Der Nazi als Lehrer? Ein rätselhafter Antwortversuch
Aus zweierlei Gründen dürfen wir den Nazis dankbar sein: Dass sie uns gelehrt haben, bis zu welchen Gipfeln des Unmenschlichen sich der Mensch versteigen kann. Und für die kalte Konsequenz, mit der sie den inhumanen Kern der europäischen Hybris unübersehbar gemacht haben: «Das Ende ist nah – wer Augen hat zu sehen, der sehe!» (Apokalypse, Johannes) Aber wie steht es mit uns?
Weiss und stolz. Bild: Wikipedia
Weiss und stolz. Bild: Wikipedia

Historisch scheint die Antwort einfach: Himmler, Göring & Co. waren Nazis, natürlich. Aber wie war das mit den Mitgliedern der NSDAP? Mein Grossvater war da auch eingetreten; zweifellos hatte das Gedankengut auf ihn abgefärbt. Aber wer konnte sich damals von aller «Umfärbung» freihalten? Wenige. 

Ist ein Mitläufer innerhalb der NSDAP bereits ein Nazi, weil er aus Karrieregründen Parteimitglied wurde? Wenn wir dem aber zustimmten, wäre dann ein Mitläufer innerhalb der SED ein Sozialist oder gar Kommunist gewesen (oder wie auch immer man solche ganz normalen Menschen abqualifizieren möchte)? Und schlussendlich: Sind wir nicht alle Mitläufer oder Mitläuferinnen, an irgendeiner Stelle, irgendwie? (… der werfe den ersten Stein.)

Mitläufer sein ist der Standard

Um gleich eine noch gruseligere Frage hinterherzuschicken: Gehört nicht zum Kern des modernen Technofeudalismus unser Mitläufertum? Alle machen mit bei Digitalisierung, auch die, die wenig davon halten – als ob es eine Frage der Quantität wäre. Wer’s noch nicht ist, wird dazu gemacht, aber flugs, weil’s der Gruppendruck erfordert oder die Informationslage. Schnell mal googeln, was ein «Nazi» ist. 

Es gibt keine freie Begriffsdefinition, dafür eine von der «Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung»: «Der Begriff ‚Nazi‘ leitet sich von ‚Nationalsozialist‘ ab und bezeichnet historisch Personen, die der NSDAP angehörten oder ihre Ideologie unterstützten.» 

ChatGPT: «Heute wird der Begriff ‚Nazi‘ auch verwendet, um rechtsextreme oder neonazistische Personen oder Gruppen zu bezeichnen, die ähnliche Ideologien vertreten, auch wenn sie nicht direkt mit der historischen NSDAP verbunden sind.»

So richtig komme ich damit nicht weiter. Warum nur verbirgt sich hinter der einfach wirkenden Frage «Was ist ein Nazi?» ein ganzes Fragengeflecht? Das war schon wieder eine Frage, aber die werde ich im Folgenden garantiert nicht beantworten. Irgendwann landen wir sonst bei der Quantenphysik.

Nazi nach dem Ausschlussverfahren

Also von vorne. Dass ich kein Nazi bin, davon bin ich felsenfest überzeugt. Gefeit bin ich freilich nicht vor solchen Anwürfen, denn «Nazi» wird ja selten als beschreibender, nüchterner Begriff verwendet, sondern meistens als Schimpfwort. Auch du bist vermutlich kein Nazi (kann man «Nazi» gendern [Nazisse]?). Diese Vermutung liegt mir deshalb nahe, weil ich niemanden kenne, der sich mit diesem Wort schmücken wollte; aber vielleicht verkehre ich in den falschen Kreisen.

Meine Idee, um mich dem Wort inhaltlich anzunähern, ist das Ausschlussverfahren: Wenn A gegeben ist, dann ist B (= Nazi) nicht/kaum möglich. Fangen wir mal an. Nazi kannst du nicht sein, wenn 

  • du den Kernaussagen der Bergpredigt zustimmst (Matthäus 5,1 – 7,29), so z. B. «Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!»
  • du ein gutes Leben für alle anstrebst (und dieses «alle» nicht kulturell oder soziologisch einschränkst)
  • du den respektvollen Umgang mit allen Lebensformen bejahst
  • du den Unterschied zwischen ideologischem und systemischem Denken kennst, letzteres bevorzugst und infolgedessen hierarchische oder gar imperiale Herrschaftsformen ablehnst
  • der Respekt vor verschiedenen Lebensentwürfen und -perspektiven zu deinen Grundsätzen gehört
  • du die Realisierung der Prinzipien der Menschenwürde für alle, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, spiritueller Ausrichtung, sexueller Orientierung und Menschen mit Einschränkungen, für erstrebenswert hältst
  • du verstehst, dass Kulturen und Lebensweisen Ergebnisse historischer Prozesse sind, auf die die dadurch geprägten Menschen wenig bis keinen Einfluss haben
  • du es für durchaus möglich hältst, dass du nicht Recht hast bzw. deine Weltanschauung eventuell korrigiert werden dürfte
  • du der Goldenen Regel zustimmst
  • du der Erd-Charta zustimmst.

Die netten Nazis von nebenan

Ich hoffe, dass dir diese Liste geholfen hat, dich selbst einzuschätzen. Sofern du auch nur einem Punkt dieser Liste rückhaltlos zustimmen kannst (oder gar mehreren), bist du mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Nazi – es sei denn, du bist mental eingeschränkt oder ein Meister des Selbstbetrugs (wovon es nicht wenige Mitmenschen gibt). 

So betrachtet müssen Nazis also weder dumm sein noch im klassisch-bürgerlichen Sinn ungebildet. Sie können Mathematik, Informatik oder Ökonomie studiert oder eine andere Hochschulausbildung genossen haben. Die Vergangenheit hat eindrucksvoll bewiesen, dass es keinen Zusammenhang zwischen akademischer Bildung und funktionierendem Gewissen gibt. Nach dem «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» am 7. April 1933 dauerte es ziemlich genau sieben Monate, bis die deutschen Universitäten von unerwünschten Personen frei waren; das waren nicht nur Juden, sondern auch Sozialdemokraten, Sozialisten und Marxisten. 

Heute haben Nazis unwahrscheinlicherweise Völkerkunde, Islamistik, Sinologie, Philosophie oder vergleichende Religionswissenschaften studiert. Unwahrscheinlich deshalb, weil man bei einem ernsthaften Studium dieser Fächer zu viel freien Geist braucht; so jedenfalls meine Vermutung. Dagegen können Nazis sehr wohl gute Liebhaber oder zärtliche Eltern sein, Hundefreunde, Taubenzüchter und Vegetarier, prima Kumpels, heimatverbunden und (in gewissen, gruppenrelevanten Grenzen) sogar hilfsbereit. Ein Nazi mit Physikstudium zum Beispiel hätte keinerlei Skrupel, sein Wissen in eine Forschung zu investieren, die in letzter Konsequenz ein ganzes Volk auslöscht, sofern die Betroffenen nur die richtigen Falschen sind, also dem «Feind» angehören. 

Nazi – ein mentaler Aggregationszustand

Der Vollständigkeit halber wollen wir die Sache auch anders herum angehen. Nazis zeichnen sich dadurch aus, dass 

  • sie sich anderen Ethnien überlegen fühlen und diese Überlegenheit auch gar nicht anzweifeln
  • sie geführt werden mögen und einem «Führer» gerne zustimmen, solange er einer von ihnen ist und dies ihnen ein Gefühl von Machtzuwachs suggeriert
  • ihr Glaube an die eigene Überlegenheit (der Rasse, der Kultur, der Gesellschaftsschicht) unbezweifelbar ist und ihnen ein besonderes Selbstwertgefühl beschert
  • sie bereit sind, ihre eigene (bzw. so wahrgenommene) Überlegenheit mit Waffen abzusichern bzw. herbeizuführen, sie also Krieg/Mord als ein angemessenes Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen betrachten
  • sie Menschen, die nicht ihrer Ethnie angehören, als minderwertig betrachten und nach Belieben «verwerten» dürfen, etwa als Sklaven oder kindliche Plantagen-Arbeiter 

Stellt man diese beiden Listen einander gegenüber, dann schält sich der Wesenskern des «Nazis» doch deutlich heraus. Für die letztere Liste gilt das additive Prinzip: Je mehr Punkte auf jemanden zutreffen, desto zuverlässiger handelt es sich um einen Nazi. 

Zur Differenzierung: Pubertierende auf der Suche nach Gewissheit orientieren sich gerne an Führungspersönlichkeiten oder Idolen; das gilt auch für Menschen, die sich in hierarchischen Organisationen wohlfühlen (Soldaten, Polizisten, Parteimitglieder, Kirchenfürsten, Beamte etc.). Nun ist aber nicht jeder CSUler oder jedes Mitglied der Linken ein Nazi. Natürlich nicht. Erst, wenn sie oder er weitere Charakteristika aus obiger List hinzunimmt, gerät er oder sie auf die «schiefe Bahn» der charakterlichen Verelendung, sprich: einer zunehmenden Menschenverachtung.

Ein bisschen Nazi sind wir alle

Und was haben wir, die wir keine Nazis sind, davon, das jetzt so klar zu wissen? Vielleicht dies, dass wir nun eindeutig sagen können, wo wir hingehören und wo nicht. Eine Kerneigenschaft – und die vielleicht schlimmste – des Nazis ist seine Verachtung alles «Fremdartigen». Dazu muss die eigene Art als wünschenswert und förderwürdig betrachtet werden (klassischerweise «der Arier», in grösserem Massstab «der westliche Mensch») und abgrenzend davon das Abartige, in der Vergangenheit als «Untermenschentum» klassifiziert. Das Wort «Art» spielt dabei eine besondere Rolle, denn eine Art wird definiert, folglich auch die Abart. Peter Singer hat dafür den Begriff des «Speziesismus» geschaffen und speziell auf unsere existenzielle Verachtung anderer Säugetierarten, geschweige denn der Vögel, Fische, Insekten oder Pflanzen hingewiesen: «Es ist speziesistisch, das Leid von Tieren als weniger bedeutend zu betrachten als das von Menschen.»

Wer kann sich davon vollkommen freisprechen? Der Mücke auf unserer Haut begegnen wir mit weitaus weniger Respekt als der Kröte oder dem Koala. Nicht einmal Veganer können sich dieser Verhaltensweise entziehen (siehe die Auswirkung von Pflanzenanbau oder Agrartechnik auf Klein- und Kleinstlebewesen auf und im Boden). 

Speziesistisch verhalte ich mich ebenso wie jeder Leser oder Leserin dieser Zeilen. Hühnerfleisch esse ich mit weniger Gewissensbissen als Rindfleisch. Mit anderen Worten: So ein bisschen Rest-Nazitum lauert in uns allen. Ist das schlimm? Ja, falls wir uns davon freisprechen und in Überlegenheitsattitüde mit dem Zeigefinger auf unseren Nachbarn deuten; nein, wenn wir uns dieses tückischen Erbes bewusst sind und bleiben.
 

Bobby Langer

Bobby Langer

*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».

Kommentare

Permalink

Guten Tag Bobby
Da ich in einem ähnlichen Alter bin (JG57), möchte ich Dich gerne per Du ansprechen.

Eine wirklich sehr bemerkenswerte Auseinandersetzung zum Thema Nazi.
Die Kirche und die Bibel sind hier eher wenig hilfreich. "Mach die Welt zum Untertan" Was für eine überhebliche Aussage der Bibel.
Am besten gefallen haben mir die letzte drei Abschnitte Deiner Analyse.. Du hast es spezistisch genannt ( von mir eingekürzt), ein Wort, das mir bisher fremd war, aber ziemlich treffend ist. Es geht um weit mehr als nur um Rassenhass. Aber genau das ist der Hintergrund der Bibel. Da steht nicht nur Gutes drin.
Es freut mich besonders, dass dieser Beitrag von deutscher Seite kommt. Natürlich habe wir das genau gleiche Problem auch in der Schweiz, in ganz Europa, sogar auf der ganzen Welt Es wird da einfach anders benannt.
Radikalität links wie rechts. Aber in der Mitte haben wir eine ähnliche Radikalität. Es werden Standards, Werte aufgestellt und verfolgt, die nicht allen Menschen gefallen. Ob privat, beruflich oder politisch, die meisten Leute wollen einfach ihren eigenen Kopf durchsetzen, und das nenne ich rücksichtslos wie radikal. So ist zusammenleben nicht möglich. Das ist eine Mischung, die zu sehr viel Zoff führt.

Ich wollte Dich an sich persönlich ansprechen. Du hast aber leider keine Kontaktangaben auf der Website von Zeitpunkkt.
Also gehts nun in die Kommentarseite.

Freundliche Grüsse habs

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