Rechtssicherheit zu 5G-Antennen: Ohne Bewilligung darf nicht auf 5G mit adaptiven Antennen umgerüstet werden

Dürfen Mobilfunksendeanlagen, die bisher mit GSM, UMTS oder LTE funkten, einfach auf adaptive 5G-Antennen mit sogenanntem Korrekturfaktor umgestellt werden? In der Schweiz klagten Anwohner in der Stadt Wil bei St. Gallen dagegen und bekamen recht: Es braucht ein ordentliches Bewilligungsverfahren, wenn der adaptive Betrieb mit einer Erhöhung der abgestrahlten Sendeleistung verbunden ist.

Foto: diagnose-funk

Über das Bundesgerichtsurteil berichten verschiedene Homepages wie beispielsweise www.diagnose-funk.ch,www.strahlungsfrei.ch und das Portal www.infosperber.ch

Strahlungsfrei.ch: In seinem aktuellen Leiturteil 1C_506/2023 vom 23. April 2024 hat das Bundesgericht die rechtliche Situation bezüglich 5G-Antennen geklärt. Die Aufnahme des adaptiven Betriebs mit sogenanntem Korrekturfaktor und in Verbindung mit einer Erhöhung der abgestrahlten Sendeleistung erfordert ein ordentliches Baubewilligungsverfahren mit Einsprachemöglichkeit der betroffenen Bevölkerung.[i] Die Praxis gewisser Kantone, die Zulassung im sogenannten Bagatellverfahren ohne grossen Aufwand und unter Missachtung der Rechte der Bevölkerung durchgehen zu lassen sei deshalb rechtswidrig.

In Abstützung auf ein von der Konferenz der kantonalen Bau- und Umweltdirektoren in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass es für die nachträgliche Umstellung von 5G-Antennen auf adaptiven Betrieb mit Korrekturfaktor (technisch als Beamforming mit massive MIMO bezeichnet) ein ordentliches Baubewilligungsverfahren mit Einsprachemöglichkeit braucht. Es handle sich um eine erhebliche Mehrbelastung der Betroffenen mit gesundheitsschädlicher Funkstrahlung und aus diesem Grund müsste ihnen aus rechtsstaatlichen Gründen die Möglichkeit zur Einsprache gewährt werden. Dieses Leiturteil zeichnete sich bereits in früheren Entscheiden des Bundesgerichts ab und ist in Fachkreisen deshalb so erwartet worden.

Aus dem Urteil:

Mit Schreiben vom 4. Juli 2022 reichte die Swisscom bei der politischen Gemeinde Wil erneut die Standortdatenblätter vom 2. und 3. Juni 2021 betreffend die Mobilfunkanlagen WITZ und WIBR ein und beantragte den Erlass je einer anfechtbaren Verfügung, für den Fall, dass für die Anwendung des Korrekturfaktors die Einreichung eines ordentlichen Baugesuchs verlangt werde. Für die Mobilfunkanlage WIAB reichte die Swisscom am 5. Juli 2022 ein neues Standortdatenblatt vom 4. Mai 2022 unter Anwendung des Korrekturfaktors ein. 
Die politische Gemeinde Wil verfügte am 18. Juli 2022, der vom jeweils letzten aktiven Standortdatenblatt abweichende Betrieb der Mobilfunkanlagen WIAB, WITZ und WIBR sei einzustellen. Einem allfälligen Rekurs entzog sie die aufschiebende Wirkung. 
Dagegen rekurrierte die Swisscom am 25. Juli 2022 an das Bau- und Umweltdepartement des Kantons St. Gallen (nachfolgend: Departement). Dieses vereinigte die drei Verfahren und wies die Rekurse am 10. Januar 2023 ab. Einer allfälligen Beschwerde entzog es die aufschiebende Wirkung.

Das Rechtsgutachten erweist sich im Nachhinein als Bumerang für gewisse Kantone, welche sich möglichst wenig Arbeit mit Baugesuchen erhofften und nicht sonderlich am Schutz ihrer Bevölkerung vor gesundheitsschädlicher Funkstrahlung und deren Rechte interessiert waren. Den Einsprechern, der Stadt Wil und dem Kanton St. Gallen sei Dank, dass sie diesen wichtigen Leitentscheid beim Bundesgericht geradlinig provozierten.

Auch in Kreuzlingen und Umgebung wurden und werden seit geraumer Zeit 5G-Mobilfunkanlagen ohne ordentliches Baubewilligungsverfahren auf adaptiven Betrieb mit Korrekturfaktor hochgerüstet und betrieben. Davon betroffen ist auch die Bevölkerung der Stadt Konstanz auf deutschem Hoheitsgebiet. Es ist deshalb davon auszugehen, dass weitere Anlagen im ganzen Kanton Thurgau wie auch in anderen Kantonen betroffen sind. Weder die örtliche Baubewilligungsbehörde in ihrer baupolizeilichen Funktion noch das kantonale Departement für Bau und Umwelt als Aufsichtsbehörde nehmen bislang ihre Amtspflichten wahr, obwohl von Betroffenen entsprechende Anzeigen vorliegen.

Man darf jetzt gespannt sein, ob und wie die Kantone und Gemeinden dieses Leiturteil in der Vollzugspraxis umsetzen werden. Die IGs müssen jetzt bei den zuständigen Baubehörden in Gemeinden und beim Kanton nachfragen, ob sie dieses Urteil kennen und wie sie es umsetzen werden, denn es bedeutet, die bisherigen Umrüstungen auf adaptive 5G Anlagen im sogenannten Bagatellverfahren waren illegal, der adaptive Betrieb müsse eingestellt werden und zukünftige Aufrüstungen brauchen ein ordentliches Bewilligungsverfahren der Gemeinden.

Als wissenschaftliche Begleitmusik für dieses Urteil sind die Ergebnisse einer neuesten Sendemaststudie relevant. Die hochwertig durchgeführte ATHEM-3 Studie von 2024 besagt, dass die Langzeiteinwirkung der Strahlung von GSM- und LTE-Mobilfunkbasisstationen zu Chromosomenaberration führen kann. Die hoch signifikanten Unterschiede zwischen der bestrahlten Gruppe und der unbestrahlten Kontrollgruppe weisen darauf hin, dass die Strahlung die Ursache für die genetische Instabilität ist. In der Studie heisst es:

Unsere Erkenntnisse über Chromosomenaberrationen könnten daher einen biologisch plausiblen Mechanismus für die Daten über ein signifikant erhöhtes Krebsrisiko bei Personen liefern, die Signalen von Mobilfunk-Basisstationen ausgesetzt sind. (Studie, S.9) 

Dieses Ergebnis erfordert eine Schutzpolitik und ein regulierendes Eingreifen des Staates.

Mehr zu dieser Studie und über die Studienlage zu Mobilfunksendeanlagen auf: https://www.diagnose-funk.org/2095


 

Fussnote

[i] Aus dem Urteil:

3.2. Die Gemeinde bejahte die Baubewilligungspflicht, weil die Anwendung des Korrekturfaktors zur Folge habe, dass nur noch ein über 6 Minuten gemittelter Wert eingehalten werden müsse. Dies könne an OMEN zu Leistungsspitzen führen, die deutlich über dem geltenden AGW liegen. Dies werde von der bestehenden Baubewilligung nicht abgedeckt. Die Umrüstung der Anlage mit adaptiven Antennen sei unter Berücksichtigung des «Worst-Case-Szenarios» erfolgt; nur aus diesem Grund habe sie im sog. Bagatellverfahren, ohne Einbezug potenziell einspracheberechtigter Personen, bewilligt werden können. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Umweltschutz und die Vollzugsbehörden würde massgeblich erschüttert, wenn vor Anwendung des Korrekturfaktors kein Verfahren zur Wahrung ihres rechtlichen Gehörs durchgeführt würde. 

3.3. Diese Rechtsauffassung wurde vom Bau- und Umweltdepartement geteilt. Mit Einführung der Korrekturfaktoren habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Während die AGW zuvor an einem OMEN in jedem Zeitpunkt eingehalten werden mussten, könnten nun Situationen auftreten, in denen die in Ziff. 64 Anh. 1 NISV definierten Grenzwerte kurzzeitig überschritten werden dürften. Dies bedeute eine Änderung der Strahlenbelastungen und begründe ein Interesse der Öffentlichkeit bzw. der Nachbarschaft an einer vorgängigen Kontrolle i.S.v. Art. 22 RPG. Eine Befreiung von der Baubewilligungspflicht bedürfe einer formell-gesetzlichen Grundlage (wie z.B. in Art. 18a RPG für Solaranlagen); eine Regelung auf Verordnungsstufe genüge nicht. Im Übrigen äussere sich Ziff. 62 Abs. 5bis Anh. 1 NISV auch gar nicht zur Baubewilligungspflicht. 

3.4. Das Verwaltungsgericht teilte diese Auffassung: Bei der Anwendung des Korrekturfaktors bestehe die Möglichkeit einer nicht mehr bloss ausgesprochen geringfügigen Zunahme der Immissionen in den von den Leistungsspitzen betroffenen Flächen («Beam»). Vor diesem Hintergrund bestehe sowohl ein öffentliches als auch ein Interesse der Nachbarschaft an einer vorgängigen Beurteilung im Rahmen eines den grundrechtlichen Anforderungen genügenden Baubewilligungsverfahrens. Der kantonale Gesetzgeber habe im Nachgang zur NISV-Änderung vom 1. Januar 2022 die Bewilligungsvorschriften (Art. 136 ff. PBG/SG) nicht angepasst und insbesondere kein bewilligungsfreies Verfahren für die vorliegende Konstellation angeordnet.