Die ruhige Beschaulichkeit
Die Ambiance eines Wiener Kaffeehauses ist in anderen Städten nicht leicht zu finden, auf dem Lande erst recht nicht. In Basel allerdings gibt es einen Ort, der den Wiener Charme – angepasst an die Bedürfnisse eines multikulturellen Quartiers – aufleben lässt: das Café Jêle.
Das Kaffeehaus ist ein Ort, «in dem Zeit und Raum konsumiert werden, aber nur der Kaffee auf der Rechnung steht». So heisst es auf einer Seite des Klubs Wiener Kaffeehausbesitzer. Die Geschichte des Wiener Kaffeehauses begann gegen Ende des 17. Jahrhunderts, doch erst 1856 erhielten endlich auch Frauen Zutritt. So entstanden Orte der transnationalen literarischen Kommunikation, die auch in der Politik eine nicht unwesentliche Rolle spielten. 2011 wurde die Wiener Kaffeehauskultur in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes durch die Unesco-Kommission aufgenommen. Ein Kaffeehaus ist insofern viel mehr als ein Ort, um schnell einen Kaffee zu kippen und eine Zeitung zu überfliegen.
Frauen wird man übrigens im Personal nicht finden. Das zeigt: Hier werden altmodische Sitten streng gehütet.
Die Zeit scheint stillzustehen
Typisch für solche Kaffeehäuser in Wien ist, dass man sich stundenlang bei einem «kleinen Braunen» aufhält – wobei mit dem «Braunen» nicht das derzeitige Politklima angedeutet wird. Hier sieht man eher Geschäftsleute als Hipster bei der Arbeit. Die Zeit scheint stillzustehen, eine modische Kaffeeröstung wird nicht zum Thema. Bestellt jemand aus dem Ausland einen Cappuccino, wird sofort klar, dass diese Person keine Ahnung hat, denn korrekt wäre, eine Melange zu bestellen. Der grosse Unterschied besteht in der Bezeichnung, der kleine: Die Melange verbirgt einen Mokka unter dem Milchschaum, während der Cappuccino mit einem Espresso gemacht wird und darum etwas stärker ist. Die Kellner sollten prinzipiell grantig sein, sonst wären sie völlig fehl am Platz. Frauen wird man übrigens keine im Personal finden. All das zeigt schon: Hier werden altmodische Sitten streng gehütet. Dies wird auch deutlich aus den Schlagzeilen, die das «Prückel» – ein Kaffeehaus mit originalem Interieur aus den 1950er-Jahren – machte: 2015 wurden zwei Lesben, die sich küssten, aus dem Lokal gewiesen.
Ein Kaffeehaus ist eine stille Aufforderung, sich ausgiebig in Zeitungen zu vertiefen. Im Café Central lagen früher über 200 Zeitungen auf, und ein Zeitungskellner kümmerte sich nur um deren Ordnung.
Aber selbst Wien wird nicht vor dem Einzug der Handys und starren Blicke auf Bildschirme bewahrt. So betonte Herr Robert, ein berühmter Kellner aus dem «Landtmann», die guten alten Zeiten seien jene gewesen, in denen «Zeit» eben gerade noch kein Begriff war: «Die Gäste, die schon weg sind, bevor sie überhaupt eintreffen, die vermehren sich wie die Hasen. Die wollen ihren Tafelspitz schon vor der Bestellung verspeist haben. Na, na – so geht’s ned. Das ist kein Leben, das ist eine Hetz.»
Das Café als Ort der Vermittlung und Kommunikation
Ein Besuch im Basler Café Jêle erinnert an die Wiener Kaffeehausszene; die Dezemberausstellung zeigte passend Fotografien von Mojmir Hanak mit Impressionen aus den Wiener Kaffeehäusern. Ein Foto zeigt das noble Schild: «Bitte kein Handy». Der Betreiber Celâl Düzgün, ein Soziologe mit ostanatolischen Wurzeln, hat zwei Jahre in der österreichischen Metropole studiert und liess sich von der dortigen Kaffeekultur anregen. Wie eine Biene habe er in Istanbul und Wien seinen Nektar gesammelt und nun entstehe sein ganz persönlicher Honig in seinem Café im Quartier St. Johann. Was Celâl Düzgün schafft, ist in Schweizer Städten eine Rarität: eine inspirierende Atmosphäre, in der man gut denken, reden und zuhören oder schreiben kann. In vier Jahren hat er einen interkulturellen Treffpunkt für Jung und Alt geschaffen. Das Programm umfasst Lesungen, philosophische Runden, Konzerte oder auch mal eine Weindegustation. Bringt jemand ein Musikinstrument mit, wird spontan musiziert, der Betreiber lässt gern alle mitgestalten. Der einmalige Kaffee Jêle (ausgesprochen wie «Gelée»), benannt nach einem Berg in der Region Dersim in Ostanatolien, wird mit einem übergrossen Milchschaumberg nach Wienertradition samt Silbertablett auf dem Marmortisch serviert. Aber grantig ist hier niemand, und anders als in Wien sind alle Menschen herzlich willkommen, auch Kinder.
_____
Mehr zum Thema «Stadt | Land» in Zeitpunkt 154
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können