Kehraus – die Masken fallen

Der Begriff «Apokalypse» wird oft ungenau verwendet. Eigentlich bedeutet er nicht «Weltuntergang», sondern «Enthüllung der Wahrheit». In diesem Sinn leben wir tatsächlich in apokalyptischen Zeiten. Wir können aber fast jede Woche beobachten, wie Wahrheiten offenbar werden, die lange unter dem Deckel gehalten wurden. (Roland Rottenfußer)

Die Party ist nicht vorbei, aber sie neigt sich ihrem Ende zu. Den nahenden Kehraus ahnend, drehen die Akteure die Musik noch mal lauter, um die warnenden Stimmen in ihrem Inneren nicht zu hören. Sie verdrängen die Angst vor dem Kater, indem sie sich noch mal kräftig besaufen: an ihrer Macht, ihrem Geld, ihrer Selbstgerechtigkeit. Aber wie lange noch?




„Ich kann die Scheiße nicht mehr“, tönte es. Und „ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“. Der so Pöbelnde war kein Rapper, kein Angehöriger der „Unterschicht“. Es war Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, fein herausgeputzt in Anzug und Krawatte. Die „Fresse“ gehörte Wolfgang Bosbach (CDU), Kritiker einer Aufstockung des Euro-Rettungsschirms. Und, ach ja: Mit dem „Scheiß“ war die im Grundgesetz garantierte Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten gemeint. Der Vorfall verursachte einen Riesenwirbel, aber Pofalla blieb im Amt. Warum auch nicht? Er sprach wahrscheinlich nur aus, was viele fühlen: Alle Skrupel, die den Marsch in die totale Bankenrettung (verbunden mit der systematischen Ausplünderung der Geringverdiener) stoppen könnten, sind „Scheiß“.



Dabei war Pofallas Ausraster noch harmlos, verglichen mit dem seines neoliberalen Glaubensbruders Silvio Berlusconi. Der bezeichnete in einem abgehörten Telefonat gleich ganz Italien als „Scheißland“. Nun könnte man darüber Augen zwinkernd hinweg gehen. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Wenn da nicht so eine Ahnung wäre, die Politiker könnten uns gerade mit solch grobschlächtigen Äußerungen ihr wahres Gesicht gezeigt haben. Demnach wäre das glatt geschliffenen Polit-Sprech, das sie drauf haben, wenn sie sich im Griff haben, ihr falsches Gesicht. Kann es sein, dass in letzter Zeit immer mehr Masken fallen? Und wenn ja, woran könnte es liegen?



Erinnern wir uns:



Im Mai 2010 sagte Ex-Bundespräsident Köhler, „dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“. Blut für wirtschaftliche Interessen: Damals galt dies als Tabubruch, und die Diskussion, die sich daran anschloss, mündete in Köhlers Rücktritt.



Im Februar 2011 wurde bekannt, dass Verteidigungsminister zu Guttenberg einen Großteil seiner Doktorarbeit abgeschrieben hatte. Ein Polit-Star, der als quasi unvermeidlicher nächster Bundeskanzler gehandelt wurde, war in Windeseile demontiert, als Betrüger entlarvt. Der gleiche Vorgang wiederholte sich wenig später bei der FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin. Die Kanzlerin entlarvte sich selbst als Mensch ohne ethische Fundamente, indem sie angab, den Politiker Guttenberg vom Doktoranden trennen zu wollte.



In Nordafrika fielen die Regimes von Ben Ali und Mubarak, deren Macht in Zement gegossen schien. Andere, wie Syriens Präsident Assad, können sich heute nur noch durch massive Menschenrechtsverletzungen an der Macht halten. Sie regieren mit Angst, wo sie die Achtung ihrer Völker längst verloren haben.



Durch die Katastrophe von Fukushima (seit 11. März) wurde die Behauptung widerlegt, dass Atomkraft eine sichere Sache und Tschernobyl eine einmalige Ausnahme gewesen sei. Noch im Oktober 2010 hatte die schwarz-gelbe Regierung die Atomlaufzeiten verlängert. Diese eklatante Fehlentscheidung schädigte ihren Ruf ebenso wie die nach Fukushima in Angriff genommene rasante Atom-Kehrtwende. Der Klüngel zwischen Regierung und Atombetreibern wurde in der Folge für viele Bürger offenbar. Auch für solche, die sonst nicht der „Alternativszene“ angehören.



Ebenfalls in der „heißen Phase“ (Anfang 2011) wurden der britische Meinungsmonopolist Rupert Murdoch und seine Zeitung „News of the World“ in einen Abhörskandal verwickelt. Journalisten hatten tausende Mobiltelefone von Politikern und Prominenten abgehört. In der Folgezeit wurde die Kumpanei zwischen britischer Politik und Mainstream-Meinungsmache zunehmend öffentlich diskutiert. Die Glaubwürdigkeit und damit die Macht des Medienriesen begannen zu bröckeln. Es ist erlaubt, Parallelen zur deutschen Medienszene zu ziehen.



Die FDP erschien nach ihrem Wahlsieg vom Herbst 2009 mit knapp 15 Prozent der Stimmen geradezu „hot“. Die Altpopper-Generation um Guido Westerwelle schien mit ihrem Erfolg sogar Genscher und Lambsdorff in den Schatten zu stellen. Der damalige Hype erscheint heute als eines der großen Rätsel der Weltgeschichte. Jedenfalls platzte die Blase bald. Ein schwacher Außenminister, soziale Kälte, uneinlösbare Wahlversprechen und die aktuelle Bubenherrschaft ruinierten die Partei, die heute nur für 3 oder 4 Prozent gut ist. Es scheint, als würde das neoliberale Projekt nun von seinem extremsten Rand (der FDP) her abgewickelt.



Im Juli wurde ein großer Waffendeal mit Saudi-Arabien bekannt. Die Bundesregierung genehmigte die Lieferung von 200 Leopard-Panzern, obwohl ihre eigenen Richtlinien Lieferungen in Spannungsgebiete verbieten. Die Saudische Regierung unterstützt u.a. den Mörder Assad in Syrien und das Regime in Bahrain und ist selbst für massive Menschenrechtsverletzungen, u.a. Christenverfolgungen, bekannt. Peinlich für die „christdemokratische“ Kanzlerin.



Staatliche Institutionen in Bayern haben offenbar die Verfassung gebrochen und Schnüffel-Software (sog. Bundestrojaner) eingesetzt. Die Behörden überwachten Email, Skype-Telefonate und Chats und nahmen umfangreiche Manipulationen an den Computern der Zielpersonen vor. Die Aktivisten des Chaos Computer Clubs (CCC) deckten den Skandal auf.



Nicht vergessen darf man beim Thema „Die Masken fallen“ auch die Missbrauchsaffäre der katholischen Kirche, die ihren Schwerpunkt Anfang 2010 hatten. Nur noch ca. 30 Prozent der Deutschen halten seither die katholische Kirche für ehrlich. Die Zahl der Kirchenaustritte stieg um 30 Prozent.



Auch das Vertrauen in die Banken schwindet rapide. Im Zusammenhang mit der Finanzkrise 2008 ist es zur Binsenweisheit geworden, dass gerade Großbanken zu viel Macht angesammelt haben und damit eine ganze Gesellschaft erpressen, damit diese für ihre Spielschulden haften. „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“ heißt das Stichwort. Massenweise wurden etwa von der Commerzbank so genannte offene Immobilienfonds wie der DEGI Europa an Bürger mit konservativem Anlegerprofil verkauft. Das Versprechen: Hohe Renditen, Kündigung jederzeit möglich. Die Realität: Ende 2008 wurde der DEGI „eingefroren“. Diejenigen, die das Problem verursacht haben, gebärdeten sich wie Vorgesetzte der geschädigten Anleger und rücken das Geld, als ob dies eine Gnade wäre, bis 2013 scheibchenweise heraus: nach Verlustabzug. Tausende von Menschen haben ähnliche Erfahrungen, auch mit anderen Banken, gemacht. Viele von ihnen gehen nun gegen die Plutokratie auf die Straße. Sogar der neoliberale Stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges schrieb unlängst, die Banken lebten „in Schande“.



Sicher können viele Leserinnen und Leser diesen ohnehin schon zahlreichen Fällen weitere hinzufügen. Natürlich hat man schon immer Ausraster von Politikern und Skandale erlebt. Man denke nur an den betrunkenen Strauß, Schröder oder Huber am Wahlabend. Die Fälle scheinen sich allerdings im Moment zu häufen – und sie sind meistens nicht harmlos. Politiker zeigen Verachtung gegenüber ihrem Land oder seiner Verfassung. Sie brechen offen oder verdeckt Regeln, die sie selbst aufgestellt haben. Sie enthüllen, als handle es sich um Freud’sche Versprecher, Sachverhalte, die „man“ normalerweise nicht offen äußert. Sie offenbaren drastische Fehleinschätzungen oder entlarven sich selbst unmissverständlich als Betrüger und Heuchler.



Hinzu kommen Fälle aus der Zivilgesellschaft, in denen Prominente, aber auch „normale“ Bürger die Contenance verlieren, in denen eine lang kultivierte Fassade bröckelt oder ein „wahres Gesicht“ durchscheint.



Zunächst Fälle im Grenzbereich zwischen Politischem und Privatem: Der IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn wurde der Vergewaltigung eines Zimmermädchens angeklagt. Silvio Berlusconi des Geschlechtsverkehrs mit Minderjährigen. Der CDU-Politiker Christian von Boetticher lieferte einen eher harmlosen Skandal mit einem Mädchen, das bereits die sexuelle Selbstbestimmung (16 Jahre) erreicht hatte. Moralische Entrüstung liegt mir hier fern. Entscheidend ist, dass die Betreffenden, wenn die Vorwürfe stimmen, gegen die Werteordnung ihres eigenen (konservativen) Milieus verstoßen haben.



Zunehmend outen sich Menschen als depressiv, darunter die Fußballer Sebastian Deisler und Robert Enke (Selbstmord 2009), Popstar Robbie Williams und die Talkshow-Skandalnudel „Lady Bitch Ray“. Einen Burnout gaben u.a. zu: Der Fernsehkoch Tim Mälzer, die Schauspielerin Kirsten Dunst („Spiderman“) und „Rosenstolz“-Sänger Peter Plate. Symptomatisch erscheinen mir diese Fälle bei Menschen, die von Berufs wegen ein extrem extrovertiertes, fröhliches oder energiegeladenes Image pflegten. Wenn der Regisseur Lars von Trier depressiv ist, überrascht dies weniger, es besteht dann Übereinstimmung zwischen Werk und Realität.



Diese prominenten Fälle sind natürlich nur die Spitze eines Eisbergs. Die Zahl der psychisch Kranken steigt rasant an. Laut Barmer Ersatzkasse hat sich die Zahl der wegen Depression ins Krankenhaus eingelieferten in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Auch Angststörungen und Rücken- sowie Kopfschmerzen nehmen zu. Das „Burnout“ erscheint demgegenüber wie eine gesellschaftlich akzeptablere Variante der Depression. Wer unter Burnout leidet, ist ja ein Held der Arbeit, der „150 Prozent“ für seine Firma gegeben hat; der Depressive dagegen gilt als Trantüte, der sich nur ein bisschen zusammenreißen müsste. Die Übergänge sind aber in Wahrheit fließend.



Neben der Depression boomt auch scheinbar sinnlose Gewalt. Der Begriff „Amoklauf“ ist erst seit der Jahrtausendwende ein weit verbreiteter Begriff. In Winnenden, Erfurt und Ansbach, in mehreren Städten der USA und auf einer norwegischen Insel fanden schreckliche Massaker an Menschen statt, die der jeweilige Mörder überwiegend nicht persönlich kannte. In Pariser Vororten, in London und Berlin kam es zu gewalttätigen Unruhen und Akten des Vandalismus ohne konkrete politische Stoßrichtung. Klug analysierte Peter Oborne im britischen „Daily Telegraph“: „Die Kriminalität auf unseren Straßen kann nicht getrennt behandelt werden von der moralischen Desintegration auch in den höchsten Rängen der modernen britischen Gesellschaft, ob Banken oder Politik. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben wir einen erschreckenden Verfall der Normen unter Englands regierender Elite erlebt. Es wurde akzeptabel unter unseren Politikern, zu lügen und zu betrügen. Eine fast universale Kultur aus Selbstsucht und Gier hat sich bei uns breit gemacht.“



Ich spreche die Themen Depression und Gewalt im Zusammenhang mit „fallenden Masken“ nicht ohne Grund an: Es sind Krankheitsbilder der Beherrschten, während die zuvor aufgeführten Fälle -  von Pofalla bis zum Priestermissbrauch – eher die Herrschenden betrifft. Beide Phänomene verhalten sich zueinander komplementär. In beiden Fällen können die Betreffenden einer Rolle nicht gerecht werden, die sie in der Öffentlichkeit glauben spielen zu müssen. Die Herrschenden, um ihre Machtposition zu verteidigen; die Beherrschten, um dem Anpassungsdruck zu genügen, der von den Herrschenden ausgeübt wird. Dabei ist oft auch ein verinnerlichter Antreiber, ein starkes „Überich“ wirksam. Die Verhaltensauffälligkeiten passen wie der Schlüssel zum Schloss zu Phänomenen, die unseren Zeitgeist prägen: Leistungs- und Eigenverantwortungsmentalität, Existenzdruck, der Wunsch, gesellschaftlich vorgegebenen Persönlichkeitsidealen zu entsprechen (der extrovertierte Handdampf, der Willensheros, der Saubermann, der sich im Griff hat).



Die Frage ist nun: Warum passiert es gerade in den letzten Jahren so gehäuft? Astrologen oder spirituell gesinnte Menschen mögen hier anführen, dass es „Zeitqualitäten“ gibt, die der Aufdeckung der Wahrheit zuträglich sind. Manche denken vielleicht an das ominöse, jetzt herannahende Jahr 2012 oder sehen gleich die Apokalypse heraufdämmern. Ich möchte hier, ohne spirituelle Deutungen grundsätzlich auszuschließen, einige rationale Hypothesen aufstellen:



Die Wirksamkeit des Schattens. „Der Schatten ist die Summe dessen, von dem wir aufs tiefste überzeugt sind, dass es aus der Welt geschafft werden müsste.“ (Thorwald Dethlefsen und Ruediger Dahlke in „Krankheit als Weg“). Der Mensch ist ein bipolares Wesen. Er kennt Kraft und Kraftlosigkeit, Güte und Bosheit, Heiterkeit und Trauer. Wenn man sich ausschließlich dem einen (dem „positiven“) Pol zuwendet, wird der unterdrückte Pol ein unbewusstes Eigenleben entwickeln und sich zu einer gefährlichen, destruktiven Kraft auswachsen. „Wer absichtlich das Gute nährt, nährt unbewusst das Böse mit“ (Dethlefsen/Dahlke).



Der Schauspielerberuf ist anstrengend. Politiker kultivieren in besonderer Weise ein idealisiertes Image. Sie müssen energiegeladen wirken, von ihrem eigenen Parteiprogramm restlos begeistert sein, durchdrungen von uneigennütziger Liebe zu ihrem Volk. Ironischerweise gehört auch Ehrlichkeit zu der so kultivierten Maske, obwohl Maskenhaftigkeit und Aufrichtigkeit einander ausschließen. Politiker werden zu Authentizitätsdarstellern und sind daher besonders anfällig für Schattenmanifestationen. Es kostet Anstrengung, auf Dauer etwas darzustellen, was man nicht ist, etwas zu vertreten, woran man nicht mehr glauben kann. In den letzten Jahren haben auffällig viele Politiker freiwillig und vorzeitig ihr Amt abgegeben (u.a. Matthias Platzeck, Ole von Beust, Peter Müller, Horst Köhler). Statt dem erwarteten Machthunger kann man geradezu eine Machtflucht beobachten. Meine These ist, dass der Kräfteverschleiß, der mit dem Spielen einer „Rolle“ verbunden ist, für viele zu groß wurde. Vielleicht gingen sie, um einem Zusammenbruch oder einer Demaskierung zuvor zu kommen.



Politiker und Wirtschaftslenker müssen heute mehr schauspielern als früher. Die Politiker der „alten Bundesrepublik“ (vor der Wende) waren gewiss an Imagepflege interessiert und nicht immer ehrlich. So groß wie heute waren die Anforderungen an ihre schauspielerischen Fähigkeiten jedoch nicht. Das damalige politische Establishment verwaltete ein einigermaßen funktionierendes Gemeinwesen, in dem die Klassenkämpfe befriedet, Schulden überschaubar und Kriege unbekannt waren. Gemeingüter waren im Besitz der Gemeinschaft, die Unterschiede zwischen Arm und Reich erträglich. Arbeitslose waren gut abgesichert. Die Spekulation überwucherte noch nicht die Realwirtschaft. Die politische Klasse konnte ihr Modell, die „soziale Marktwirtschaft“, nicht ohne Grund als erfolgreich betrachten, selbst wenn man als Linker noch einiges daran zu kritisieren findet.


Heute müssen uns Politiker dagegen wirklich wahnwitzige Gedankenkonstruktionen als „richtig“ und „alternativlos“ verkaufen: Schulden sind rückzahlbar, wenn wir alle sparen. Die Wirtschaft kann grenzenlos weiter wachsen. Je schlechter es den Menschen geht, desto besser für Europa. Es ist korrekt, dass die Gemeinschaft für die Spielschulden weniger Zocker haften muss. Die Wirtschaft wächst, wenn man den Konsumenten immer mehr Geld aus der Tasche zieht. Reiche müssen reicher werden, damit es allen besser geht, weil der Reichtum irgendwie auch bis zu den Armen durchtröpfelt. Demütigung von Arbeitslosen ist die passende Antwort auf Arbeitsmarktproblemen. Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt, usw. Ich beneide Politiker nicht darum, öffentlich so ein Programm verkaufen zu müssen. Wer sein Amt nicht verlieren will, fühlt sich jedoch meist gezwungen, „mitzuspielen“. Die klare Einsicht „Ich betrüge meine Wähler“ wäre für die meisten Akteure unerträglich. So werden sie zu Meistern der Autosuggestion. Sie strengen sich an, an das, was sie tagtäglich sagen, tatsächlich zu glauben. Manche verkraften diese Daueranstrengung dann nicht mehr. Ausraster, Krankheit oder Amtsverzicht könnten Notventile sein, wenn der Druck übergroß wird.



Moderne Technik begünstigt die Enthüllung von „Geheimnissen“. Prügelnde Polizisten werden per Handy aufgenommen, die Bilder gleich darauf in die ganze Welt verschickt. Eine fortgeschrittene Software sucht nach Übereinstimmungen zwischen dem Text einer Doktorarbeit und älteren Texten. Computerhacker dechiffrieren einen Bundestrojaner. Peinliche Redebeiträge von Politikern werden auf youtube einem Millionenpublikum zugänglich. Die moderne Technik ist gnadenlos, und ich sehe diese Entwicklung durchaus auch kritisch. Sicher ist aber: Sie begünstigt Ehrlichkeit und bringt für Betrüger Probleme mit sich. Politiker beanspruchen, die Regeln zu bestimmen, nach denen das Verhalten von Bürgern bewertet wird. Es besteht daher ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass sie ethischen Ansprüchen genügen.



„Ausraster“ und Krankheiten sind Protest gegen unerträglichen Anpassungsdruck. Noch einmal zu den Schattenmanifestationen bei den Beherrschten: Angestellte und „kleine Leute“ fühlen sich oftmals gezwungen, ein Leben in Lüge zu führen. Ein Beispiel: So beschissen sie in ihrer Firma auch behandelt und bezahlt werden, sie müssen stets so tun, als seien sie bis in die Haarspitzen von Leistungswillen durchdrungen. „Man muss dem Götzen opfern, solange der Götze gilt“ (aus Fontanes „Effi Briest“). Dies aber fühlt sich unbehaglich an, es nagt an der Selbstachtung. Wer ernsthaft krank wird, sagt damit: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr“ – und kann dies nicht nur dem Chef, sondern auch sich selbst gegenüber rechtfertigen. Wem die Schattenmanifestation mittels Krankheit nicht gelingt, der läuft Gefahr, irgendwann auszurasten und dann als der „Böse“ dazustehen. Es gibt heute mehr Zustände, die krank machen, als noch vor 30 Jahren. Diese Zustände sind nicht unvermeidlich, sie werden von Global Players und ihren politischen Vasallen mutwillig herbeigeführt. Dann soll man sich aber bitte nicht wundern, wenn Menschen tatsächlich krank werden und dabei sogar „volkswirtschaftliche Schäden“ entstehen.



Obwohl ich mich natürlich über eine Welle von Depressionen und Gewalttaten nicht freuen kann, finde ich es begrüßenswert, dass die Masken in vielen Bereichen fallen. Die Welle der „Enthüllungen“ wirft ein Schlaglicht auf einen unaufrichtigen Politikbetrieb (unaufrichtige Kirchen, Banken usw.) und weckt die Sehnsucht nach mehr Authentizität. Diese Sehnsucht könnte zur Keimzelle für bessere Strukturen werden. Projekte müssen geschaffen, politische Ansichten in den Mittelpunkt rücken, die ein ernsthafter Mensch vertreten kann, ohne sich eine Maske überzustülpen. So lange dies nicht geschieht, wird und muss der große Kehraus jedoch weitergehen.






27. Oktober 2011
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