Das Christkind aus den grossen Wäldern

Vom Göttlichen erfährt der Mensch, indem er seine Seele dazu bringt, sich selbst als Geistiges erst zu erkennen. Und dann um als göttliches Wesen den Weg in die geistige Welt zu finden. Eine Weihnachtsgeschichte.

© Foto: Andreas Beers / Birken Gemälde von Vasily Baksheyev

«Seit der einen Heiligen Nacht der Geburt begriffen die Menschen, dass keiner mehr nur für sich leben kann, aber dass wir auch alle nicht mehr für uns allein sterben können; dass wir füreinander verloren werden und füreinander gefunden, bis wir vereinigt werden in der einen Hand». Edzard Schaper, von dem diese Worte stammen, wurde 1908 in Ostrowo, Provinz Posen in Polen geboren, und starb 1984 in Bern. In seiner Erzählung «Das Christkind aus den großen Wäldern» gilt sein besonderes Interesse Menschen in Grenzsituationen. Auf stille, eindringliche Art gewinnt der Schriftsteller seiner Geschichte religiöse Aspekte und Lehren ab, die er zumeist überkonfessionell zu vermitteln versteht.

Wenn uns nichts mehr hält in dieser Welt, ist der letzte Ort, den wir mit Sicherheit gewinnen, im Herzen nur zu finden. Dort können wir Gewissheit und Erkenntnis erlangen über unsere unsterbliche Seelen- und Geistnatur. An etwas uneingeschränkt glauben zu können ist eine Seelenbegabung der kindlichen Natur in uns Menschen. Das Kind ist noch frei von der Last des Verstandes und begabt mit dem Urvertrauen des Herzens. Es gibt wohl kein Glaube, der so eng mit dem Bild eines Kindes verbunden ist wie der, der mit der urchristlichen Lehre in die Welt kam.

«Wenn du vom Leibe befreit, zum freien Äther emporsteigst, wirst ein unsterblicher Gott du sein, dem Tode entronnen.» In diesem Satz fasst der vorsokratische Philosoph, Arzt und Staatsordner Empedokles aus Agrigento in Sizilien (490-430 v.Chr.) zusammen, was die alten Ägypter über das Ewige im Menschen und seinen Zusammenhang mit dem Göttlichen gedacht haben. Dafür ist ein Beweis das sogenannte «Totenbuch» der alten Ägypter. Es ist das grösste zusammenhängende Literaturwerk, das uns aus dem Ägypten der Pharaonen erhalten ist. Nicht nur die genauesten Anschauungen über das Ewige sind darin enthalten, sondern auch über die Weltentstehung.

Im Bildnis der ägyptischen Göttin Isis mit ihrem Kind Horus auf dem Schoss zeigt sich die gleiche Symbolik wie wir sie im Marienbild mit Jesus wiederfinden. Das Christusereignis war in diesem Sinne seinem Wesen nach vorhersehbar. Was die ägyptischen Mysterien als göttliches Wirken oder Weisheit beschreiben, sollte durch die urchristliche Lehre des Jesus Christus als individuelle Erkenntnis im Geiste eines jeden einzelnen Menschen erfassbar werden. Was ursprünglich geheimes Wissen der Priester war, sollte sich in jedem Menschen in Zukunft offenbaren. Im Kern geht es in der urchristlichen Lehre um die universelle Kraft der Liebe und der Freiheit, oder anders ausgedrückt: um das Göttliche in jedem Menschen, in seinem Ich.

Dies können wir auf zweierlei Wegen in Erfahrung bringen: durch unvorstellbares Leid, hervorgerufen durch das Verhaftetbleiben in einer rein materialistischen Weltanschauung, oder durch die klare Erkenntnis von Materie und Geist erwärmt durch die Empfindungsfähigkeit unseres Herzens. Man könnte dies auch im modernen Sinne wieder Glauben nennen. Nun, in der Weihnachtsgeschichte «Das Christkind aus den großen Wäldern» geht der finnische Soldat ein Stück weit beide Wege, als er im Jahre 1941 in der Weihnachtszeit im tief verschneiten finnischen Wäldermeer Ostkareliens patrouillierte. Dort findet er in der Hütte eines verlassenen Dorfes einen zurückgelassenen, in Lumpen gewickelten schreienden Säugling. Als er ihn hochheben will, entdeckt er gerade noch rechtzeitig die Schnur, mit welcher der Säugling am Zünder eines unter dem Bettchen versteckten Sprengsatzes festgebunden war. Sein Herz stockte, der Säugling, still geworden, schaute ihn aus klaren Augen an, ein Strom von Liebe erfasst den Soldaten, sein Herz erwärmte sich und schlug wieder kraftvoll weiter, ruhig durchtrennte er die Schnur.

Was Kinderseelen empfinden, was sie glauben und wie tief ihr Vertrauen in die Welt ist, können wir in ihren klaren Augen erkennen und in unseren Herzen fühlen. Dies berührt tief und führt uns zu unserem eigenen inneren Kind. Was wir dabei erfahren können und glauben wollen, liegt in unseren Herzen, oder wie Edzard Schaper sagt, in der einen und ewigen Hand, die uns vereint.

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät, pflanzt und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen. Kontakt: [email protected].

«In der Zeiten Wende trat das Welten-Geistes-Licht in den irdischen Wesensstrom. Nacht-Dunkel hatte ausgewaltet. Taghelles Licht erstrahlte in Menschenseelen. Licht, das erwärmt die armen Hirtenherzen. Licht das erleuchtet die weisen Königshäupter. Göttliches Licht, Christus Sonne, erwärme unsere Herzen, erleuchte unsere Häupter, dass gut werde, was wir aus Herzen gründen, was wir aus Häuptern zielvoll führen wollen». (Rudolf Steiner)