiss man allerdings auch nicht mehr und wir beschliessen, das Projekt der Wiederbesiedlung des Alpenraumes durch die neuen Wilden mangels Relevanz journalistisch links liegen zu lassen.

Relevanter ist da schon die Casa Civetta in Avegno im Maggiatal, «das Haus zur langen Weile». Eingebettet in einen wunderschönen Garten mit grossen Granitblöcken bietet die Casa Civetta die neuen Luxusgüter Zeit, Raum und Ruhe. Umsonst ist dieser Luxus allerdings nicht zu haben: Wer in diesem Haus, eine Art modernes Kloster auf Zeit, einkehrt, muss sich an die seit Jahren geltende eiserne Regel halten – zweimal täglich herrschen hier 45 Minuten absolutes Schweigen und bewegungslose Ruhe. In sich hineinlauschen, den Ort wahrnehmen, das geistige und beobachtende Auge schweifen lassen, wo und in welcher Haltung kann jeder selber entscheiden. Der ruhende Pol in diesem Haus der zentrierten Lebendigkeit, das sind Martin Züllig und Eveline Moor, Pioniere des Projektes. Er arbeitete vorher als Grafiker in Zürich und organisiert seit 1981 Kurse und Retreats in Vipassana-Meditation. Sie ist Hotel- und Gesundheitsfachfrau. Die Casa Civetta selber, die die beiden seit 1989 führen, wurde ursprünglich als grosszügiges Atelier-, Wohn- und Künstlerhaus gebaut. «Wenn ich das Haus allein geführt hätte, wäre es zu asketisch geworden», sagt Martin. «Mit Eveline ist es auch sinnlich.» Die beiden machen das Haus neben der guten Architektur und der kraftvollen Umgebung ganz wesentlich aus. Vielleicht können sie es deshalb auch nicht so leicht beschreiben. In einem Faltblatt lesen wir: «Civetta ist weder eine Pension, noch ein Ferien- oder Kurshaus. Auch wenn der Aufenthalt Geld kostet, kann Civetta nicht einfach konsumiert werden. Civetta will mehr von seinen Besucherinnen und Besuchern. Eine Beziehung nämlich, so wie wir sie zu einem Ort entwickeln, den wir lieben, der uns ein Stück Heimat bedeutet.»

Etwa die Hälfte der Gäste sind Einzelpersonen, die sich für eine Weile in die Stille zurückziehen wollen und auch die Möglichkeit schätzen, Begegnungen zu finden. Die andere Hälfte nimmt am Seminarprogramm teil mit Yoga- und Meditationskursen, Kloster- oder Fastenwochen, mit Ausbildungen über Focusing und andere Gebiete. Die Casa Civetta war in der letzten Zeit sehr oft ausgebucht, darum haben sich Eveline und Martin, die das Haus zusammen mit einer Köchin im Alleingang führen, für diesen Herbst selber eine Auszeit verschrieben. Ich habe die beiden und ihr Haus schon vor ein paar Jahren kennen gelernt. Sie sind für mich ein Fixpunkt der Harmonie im Tessin geblieben, an den man jederzeit in Gedanken zurückkehren und auftanken kann. Ich denke, dass es einigen von Ihnen ähnlich ergehen wird. Aber: Voranmeldung ist unerlässlich.

Die letzte Station unserer kleinen Reise kennen wir nur aus der kleinen Zeitschrift, die die Genossenschaft Pianta Monda herausgibt. Sie erzählt von einem kleinen Ökodorf, das aus einem verlassenen Weiler in Menzonio im Maggiatal entsteht. Fünf der acht ehemaligen Ställe auf dem ein Hektar grossen Gelände sind bereits renoviert und auch im Winter bewohnbar. An den anderen wird fleissig gearbeitet, in den Sommermonaten von Feriengästen und Helferinnen und Helfern aus halb Europa. Die Genossenschaft lebt vom Gemüseanbau, der Herstellung von Bioprodukten und der Gästebetreuung. «Gnüüsse und chrampfe» lautet das Motto und wer Ulrico Stamani, Mitbegründer der 14 Jahre alten Genossenschaft kennt, weiss, das dies keine leeren Worte sind. Pianta Monda sucht noch MitgeniesserInnen, die auch mitarbeiten möchten, Feriengäste dürfen durchaus auch spontan eintrudeln. Es hat über 30 Schlafplätze, zum Kochen wird die Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Telefonisch ist die Genossenschaft faktisch nicht erreichbar. Die Website beantwortet aber die wichtigsten Fragen und die e-mail-Adresse funktioniert.

Nicht erwähnt in diesem Text, aber mitgemeint, sind all die Aus- und UmsteigerInnen, die mit Enthusiasmus und Schwielen an den Händen ein Leben verwirklichen, das uns so frei erscheint, aber vor allem eines bedeutet: dranbleiben.

Adressen:
Vosa di dentro, Johannes Lustenberger und Peter Gugger, 6654 Cavigliano, Tel. 091 796 18 62
Casa Civetta, Martin Züllig und Eveline Moor, 6670 Avegno, Tel. 091 796 27 24. www.casacivetta.ch
Genossenschaft Piantamonda, 6692 Menzonio. www.piantamonda.ch
01. September 2006
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