Der Weg zur Freiheit
Durch Erziehung und Sozialisation leben wir in einer Konsensus-Trance, in der es fast unmöglich ist, sein wahres Selbst zu leben. Zum Glück lässt sich der Körper nicht betrügen. Seine Signale weisen den Weg. Christoph Pfluger im Gespräch mit Kurt Schneider
Christoph Pfluger: Was ist für Sie Freiheit?
Kurt Schneider: So leben zu können, wie ich es als meine Bestimmung erfahre. Wir sind ja gezwungenermassen alle sozialisiert, und Sozialisation ist nicht ohne Einschränkung der Freiheit zu machen. Über die Sozialisation verlieren wir den grössten Teil unserer ursprünglichen Freiheit. Als Kind sind wir zwar total abhängig, haben aber doch die Freiheit, die man den Kindern noch lässt, bis sie erzogen sind.
Sozialisation bedeutet aber auch, dass man das Zusammenleben mit anderen lernt, indem man die Grenzen erkennt. Ohne Grenzen ist das Zusammenleben nicht möglich.
Ja, das stimmt. Meist führt die Sozialisation aber zu einer subtilen, sehr weitgehenden Unfreiheit. Wenn zum Beispiel Knaben nicht weinen dürfen, müssen sie Gefühle unterdrücken und werden dann zu Männern, die gefühllos einer Sache dienen. Intensive körperliche, aber auch psychische Schmerzen erwecken in jedem Menschen das Bedürfnis zu weinen. Werden der Schmerz und die Trauer nicht zugelassen, entsteht ein sozialisiertes sekundäres Selbst mit sekundären Gefühlen. Wir müssen jemand sein, der wir im Grunde nicht sind. Dann ist es mit der Freiheit vorbei, meist lebenslänglich. Die überwiegende Mehrheit der Menschen steckt in einer Konsensus-Trance. Das heisst, wir verhalten uns und denken entsprechend den offiziellen Werten und Normen, ohne uns dessen bewusst zu sein.
Was muss man sich darunter vorstellen?
Klassische Konsensus-Trancen sind Nationalität oder Religion. Oder auch wenn wir der Meinung sind, dass der Mensch von Natur aus aggressiv veranlagt sei. Das gilt nur in dem Sinne, dass wir uns bei Bedrohungen für unsere Selbst-Integrität einsetzen. Die als natürlich postulierte Gewalttätigkeit entsteht erst als Folge einer über die Zufügung von körperlichen oder psychischen Schmerzen erzwungene Erziehung. Gewalttätigkeit ist damit ein typisches Verhalten des Sekundärselbst. Egoverletzungen/Kränkungen führen, verstärkt durch eine kulturell indoktrinierende Konsensus-Trance, beinahe zwangsläufig zu Krieg und Terrorakten. Jede Untergruppe der Gesellschaft – auch Kinder – lebt neben der Hauptrealität ihre eigene Nebenrealität. Auch wir angeblich Bewussten leben sogar im Alltag meist in einem Traumzustand. Wir sind praktisch nie bewusst da. Wir sind zwar ständig am organisieren, aber so gut wie nie voll in der Gegenwart. Wir merken nicht, dass wir mehrheitlich in einer fremdbestimmten Welt der Konsensus Trance leben.
Und wo finden wir die Wirklichkeit?
Wenn wir im Hier und Jetzt leben. Meine Bezeichnung dafür ist die Zen-Realität, die seit Jahrtausenden von ein paar Wenigen wahrgenommen wird und die wir in der Meditation zu erreichen versuchen. Es ist die Universal-Realität, die im Hier und Jetzt stattfindet und auf die wir nichts projizieren. Die Wahrnehmung dieser tieferen – oder höheren – Wirklichkeit ist nichts Esoterisches, sie schlägt sich sogar in den Gehirnströmen nieder. Es ist ein Zustand der Gedankenfreiheit, wie es schon immer das Ziel des östlichen Weges war. Im Westen gehen wir einen ganz anderen Weg, den der Konzentration.
Unsere Gesellschaft betont die Individualisierung. Müssen wir an unseren Egos scheitern, um zu erkennen, dass das nicht der Weg ist?
Wir müssen das Ego zuerst stärken bevor wir es aufgeben können. Freiheit für sich zu erreichen, ist ein individueller Bewusstseinsprozess.
Wenn die Haupteinschränkung der Freiheit von der Sozialisation und der Konsensus-Trance kommt, dann müsste man doch dort ansetzen. Weniger Trance bedeutet doch auch, dass der Weg zur Freiheit leichter wird.
Dessen bin ich mir nicht so sicher. Der Weg der Befreiung durch Entsozialisation respektive Deprogrammierung ist immer mit grossem psychischem Schmerz verbunden. Es braucht einen gewissen Leidensdruck, um das in Kauf zu nehmen. Es klopft dir keiner auf die Schulter, wenn du für dich einstehst. Und man ist auch nicht sicher, ob es dann besser wird. Es ist ein sehr harter Weg.
Gibt es denn nicht auch einen Weg der Erkenntnis? Mit anderen Worten: Kann man mit dem Verstand seine Unfreiheit erkennen und Wege der Befreiung finden? Man sollte doch mit einer gewissen Logik, einer philosophischen Distanz an die Frage herangehen können.
Der Verstand ist eigentlich eine Ansammlung von eigenen Erfahrungen und von Konzepten, die wir von den Eltern und von der Gesellschaft übernommen haben. Die Freiheit des Verstandes ist meiner Ansicht nach nicht besonders gross. Über die Meditation gelingt es, dies zu erkennen und sich auf das einzulassen, was hinter dem Verstand liegt.
Das Denken ist also gar nicht so frei.
Das Denken ist vorwiegend eine Aktivität des Unbewussten. Das heisst wir spulen dabei auf ziemlich chaotische Weise unser individuelles Kinoprogramm ab.
Wie können Sie das wissen? Man kann doch mit dem Denken selber gar nicht feststellen, ob es frei ist oder nicht.
Schauen wir uns doch die Philosophen an. Was haben sie wirklich Neues herausgefunden? Jeder widerspricht dem anderen. Das bringt nichts. Die Meditation zeigt uns, dass der Verstand gar nicht so gescheit ist, wie wir meinen. Was hat der Verstand aus unserer Welt gemacht!
Die Welt ist bei aller versuchten Perfektion kein Produkt des Verstandes. Der Verstand wurde vielmehr dazu benutzt, den Egoismus zu perfektionieren. Der Verstand sollte aber auch zur Erkenntnis kommen: Zerstörung kann nicht gut sein.
Früher haben die Menschen gespürt, dass wir die Natur schützen müssen. Heute zerstören wir sie im vollen Wissen um die verheerenden Folgen.
Trotzdem glaube ich an die Vernunft. Wer heute die Welt zerstört, ist nicht vernünftig.
Das tun vor allem pseudobewusste Menschen in ihrem Konsumrausch. Die Meisten halten sich dabei für besonders vernünftig und werden in diesem Glauben auch noch durch Likes von Anderen unterstützt.
Dies ist kein Beweis für die Mängel der Vernunft, sondern allenfalls für das Überwiegen anderer Kräfte: systemische Zwänge, Gier, Angst, vielleicht sogar eine Portion Satanismus. Erkenntnis durch den Verstand ist für mich trotz allem grundsätzlich möglich.
Erkenntnis kommt nicht aus dem Verstand, sondern aus der bewussten Eigenwahrnehmung des Primärselbst. Dieses weiss genau, was gut und was richtig wäre. Dagegen entfernt uns das Sekundärselbst über den mit der Sozialisation verknüpften Liebesentzug dermassen von uns selber, dass wir gar nicht mehr spüren, was uns fehlt. Wir kompensieren dann durch Konsum, Ablenkung, Sucht und Macht. Das körperlich sichtbare Resultat sind Blockaden, die sich vor allem in einer eingeschränkten Atmung und in Muskelverspannungen manifestieren.
Sie sagen, nur das Individuum könne sich aus dieser Trance befreien. Aber Sie waren ja selber bei Osho in einer Kommune.
Sich allein aus dieser Trance zu befreien, ist schwierig. Eine Kommune kann da auf Zeit Hilfe bieten, solange sie nicht selber indoktriniert. Das Heikle ist bei sich selber bleiben zu können und nicht blindlings die Gruppenrealität zu übernehmen. Was wir in der Diskussion bisher vergessen haben: Wer an die Reinkarnation glaubt, hat mehrere Leben zur Verfügung, er kann leichter experimentieren. Der Tod ist dann nicht das Ende, an dem alles erreicht sein muss.
Warum gibt es keine Schneider-Therapie, um sich aus der Konsensus-Trance zu befreien?
Weil ich aus eigener Erfahrung weiss, wie schwierig dieser Weg ist. Insbesondere bin ich gezwungen, die Verdrängungskaskade bis hin zu den frühen psychischen Schmerzen zu gehen. Wenn ich es schaffe, mit mir selber ins Reine zu kommen, habe ich mehr für die Allgemeinheit getan, als wenn ich Anderen auf einem Weg zu helfen vorgebe, den jeder schlussendlich selber gehen muss: Jeder muss sein eigenes inneres Licht wahrnehmen. Und man kann natürlich mein Buch lesen, aus dem sich therapeutische Konsequenzen ergeben. Es zeigt unter anderem die Zusammenhänge zwischen primärem und sekundärem Selbst sowie die Wirkung der Konsensus-Trance.
Vielen Dank für das Gespräch.
Kurt E. Schneider (82) ist Arzt aus Zürich und lebt heute in Thun. Er stieg nach einer Karriere als Chirurg und plastischer Chirurg in die Psychotherapie um und entwickelte aufgrund seiner Beobachtungen das Konzept des Primär- und des Sekundärselbst, ausführlich beschrieben in:
Kurt E. Schneider: Liebe und Schmerz –ein Schlüssel zur Gefühlswelt. Schwabe, 2002.
270 S. Fr. 59.90.
____________
Mehr zum Thema im Schwerpunktheft «frei | gefangen»
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können