Sehnsuchtsort – was ist aus dir geworden?

Der exzessive Tourismus ruiniert, was uns eigentlich lieb ist.

Same same but different. Instagrambilder des Aescher-Wildkirchli.

Es war einmal eine kleine Wirtschaft in den Bergen, gleich beim beliebten Ausflugsziel Wildkirchli im Appenzellerland. Wer als Kind dort war, erinnert sich vielleicht an die Höhle mit den prähistorischen Funden, die so schön gruselig ist. Ausflügler, die von der Seilbahnstation Ebenalp kommen, durchqueren sie auf dem Weg zum Berggasthaus Aescher-Wildkirchli, das so dicht an den senkrecht aufragenden Felsen gebaut wurde, dass dieser sogar im Innern zu sehen ist. Die pittoreske, etwas windschiefe Berghütte wurde schon im 19. Jahrhundert gerne besucht – wie andere Berggasthäuser, in denen man eine gute Rösti essen kann, war sie bei Wanderern beliebt. Bis 2015 ein Bild des Hauses auf dem Titelbild von National Geographic erschien – der Rest ist bekannt. Die Wirtschaft wurde zu einem der 225 «most amazing places» der Welt gekürt, und mit der Beschaulichkeit war es vorbei. Touristen ganz anderer Art als zuvor strömten an den Ort, das langjährige Pächterpaar gab auf. Ein neues ist zwar jetzt gefunden, doch im «Aescher» ist von Gipfelromantik nicht mehr viel zu spüren.

Szenenwechsel in eine Stadt, die auch einmal eine romantische Kulisse bot, bevor sie von Touristen überrollt wurde. Wobei «Kulisse» ein heikler Begriff ist, denn genau dazu verkommen die ehemaligen Sehnsuchtsorte immer mehr: zu Kulissen für Selfie-Süchtige. Die Rede ist von Venedig, dieser schönen, einst so stolzen und leider auch sehr fragilen Stadt an der Lagune. Wer jüngst in Venedig war, erinnert sich sicher an den gespenstisch surrealen Anblick, den die langsam vor der Anlegestelle am Markusplatz vorbeiziehenden Kreuzfahrtschiffe bieten: Kolosse vor venezianischem Zierrat. Ihr Wellenschlag höhlt die Fundamente aus und die Abgase aus den riesigen Schloten liegen schwer über den bröckelnden Palazzi.

Dreissig Millionen Menschen sollen sich inzwischen jährlich durch die Gassen der alten Stadt quetschen – bei noch gerade mal rund 56 000 Einwohnern. Im Zentrum zu wohnen ist keine Freude, wenn Touristengruppen den Weg zur Arbeit versperren, die Preise in den Restaurants steigen oder der Bäcker einem Souvenirshop weicht. Ja, falls man sich eine Wohnung hier überhaupt noch leisten kann – als «Touristifizierung» wird diese Veränderung der Infrastruktur bezeichnet, und es hört sich nicht zufälligerweise ähnlich an wie «Gentrifizierung».

Nicht nur die in Gruppen einfallenden Tagestouristen machen Orten wie Venedig zu schaffen, auch die Individualtouristen sind zum Problem geworden. Während Gruppenreisende verlässlich die Sehenswürdigkeiten ansteuern, sind Individualtouristen unberechenbar – und logieren womöglich gerne authentisch wie Einheimische in einem Airbnb-Appartement mitten im Zentrum, was die dortigen Wohnungspreise in die Höhe treibt. Spätestens wenn die Reiseindividualisten merken, dass sie da nur noch unter sich sind, ist es mit dem Reiz des zentralen Logis aber vorbei.

Reisen ist rastlos geworden. Früher weilten Gäste drei Wochen oder länger in der Sommerfrische, heute reist man zwar öfter, bleibt aber weniger lang. Im schlimmsten Fall werden Touristen von Reiseveranstaltern rasch mal zu den Plätzen gekarrt, die man angeblich gesehen haben muss – und die Gastgeber haben das Nachsehen, denn konsumiert wird dabei nichts. Mit Kontingenten, Eintrittsgeldern, Rollkoffer-Verboten und anderen hilflos wirkenden Massnahmen versuchen inzwischen einige Städte, den Massenansturm zu kanalisieren und die aufgebrachten Einwohner zu besänftigen.

Gleichzeitig locken Facebook und Co. Menschen in Massen, gefühlt individuell an geheime Lieblingsplätze, die es dann natürlich nicht mehr lange bleiben. Postet ein Influencer ein Bild einer Location, wollen andere auch dorthin, um auf ihrem Instagram-Account damit angeben zu können. Unvorhersehbar werden so plötzlich irgendwelche Orte überrannt; selbst ein Foto des Infinity-Pools eines Hotels über dem Vierwaldstättersee kann einen Ansturm auslösen. Wo viele sind, da wollen noch mehr hin, so scheint es – doch spätestens, wenn aus dem Traumziel eine Art Disneyland geworden ist, wenn Fastfood in historischen Kulissen die lokalen Traditionen verdrängt hat, wird wohl auch der hartgesottenste Tourist merken, dass er, frei nach Hans Magnus Enzensberger, genau das ruiniert, was er eigentlich gesucht hat.     

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