Nach israelischem Angriff hält der Iran die Trumpfkarte in der Hand

Nach dem jüngsten israelischen Angriff auf den Iran befindet sich Teheran in einer einzigartigen Position, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Die Frage ist, ob der Iran und die USA diesen Moment nutzen können, um ein sofortiges Freeze-for-Freeze-Abkommen zu schliessen, um so die Region in Richtung Stabilität zu steuern.

Teheran steht vor einem Scheideweg: es kann die jüngste Reaktion Israels als abgeschlossenes Kapitel betrachten und in verhältnismässig gleicher Weise reagieren oder in einen direkten Dialog mit Washington treten, um bilaterale und regionale Sicherheitsfragen zu erörtern. Die Reaktion des Iran, sei es Öl ins Feuer zu giessen oder die Flammen zu löschen, wird globale Auswirkungen haben. Diese Entscheidung könnte auch den Ausgang der auf Messers Schneide stehenden US-Präsidentschaftswahl zwischen Donald Trump und Kamala Harris beeinflussen.

Wie man so schön sagt: «Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!», die über den Ausgang der US-Wahlen entscheidet. Und hier hält der Iran einen Trumpf in der Hand: seine Macht, die globalen Ölpreise drastisch zu beeinflussen, mit direkten (realen oder vermeintlichen) Auswirkungen auf die US-Wirtschaft.

Der Iran könnte seine Drohung wahr machen, die globalen Energieflüsse durch die Strasse von Hormus zu unterbrechen – durch die bis zu 30 Prozent des weltweit transportierten Öls fliessen – und die andauernden Angriffe der Huthis auf mit Israel verbündete Schiffe im Roten Meer unterstützen. Ein solcher Schritt würde die Öl- und Gaspreise in die Höhe treiben, die Weltwirtschaft in eine Rezession stürzen und zu einem regionalen Krieg unter starker Beteiligung der USA führen. Diese Vorgänge würden die Wähler, die ihre Stimme in den umkämpften, das Wahlergebnis entscheidenden Bundesstaaten abgeben, in ihrer Entscheidung beeinflussen.

Washington und Teheran haben die Möglichkeit, einen anderen, gegenteiligen Weg zu beschreiten, indem sie vordringlich die diplomatischen Kanäle zur Beilegung bilateraler und regionaler Streitigkeiten wiederbeleben. Während ein umfassendes Abkommen eine langwierige – und nuancierte – Diplomatie erfordern würde, könnten sich Teheran und Washington zu sofortigen deeskalierenden Schritten durch ein «Freeze-for-Freeze»-Abkommen entscheiden. In einem solchen zeitgebundenen Abkommen würde sich der Iran bereit erklären, nicht auf israelische Luftangriffe zu reagieren, die maritime Sicherheit zu wahren und seinen Einfluss auf regionale nichtstaatliche Akteure (Hamas, Hisbollah und Huthis) zu nutzen, um die diplomatischen Bemühungen für ein Waffenstillstandsabkommen in Doha zu unterstützen. Parallel dazu würde die Biden-Regierung ihre strategische Unterstützung für Israels Vorgehen gegen den Iran einstellen, 8 Milliarden Dollar an blockierten iranischen Geldern in Doha tatsächlich freigeben und direkten Druck auf die israelische Regierung ausüben, ein Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas und der Hisbollah zu erreichen. Dies würde den Austausch von Geiseln und Gefangenen erleichtern, humanitäre Hilfe in Gaza sicherstellen und die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats zur Stabilisierung der israelisch-libanesischen Grenze stärken.

Washington und Teheran könnten sich an der weltweiten Unterstützung für ein solches Freeze-for-Freeze-Abkommen erfreuen. Die Länder der Region und fast die gesamte internationale Gemeinschaft würden ein Abkommen unterstützen, das einen Waffenstillstand sichert. Unnötig zu erwähnen, dass sich die globale Zivilgesellschaft – einschliesslich des grössten Teils der US-amerikanischen und israelischen Öffentlichkeit – nach einem Ende dieses grausamen Krieges sehnt.

Die USA verfügen über einzigartige Druckmittel, um Premierminister Netanjahu zu einem Waffenstillstand zu zwingen. Doch die Biden-Regierung hat es versäumt, diese Druckmittel effektiv einzusetzen. Seit dem 7. Oktober hat Washington um Israels Krieg zu unterstützen mehr als 22,5 Milliarden Dollar für militärische Verstärkung und entsprechenden Nachschub ausgegeben. Es scheint, dass nur ein Umstand Biden dazu bewegen könnte, den nötigen Druck auszuüben, um Netanjahu zum Handeln zu zwingen: das unmittelbare Risiko, die Wahl gegen Donald Trump zu verlieren.

Im Obersten Nationalen Sicherheitsrat des Iran mahnen Stimmen zur Vorsicht vor einer weiteren Runde direkter Konfrontation. Sie sind sich bewusst, dass eine Vergeltung eine weitere Eskalation provozieren würde, auch seitens der USA, die ihre Militärpräsenz in der Region verstärkt haben. Ein iranischer Beamter äusserte, dass der Iran lieber zurückhaltende, wohldurchdachte Reaktionen anstelle von Provokationen bevorzuge. «Eine weitere Eskalation würde nur zu noch mehr Zerstörung führen», stellte er fest. «Unser Ziel ist es, unsere Interessen zu wahren, ohne in einen unnötigen Konflikt hineingezogen zu werden.»

Irans zurückhaltende Haltung dürfte seinen diplomatischen Einfluss auf ein Freeze-for-Freeze-Abkommen stärken. Teheran hat seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, Verbündete und Gegner in Gespräche im Hintergrund mit einzubeziehen, um Herausforderungen im Hinblick auf die regionale Sicherheit zu lösen und einen längerfristigen Frieden zu erreichen.

Können der Iran und die USA eine Krise in einen Waffenstillstand umwandeln?

Die derzeitige Regierung kann der schwächelnden Harris-Kampagne unterstützend unter die Arme greifen, indem sie zeigt, dass sie in der Lage ist, Konflikte im Nahen Osten zu entschärfen, die Energiemärkte zu stabilisieren und wirtschaftliche Probleme auszuräumen. Dies hätte in den letzten Wochen des Präsidentschaftswahlkampfs eine starke Wirkung, in denen sich das Trump-Team auf das Versagen der Demokraten bei der Eindämmung des globalen Konflikts konzentriert und davor gewarnt hat, dass die Wahl von Kamala Harris zu Bidens Nachfolgerin die ewigen Kriege fortsetzen wird. Die amerikanischen Haushalte haben empfindlich auf die durch die Kriege sich hochschraubende Ölpreiskrise reagiert.

Die feindseligen Haltung gegenüber dem Iran weiter voranzutreiben, wird die USA nur tiefer in Netanjahus regionale Strategien hineinziehen, mit schwerwiegenden Folgen. Eine solche Politik geniesst in den USA wenig öffentliche Unterstützung, wobei sie moderate Wähler verprellt. Ein Abkommen, das die Kooperation des Iran bei regionalen Sicherheitsbemühungen sichert – verbunden mit spezifischen Massnahmen zur Aufhebung der Finanzsanktionen – würde es Biden ermöglichen, einen diplomatischen Sieg zu erzielen, was bei einer breiten Wählerschaft, die Stabilität und Frieden befürworten, entsprechenden Anklang finden würde.

Sollte der Iran für die israelischen Angriffe Vergeltung üben, sei es direkt oder über Stellvertreter, würde die daraus resultierende Instabilität die Ölpreise auf Rekordhöhen treiben, die wirtschaftlichen Herausforderungen verschärfen und Harris‘ Wahlaussichten schwächen. Ein iranischer Politiker, der anonym bleiben möchte, warnte vor der fragilen Situation: «Wenn Israel weiterhin Palästinenser und libanesische Zivilisten angreift und tötet, haben wir keine andere Wahl, als zu reagieren. Aber wir wollen einen grösseren Krieg vermeiden, der niemandem nützt.»

Biden muss die Kosten einer Untätigkeit gegenüber einem wahrscheinlichen Gewinn durch Diplomatie abwägen. Ein strategisches Abkommen mit dem Iran würde dazu beitragen, sein Vermächtnis zu stärken, indem es sein Engagement für Diplomatie an Stelle von militärischem Engagement unterstreicht und die Wähler anspricht, die kostspielige, langwierige Kriege im Ausland ablehnen.

Alle im Grossen daran Beteiligten – die USA, der Iran, die Staaten der Region und die Zivilbevölkerungen, die ins Kreuzfeuer geraten sind – werden von einer diplomatischen Lösung profitieren. Das Zustandekommen eines Abkommens würde Biden als eine Führungspersönlichkeit erscheinen lassen, die sich dem Frieden in einer instabilen Region verschrieben hat und die sich gleichzeitig kritischer innenpolitischer Themen wie Energiekosten und Inflation annimmt. Für den Iran wäre die wirtschaftliche Entlastung und die Anerkennung als zur Stabilität beitragender Regionalmacht ein erheblicher Gewinn. Am wichtigsten jedoch ist, dass ein diplomatischer Durchbruch die dringend benötigte Erleichterung durch eine Verringerung der Gewalt gegen die betroffenen Bevölkerungen bringen würde.

Der in diplomatischen Kreisen eingebundene iranische Beamte bemerkte: «Es ist uns klar, dass die USA ihrem eigenen Druck ausgesetzt sind, insbesondere angesichts der bevorstehenden Wahlen. Dies ist eine Gelegenheit, um eine gemeinsame Basis zu finden. Wenn wir auch nur eine begrenzte Einigung erzielen, könnte dies die Türen zu besseren Beziehungen und weniger Feindseligkeiten in der Zukunft öffnen.»

Ein Freeze-for-Freeze-Abkommen könnte der Startschuss für ein breiteres Engagement zwischen den USA und dem Iran sein. Ein nächster Schritt könnte das Atomabkommen mit dem Iran von 2015 wiederbeleben. In den darauffolgenden Phasen könnten alle regionalen Akteure ein umfassendes Abkommen über Frieden und Sicherheit in der Region aushandeln.

Indem Biden der Diplomatie Vorrang vor der Konfrontation einräumt, hat er die seltene Gelegenheit, die Spirale des Krieges zu stoppen und die Machtverhältnisse im Nahen Osten neu auszurichten. Hier gibt es jetzt die Chance, einen Rahmen zu schaffen, der Sicherheit durch regionale Zusammenarbeit und nicht durch militärische Dominanz erzeugt. Diesen Moment zu nutzen, um Frieden und Stabilität zu fördern, wird die wichtigste und nachhaltigste Entscheidung in Bidens Karriere sein.


Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Ulrich Karthaus vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


*Emad Kiyaei hält Vorlesungen zu Sicherheits- und Abrüstungsfragen an verschiedenen akademischen und politischen Institutionen. Zuvor war er Forscher an der Woodrow Wilson School of Public & International Affairs der Princeton University und Associate am Center for International Conflict Resolution (CICR) der Columbia University. Emad war Exekutivdirektor des American Iranian Council (AIC), einer Bildungsorganisation, die sich auf die Beziehungen zwischen den USA und dem Iran konzentriert. Emad hat einen Master of International Affairs von der Columbia University School of International and Public Affairs.

04. November 2024
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