«Ein guter, getriggerter Abend»
Woher die gesellschaftlichen Eisschichten kommen, die den Diskurs verhindern, wie wir sie langsam aufweichen könnten, wer das verhindern will und was dabei manchmal herauskommt. Die Samstags-Kolumne.
Eine Studie ergab Folgendes: Die meisten Menschen glauben etwas nicht unbedingt, wenn sie es geprüft haben und für richtig befinden. Sondern wenn es von Menschen oder einer Gruppe stammt, denen sie sich verbunden fühlen. Wenn sie z.B. derselben Partei, derselben Region, derselben Familie entstammen.
Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Die meisten Menschen stellen also Bindung über Wahrheit.
Verständlich. Denn damit folgen sie einer archaischen Erfahrung: In den meisten Vergangenheiten riskierte man Kopf und Kragen, Vertreibung und Verbannung, wenn man sich dem Gemeinwesen widersetzte oder einem Clanchef widersprach. Die Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem Reich, einer Religion waren Garantie für Sicherheit und Überleben. Deshalb galt: «Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.»
Wenn wir das Lied der Bindung aber nicht nur «singen», sondern es tatsächlich denken und verinnerlichen, dann geben wir das Kostbarste auf, was wir haben: unseren gesunden, ethischen Kern. Das innere Gefühl für Richtig und Falsch und unsere Verantwortung, danach zu leben und zu handeln.
Diese innere Instanz ist unsere wirkungsvollste Garantie für Demokratie und gegen Manipulation. Es bewahrt uns vor toxischen Beziehungen, Abhängigkeit und sektenartigen Strukturen.
Zugegeben ist es nicht immer komfortabel, dieses freie, fühlende, denkende – selbständige – Ich zu besitzen. Manch einer bleibt lieber im warmen Nest seiner Meinungs-Peergroup, in der man sich weitgehend einig ist und gut fühlt – und lästert gemeinsam über die Dummheit derer, die das Gegenteil behaupten. Die Wohlfühl-Echokammern all dieser «einzigen» Wahrheiten entfernen sich immer weiter voneinander. Bis man in einer Spiegelwelt lauter Binnenwahrheiten umhertappt, die nur aufgrund gegenseitiger Bestätigung existieren. Denn man redet nicht mehr mit, sondern nur noch über die Menschen der anderen Spiegelwelten.
Kann es sein, dass ein Teil der unangenehmen Gefühle ganz schlicht darin besteht, etwas Neues zu lernen?
Um so wertvoller sind die Gelegenheiten, wo man sich meinungsübergreifend verständigt oder es wenigstens versucht. So einer Gelegenheit durfte ich vor einigen Tagen beiwohnen. Ich besuchte in Berlin eine Aufzeichnung von «Fairtalk»: In den alten Gemäuern der Musikbrauerei im Prenzlauer Berg debattierten drei Männer mit Migrationshintergrund und zwei deutsche Männer zum Thema Migration.
Für mich persönlich ist das Thema Flüchtlinge so aufgeladen wie für andere das Klima oder Corona: Die Schwelle, wo mir eine Diskussion unangenehm wird, wo ich die andere Seite als «rechts» oder sonstwas verdächtige und am liebsten rausrennen möchte, ist recht niedrig.
Zu meinem Hintergrund: Ich habe 2015 auf Lesbos verfrorenen Menschen aus Booten geholfen. Es waren Hunderte, jeden Tag. Familien aus Syrien und Afghanistan, Kurden aus der Türkei, Nordafrikaner, Iraner. Sie hatten alles hinter sich gelassen und das Risiko des Ertrinkens auf sich genommen, um nach Europa zu kommen. Das waren keine Terroristen, das waren Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hatte. Die so genannte Grenzsicherung hat das Mittelmeer zum Massengrab gemacht. Sehen die, die die Festung Europa verteidigen, denn nicht, dass wir jahrzehntelang vom Export der Waffen gelebt haben, die ihre Heimatländer zerstört haben? Ich bin damals für die Öffnung aller Grenzen eingetreten, aus humanitären Gründen – und für ein Ende aller Kriege.
Ich vermute, dass an dieser Stelle einige meiner Leser jetzt ebenso emotional auf mich reagieren, wie ich es umgekehrt selbst erlebte. Was machten die vier Talkgäste und ihr Moderator daraus?
Talkshows ohne Frauen haben den Vorteil, dass kein Feigenblatt vor den Mund genommen wird. Mann fällt sich ins Wort, wird laut, widerspricht sich, versucht, schneller, höher, weiter zu sprechen als das Gegenüber – und beteuert zwischendurch ganz kollegial, dass es voll in Ordnung sei, anderer Meinung zu sein.
Der Nachteil ist, dass das testosteron-gesättigte, feurige Schnellsprechen einen Teil des Gesagten für die Zuschauer unverständlich macht. Das ist aber sowieso immer der Fall, wenn Ken Jebsen dabei ist.
Einen Eindruck kann ich jedenfalls von allen Teilnehmern wiedergeben: Sie gehen mit offenen Visier in die Diskussion, schonen sich nicht, versuchen herauszuarbeiten, wo sie sich unterscheiden, korrigieren, widersprechen wollen – wo sie sich aber auch zustimmen.
Nikolai Binner – neben dem Moderator Jens Lehrich der einzige Deutschstämmige – bekennt bald, dass die drei Männer mit Migrationshintergrund besser deutsch sprechen und offensichtlich besser intergriert sind als er. Der Komiker, dessen Youtube-Videos ich während der Corona-Zeit genossen hatte, bringt allerdings genau die Meinungen, die mich triggern: Dass zu viele Migranten kämen. Dass unser Deutsch-Sein bedroht sei, wenn wir so überfremdet werden. Es sei erwiesen, behauptet er, dass 50% aller Gruppenvergewaltigungen von jungen muslimischen Männern in Deutschland ausgeführt würden. Das solle man nicht schönreden. Man solle die Grenzen besser sichern und die Menschen, wenn sie ihr Gastrecht verletzten, kurzerhand wieder zurückschicken.
Zurück wohin? fragt Moderator Jens Lehrich dankenswerter Weise.
«Nach Hause.»
Und was, wenn dieses Zuhause zerstört ist? Wenn es zerbombt ist – unter anderem mit deutschen Waffen?
Andererseits: Rechtfertigt eine zerstörte Heimat Gruppenvergewaltigungen?
Nein.
Was also tun?
Die Statistiken seien undifferenziert und tendenziös, sie verschleierten die Wirklichkeit, meint der Musikproduzent und Rapper B-Lash, der sich auf seinem Handy Zahlen und Argumente mitgebracht hat. Er führt aus zum Aufwachsen im Ghetto, zur Gewalt der verschiedenen Gangs untereinander und zur Einigkeit im Kampf gegen Naziaufmärsche.
Kayvan Soufi-Siavash (alias Ken Jebsen) meint, jeder, der etwas Kriminelles macht, ist kriminell und muss die Konsequenzen spüren, egal aus welchem Land er kommt. Aber wenn wir schon Kriminelle in ihre Länder zurückschicken wollen, dann sollten wir doch bei den Amerikanern anfangen. Schliesslich hätten deren Kriege die Flüchtlinge erzeugt, mit denen wir nun klarkommen müssten. Wo waren denn all diejenigen, die jetzt eine harte Konsequenz bei Migranten forderten, als gegen Ramstein demonstriert wurde?
(Ich glaube wenigstens, dass er das gesagt hat – wie gesagt, Schnellsprech.)
Er erzählt, wie ihm als Schüler der Waldorfschule Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Kulturen beigebracht wurde. «Dieses Deutschland finde ich aber heute nicht mehr, spätestens seit Corona.»
Die Argumente wogen bald hin und her. Sind Kriegstraumatisierungen schuld an der Kriminalität vieler Geflüchteter? Oder der Kulturschock? Oder schlicht der Islam mit seiner Frauenfeindlichkeit? Aber was ist dann mit den Gewaltaufrufen in der Bibel? Und warum ist kein islamisches Land unter den gewaltreichsten Ländern der Erde? Wird da überhaupt mit gleichen Massstäben gewertet?
Können wir unsere deutsche Identität retten, wenn wir die Zahl der Migranten verringern? Oder leben wir ohnehin in einer Welt, in der sich die Kulturen auf vielen Ebenen annähern, zusammenfliessen, vermischen – ob mit Migranten oder ohne?
Ist die bessere Sicherung von Grenzen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit – oder Vernunft und gesundes Selbstbewusstsein – etwas, das uns Deutschen immer noch abgeht?
Einig scheinen sich die Teilnehmer immerhin darin zu sein, dass die Flüchtlingskrise herbeigeführt wurde, um zu mächtig gewordene Länder zu schwächen – die «Migrationswaffe».
Mir kräuseln sich die Zehennägel bei so viel deutscher Selbstzufriedenheit.
Die diskutierenden Männer sind mir in ihrer Art zu reden und ihren Ansichten unterschiedlich sympathisch. Am meisten triggert mich der pakistanisch-stämmige Feroz Khan, dessen Beiträge ich als kleinkariert und islamophob empfinde. Noch unangenehmer empfinde ich den frenetischen Applaus nach jeder seiner Aussagen. Mir kräuseln sich die Zehennägel bei so viel deutscher Selbstzufriedenheit – ich höre aber auch, wie merkwürdig diese ebenfalls typisch deutsche Selbstkritik den Migranten erscheint.
Moderator Jens Lehrich beginnt nach und nach, einige wohltuende Akzente zu setzen. Es berührt mich, wie er immer wieder die Stimme der Menschlichkeit einbringt. «Was könnte denn eine Lösung sein? Was können wir tun?»
Tatsächlich wird die Runde nach und nach «konstruktiver» – man hört sich zu, macht Vorschläge, es geht um Medien etc. Ja. Alles wichtig. Das eigentlich Wichtige für mich heute Abend ist aber, dass wir diese unangenehme Hemmschwelle überwinden, wegen derer wir Diskurse mit Trägern anderer Meinungen vermeiden. Dass wir die unbequemen Gefühle dabei aushalten und die eigene Meinung überprüfen.
Kann es sein, dass ein Teil der unangenehmen Gefühle ganz schlicht darin besteht, etwas Neues zu lernen? Erinnern wir uns: Es war einmal lebensbedrohlich, eine andere Meinung zu haben. Heute ist es aber für uns alle global lebensbedrohlich, wenn wir starr bei den Mehrheitsmeinungen bleiben. Wir müssen uns bewegen – aber ohne unseren inneren Kern zu übergehen!
Ich habe jedenfalls an diesem Abend einiges Neue gelernt. Das ändert nichts an meinen Grundwerten von Mitgefühl und meiner Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen. Aber Mitgefühl allein reicht allein nicht aus, um die komplexen Zusammenhänge, die zur Flüchtlingskrise führten, zu bewerten und mögliche Lösungen zu finden.
Mein Fazit des Abends ist: Ja – ich kann mit Andersdenkenden sprechen, ohne meinen ethischen Kern in Frage zu stellen. Und ja: Der Versuch, einander zu verstehen, öffnet mich für neue Perspektiven.
Als ich die Musikbrauerei verliess – ich musste wegen der letzten Bahn etwas vor dem Ende weggehen – empfing mich vor der Tür ein grosses Polizeiaufgebot. Bis vor wenigen Minuten muss hier die Antifa Parolen «gegen rechts» skandiert haben. Ich solle einen anderen Weg nehmen, damit ich nicht von ihnen identifiziert und verfolgt werden könnte.
Natürlich, die Antifa. Berliner Lokalkolorit. Aber es ist mehr: Die Antifa mit ihrer Wut und Gewaltbereitschaft ist Teil eines gesellschaftlichen Mechanismus, der genau das verhindern soll, was ich heute Abend als so wertvoll erlebt habe: Dass wir wieder ins Gespräch kommen, uns zuhören, neue Wege finden und als Gesellschaft heilen können.
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