Die Schweiz braucht einen Neustart

Unsere Art des Zusammenlebens und Wirtschaftens ist weltweit und auch in unserem Land in eine Sackgasse geraten. Unsere so genannte Wirtschaft enthüllt sich immer mehr als ein blosses Instrument einer verschwindend kleinen globalen Oligarchie, die ihre Profite um jeden Preis aufrechterhalten will (15 Prozent der Weltbevölkerung besitzen 85 Prozent des Weltvermögens). Zu diesem Zweck werden wir mit gegenseitiger Konkurrenzierung, Arbeitsstress, Anonymisierung und Isolation daran gehindert, einen globalen Haushalt aufzubauen, der allen ein gerechtes und gutes Leben ermöglicht. Nicht nur funktioniert diese oligarchische Wirtschaftsweise nicht, sie zerstört auch die sozialen und ökologischen Grundlagen unseres Planeten.

Ein Ausweg aus der ökologischen und sozialen Sackgasse kann nicht mit ein paar technologischen Tricks gefunden werden. Es gibt in absehbarer Zukunft keine nachhaltigen Energiequellen, die das heutige Verbrauchsniveau aufrechterhalten können. Wir müssen also daran gehen, eine Lebensweise aufzubauen, die auf sozialen Beziehungen basiert, die es uns ermöglichen mit uns und dem Planeten wirklich haushälterisch umzugehen.
Wir sind uns bewusst, dass eine Umkehr in einem kleinen Land isoliert nicht möglich ist, sondern auf globale Veränderungen angewiesen ist. Diese sind überall in verschiedensten Formen im Gang. Mit einem Neustart in einem der reichsten Länder könnten wir aber einen wichtigen Beitrag leisten und ein begeisterndes Signal setzen.

Eine weltverträgliche Lebensweise muss auf einem Energieverbrauch von 1000 Watt und auf einem Einkommen, das mindestens einen Drittel unter unserem heutigen liegt, beruhen. Ökologie und soziale Gerechtigkeit können nur als Einheit funktionieren. Eine nachhaltige und friedliche Welt gibt es nur mit mehr Gleichheit. Es wird für einige wenige weniger geben, für die meisten viel mehr.

Der neue globale Haushalt beginnt in unseren Nachbarschaften, die so vernetzt und umgebaut werden müssen, dass eine gemeinschaftliche Nutzung von Gütern (Wohnen, Lebensmittel, Haushaltapparate usw.) ohne Verzicht auf eine hohe Lebensqualität möglich wird. Durch die Zusammenarbeit mit Bauernhöfen der Umgebung (Vertragslandwirtschaft) kann eine Nahrungsmittelversorgung gewährleistet werden, die auf direkten Kontakten und Mitarbeit beruht. Diese Stadt/Land-Verknüpfung wird sowohl das Leben auf dem Land wie in der Stadt bereichern. Auch sie ist global der einzige Weg in die Zukunft.

Unsere Stadtquartiere und Landregionen müssen so zu Basisgemeinden umgestaltet werden, dass sie alle alltäglichen Güter und Dienstleistungen in Fuss- oder Velodistanz anbieten können. Nur so lässt sich eine erzwungene Mobilität reduzieren, die viel Energie verschlingt und erst noch keinen Spass macht. Quartiere und Landstädte sollen vielfältige Zentren haben, die einen erweiterten Service Public zu erbringen vermögen.  Lebenswichtige Industrien und Dienstleistungsbetriebe müssen aus der erstickenden Umarmung durch die profitorientierte Wirtschaft befreit und auf eine öffentliche und/oder genossenschaftliche Basis gestellt werden. Schon aus ökologischen Gründen müssen demokratische Planungsmechanismen eingerichtet werden, die im Dialog zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen funktionieren.  Wir können uns die Verschwendungen der Marktmisswirtschaft ganz einfach nicht mehr leisten.

Für ein kleines Land wie die Schweiz genügen 600 Gemeinden und 7 Regionen als Verwaltungseinheiten. Mit diesen zwei Lebensbereichen, und einer minimalen Territorialverwaltung, können alle wichtigen Aufgaben wie Verkehr, Energie, Ausbildung, Gesundheit, Sicherheit, Sozialversicherungen, Steuer- und Finanzwesen usw. rationell und bürgernah wahrgenommen werden.  

Durch die Senkung unserer Lebenskosten, mehr Selbstverwaltung an der Basis und einen aufs Nötigste beschränkten Staat können Mittel frei gemacht werden für eine erweiterte Entwicklungszusammenarbeit, die einen wirkungsvollen Beitrag zur Lösung der globalen Ungerechtigkeiten leistet. Was wir nicht mehr brauchen, kann für andere überlebenswichtig sein.

Was bedeutet all das konkret für politische und gesellschaftliche Verantwortungsträger?
Auf Gemeindeebene werden Initiativen zum Umbau und Ausbau von Nachbarschaften und ihre Verknüpfung mit Landwirtschaftsbetrieben gezielt unterstützt, finanziell, organisatorisch und mit Know- How. Vertragslandwirtschaftliche Organisationen brauchen zum Beispiel Nachbarschaftsdepots, die mit Kühlräumen ausgestattet werden müssen. Der Aufbau dieser nachhaltigen Logistik ist eine Gemeindeaufgabe. Die Gründung und Unterstützung eines öffentlichen Wohnungsbaus, der Nachbarschaften zu sozial funktionierenden Einheiten macht, erfordert finanzielle Zuschüsse von Gemeinden und Kantonen.

Der Zusammenschluss von Kleingemeinden zu funktionierenden Basisgemeinden darf nicht nur eine administrative Funktion haben, sondern muss zu  lebenswerten Quartierzentren, Stadtzentren oder ländlichen Zentren führen. Vor allem Lernzentren für alle (Primarschule bis Erwachsenenbildung) werden solche Zentren kulturell beleben. Die öffentlichen Dienste dürfen auf keinen Fall abgebaut, sondern müssen so ausgebaut werden, dass der Existenzbedarf der Bevölkerung unabhängig von den Schwankungen des Marktes garantiert wird.  Aus dem Service public wird ein Service général entwickelt, der die Grundbedürfnisse demokratisch bestimmt deckt.

Veränderungen an der Basis laufen immer wieder ins Leere, wenn nicht gleichzeitig auf nationaler Ebene ein Neustart, ein New Swiss Deal, stattfindet. Vertreter von Staat, Unternehmungen und Lohnabhängigen müssen sich zusammensetzen und einen neuen Grundvertrag abschliessen, der einen Neustart ermöglicht. Der Umbau der Nachbarschaften benötigt, verteilt auf mehrere Jahre, 70 Milliarden Franken, der Ausbau der Basisgemeinden nochmals 50 Milliarden Franken. Für die Entwicklungszusammenarbeit müssen mittelfristig zwischen 10 bis 20 Milliarden Franken pro Jahr eingesetzt werden. Neben den ordentlichen Staatsausgaben braucht es einen Neustart-Fonds, der aus Lohnabgaben, Beiträgen der Unternehmen und des Staats gespeist wird.

Neustart Schweiz setzt nicht auf einen imaginären Sprung in eine ferne Zukunft, sondern knüpft an bestehende Strukturen und Institutionen an. In einem gewissen Sinn hat der Neustart in der Schweiz schon längst begonnen. Kooperative Nachbarschaften existieren heute schon als Genossenschaftssiedlungen, als städtische Projekte, oder  entstehen spontan aus Bürgerinitiativen. Sie müssen nur verallgemeinert werden. Vertragslandwirtschaftliche Projekte gibt es schon seit Jahren und sie verbreiten sich momentan. Genossenschaften zur nachhaltigen Nutzung oder Produktion von Gemeingütern haben in der Schweiz eine lange Tradition (siehe z.B. die Alp-Korporationen). Der Zusammenschluss von Kleingemeinden zu Basisgemeinden ist vielerorts im Gang, auch hier braucht es nur das Umschalten in einen höheren Gang. Die Wichtigkeit eines starken Service Public wird nach den katastrophalen Fehlleistungen der Privatisierungen wieder entdeckt. Die Krise des „dualen“ Bildungssystems wird immer offensichtlicher. Der Zugang aller zu einer umfassenden Allgemeinbildung (vor einer spezialisierten Berufsausbildung) ist eine Bedingung für lebenslanges Lernen und für die Beteiligung an demokratischen Verfahren. Eine Reihe von weiteren Themen, vom Gesundheitswesen über die Sozialversicherungen bis zur Armee, befindet sich in einem inneren Zusammenhang mit dem Projekt Neustart Schweiz. Das Verfahren eines New Deal schliesslich basiert auf  der schweizerischen Tradition der staatlich moderierten sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen, die zu Gesamtarbeitsverträgen, der AHV und anderen Institutionen geführt hat.

Neustart Schweiz liefert eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten für politische Initiativen auf allen Ebenen. Das Zusammenwirken solcher Initiativen macht den Neustart aus.
Die anstehenden Wahlen von 2011 bieten die nächste Chance, PolitikerInnen zu wählen, die in diesem Sinn aktiv werden wollen. Doch sind Vorstösse zu Neustart-Themen jederzeit möglich. Wir brauchen keine neue Partei um einen Neustart zu schaffen. Wir brauchen PolitikerInnen in allen Parteien, die überhaupt Schritt halten können mit den Neustartbewegungen, die überall entstehen. Die Krise ist nur vorübergehend gebannt, wir stehen an einem Wendepunkt. Wir sind bereit. Konstruktiv und vernünftig, aber radikal.

www.neustartschweiz.ch

P.M. ist der Autor des Buches «Neustart Schweiz» (Neuauflage in Vorbeitung) und zwahlreicher belletristischer Werke.
17. April 2010
von: