Was geschieht, wenn wir die Grausamkeit der Welt unser Herz aufbrechen lassen? Die Samstagskolumne

Banksy Palestine
Strassenkunst von Banksy in Gaza

Seit einem Dreiviertel Jahr sagt Gaza: «Die Welt schaut zu und lässt uns sterben». Die Menschen werden gejagt, bombardiert, ausgehungert, finden keine Zuflucht, sehen den Tod ihrer Kinder, ihrer Geliebten – kein Ende in Sicht – und unsere Regierungen und Systeme liefern die Waffen und Rechtfertigungen dafür. Dasselbe gilt für die Menschen im Sudan. Im Jemen. Für die jungen Rekruten auf beiden Seiten des Ukraine-Krieges. Die Welt schaut zu.

Tun wir das? Nicht wirklichWir schauen allermeistens weg, lenken uns ab, da wir unsere Ohnmacht nicht ertragen können. Vielleicht gehen einige von uns auf Friedensdemonstrationen, auf Friedensvorträge, informieren sich, diskutieren und schreiben Leserbriefe… aber wir steigen nicht aus dem System aus, aus der Kriegsgesellschaft, die all das Leiden produziert. 

Und selbst wer es tut – ich habe einen Mann kennengelernt, der seinen Pass verbrannt hat und versucht, ohne Geld zu überleben, weil er nicht mehr dem System angehören will – bewirkt damit letztlich wenig. 

Was aber können wir tun? Ich möchte die politische Autorin Caitlin Johnston zu Wort kommen lassen mit den folgenden Sätzen, die mich berührt haben (meine Übersetzung):

«Lassen wir zu, dass die Grausamkeit der Welt uns das Herz aufbricht, lieber Freund.
Weinen wir gemeinsam um die zerfetzten und ausgemergelten Körper in Gaza und um ihre spöttischen, gemeinen Peiniger.
Um die Amputierten und Waisen in der Ukraine und in Russland und um die eisäugigen Monster, die sie dazu gemacht haben.
Um all die keuchenden Pflanzen und Tiere auf diesem Planeten, den wir so unbewohnbar machen, und um die ehrgeizigen Köpfe, die diesen Kataklysmus am Laufen halten.
Lassen wir es einfach auf uns wirken.
Lassen wir uns davon erschüttern.
Wir sind keine Soldaten. Wir sind keine Mörder. Unsere Herzen sind nicht dazu bestimmt, gefühllos zu sein.
Lassen wir also zu, dass die Grausamkeit der Welt uns in Stücke schlägt und wie Staub im Wind verstreut.
Überlassen wir uns der Angst. Lassen wir uns von ihr ergreifen.
Und sehen dann, was übrig bleibt.
Vielleicht stellen wir fest, dass das Leben weiterlebt, auch wenn wir uns wegfegen lassen.
Und vielleicht stellen wir fest, dass der Schmerz uns nicht tötet.
Vielleicht leben wir weiter, nachdem wir dem Orkan des Kummers erlaubt haben, durch uns hindurchzujagen und vollständig das Kommando über uns zu übernehmen.
Die Lunge füllt sich weiter mit Luft. Die Adern füllen sich weiter mit Blut. Das Licht der aufgehenden Sonne bahnt sich seinen Weg in unsere Augen.
Und wir spüren langsam, wie wir wieder zu Kräften kommen.
Und dann beginnen wir vielleicht, uns zu rühren.
Vielleicht lassen wir unseren Körper durchschütteln.
Dann vielleicht, wenn wir bereit sind, setzen wir uns auf.
Und dann stehen wir auf.
Lassen wir zu, dass die Grausamkeit der Welt uns zerstört, lieber Freund… um dann herauszufinden, was übrig bleibt. Und weiterkämpfen.»

Ich glaube, sie hat Recht: Bevor wir irgendetwas Sinnvolles im Äusseren tun können, müssen wir fühlen. Müssen uns erschüttern lassen von Mitgefühl. Ohne das ist Aktivismus oder schon die Frage, was wir tun können, wie der berühmte Kampf gegen die Windmühlen. 

Stellen wir uns vor, all die Menschen, die sagen: «Was kann ich allein denn schon tun?» kommen zusammen. Was brauchen sie, damit sie ihre Kräfte wirklich verbinden – statt sich in der altbekannten ohnmächtigen Rechthaberei verzetteln? 

Das unbeweinte Leid, der angefühlte Schmerz steht zwischen uns wie eine Barriere. Es braucht den Aufbruch des Herzens – und ich meine das Wort in seinem doppelten Sinn. Kein gebrochenes, aber ein aufgebrochenes Herz ermöglicht uns, die Komfortzonen zu verlassen, ohne die üblichen Verstellungen zusammenzukommen und zu einer starken Friedensmacht zusammenzuschliessen. 

Ein solcher «Aufbruch» kann sehr schlicht und still sein. Auf einmal begegnet man sich und erkennt sich. Und dann versteht man Etty Hillesum, die kurz vor ihrem Tod aus einem Konzentrationslager schrieb: «Das Elend ist wirklich gross, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf: Das Leben ist etwas Herrliches und Grosses, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen.»


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