Asch über unser Haupt? – Über Konformität und Widerstand

Wer erfolgreich Widerstand leisten will, braucht ein Bewusstsein über unsere freiwillige Beherrschbarkeit: die Konformität. Die Samstags-Kolumne.

Referenzlinie und Vergleichslinien im Asch-Experiment: Welche Linie im rechten Bild hat die gleiche Länge wie die Referenzlinie? (Bild: Wikipedia)

Bloss nicht auffallen – das war das Motto meiner Elterngeneration: «Was sollen die Nachbarn sagen?», war ihr Credo. Für heutige Generation müssen solche Sätze nicht mehr ausgesprochen werden, sie haben sie verinnerlicht. Blicke, Andeutungen, mehr oder weniger subtiles Augenbrauenheben erinnern stets daran: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern! Glaub nicht an Verschwörungstheorien! Und wenn es ernst wird: Schart euch um eure Anführer!

Konformität ist das Geheimnis moderner Herrschaft. Keine Diktatur könnte sich auf Dauer leisten, alle Untertanen einzeln zum Gehorsam zu zwingen.Das muss sie auch nicht: Sozialer Druck tut diesen Job ja auch – ganz smart und gewaltfrei. Soziale undMassenmedien helfen.

Deshalb: Ohne unsereKonformität bewusst zu machen und an ihre Stelle wieder Selbst-Denken zu setzen, ist ein wirksamer Widerstand nicht möglich.

Doch Konformität ist ein evolutionärer Überlebensinstinkt. Ohne Konformität hätten wir die Vergangenheit nicht überlebt. Wer anders tickte als die Nachbarn, Geschwister oder Mitglieder der Peer Group, dessen Zugehörigkeit wackelte. Der soziale Tod brachte meist auch den richtigen. Denn wir brauchten einander – den Stamm – um uns vor wilden Tieren, Hunger oder Attacken zu schützen. Konformität macht uns zu sozialen Wesen. Auch Lernen geht am besten durch Nachahmung von Vorbildern – ob bei sportlicher Höchstleistung, im Handwerk oder in der Kultur.

«Wes Brot ich ess, des Lied ich sing», auf die schlichte Formel brachte es der beginnende Kapitalismus.

Kein Wunderalso, dass nur ein Viertel von uns unbeeinflusst bleibt vom Urteil anderer. Das zeigte Solomon Asch 1951 in seinem berühmten Konformitätsexperiment: Gruppenzwang beeinflusst die meisten Menschen so stark, dass sie eine offensichtlich falsche Aussage als richtig bezeichnen. (Schlagen Sie selbst nach, wenn Sie mehr erfahren wollen: Konformitätsexperiment nach Asch.)

Vertrauen wir einander also zu viel? Nein, denn anderen mehr zu glauben als sich selbst, ist kein Vertrauen, sondern  Verantwortungsabgabe. Das zweite grosse soziale Konformitäts-Experiment, die weltweite Umsetzung der Corona-Massnahmen, zeigte: Heute «vertrauen» die meisten Untertanen ihrem Staat, ihren Volksvertretern, ihren Massenmedien, folgen Empfehlungen wie zum Beispiel Impfen. Sie glauben auch, was sie nicht glauben. Denn auch wenn man Behauptungen und Anweisungen als absurd erkennt, ist es «sicherer», ihnen zu folgen – alle anderen tun es doch auch.

Und wir spüren instinktiv: Wenn wir beginnen, nichts mehr einfach für wahr zu halten, stehen wir am Beginn eines sehr riskanten Weges. Nichts mehr ist einfach so gegeben. Nichts mehr ist wahr, nur weil es in den Nachrichten kommt. Die besten Vorbilder sind keine mehr. Die besten Freunde lassen einen über die Klinge springen, wenn man ihre Meinung in Frage stellt. Die Welt ist anders, als wir – von Nachbarn und Autoritäten – gelernt haben.

Kleiner Einschub: Zwanghafte Non-Konformität ist auch keine Lösung, sondern die Kehrseite derselben Medaille. Wer grundsätzlich das Gegenteil der offiziellen Postulate und Empfehlungen für richtig hält, ist letztlich ebenso denkfaul – und folgt meist einfach anderen Leithammeln als den offiziellen.

Um eine eigene, selbst erarbeitete Meinung kommen wir nicht herum, wenn wir die Herrschaft des Systems auflösen bzw. ein besseres System aufbauen wollen. Wie aber finden wir den Mut, unsere Freunde zu verlieren, die Erwartungen unserer Partner zu enttäuschen, das Alleingelassen-Werden in Kauf zu nehmen – und alles mit dem Risiko, dass wir vielleicht ebenfalls irren? Denn woher wissen wir, ob das, was wir denken, richtig ist?

Dafür finde ich einen hoffnungsvollen Hinweis bei Asch: Der Soziologe liess einige der Probanden fragen, warum sie die offensichtlich falsche Antwort gewählt hatten. Die meisten sagten, sie hätten gewusst, dass sie falsch war. Aber sie dachten, es sei von ihnen erwartet worden.

Hier hat der Konformitätsreflex gewirkt; aber davor gab es – blitzschnell verdrängt – ein Bewusstsein der richtigen Wahrnehmung. Dieser doppelte Boden des Denkens – die «normale» Verdrängung dessen, was wir wahr und richtig finden – ist für mich ein Hoffnungsschimmer. Ich bin sicher: Wir wissen viel mehr, nehmen viel mehr wahr, als wir voreinander und vor uns selbst zugeben. Es ist vor allem Angst vor dem Urteil der anderen, die uns dumm macht. Unsere Konformität hat nicht unser Wissen beeinträchtigt, sondern nur den Zugang zu ihm verstellt und unbequem gemacht.

Deshalb ist meine Empfehlung für alle, die ihre Konformität nicht einfach durch Non-Konformität, ersetzen wollen – die sich also nicht scheuen, von anderen zu lernen, wenn sie es sinnvoll finden – aber auch Autoritäten in Frage stellen, wenn ihre innere Stimme es von ihnen fordert, wenn sie also selbst denken und fühlen wollen: Findet heraus, was ihr schon wisst. Meiner Erfahrung nach geht das am besten mit anderen: im Gespräch, in echter Begegnung, im Wahr-Sprechen. Michel Foucault nannte es Parrhesia und sagte:

In Parrhesia verwendet der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit statt Überzeugungskraft, Wahrheit statt Lüge oder Schweigen, das Risiko des Todes statt Lebensqualität und Sicherheit, Kritik anstelle von Schmeichelei, sowie moralische Pflicht anstelle von Eigeninteresse und moralischer Apathie.

Dazu brauchen wir einander – aber anders als bisher! Für mich persönlich ist es höchstes Ziel und höchste Freude, Gemeinwesen und Begegnungen der Freiheit zu schaffen, wo in diesem Sinne wahr-gesprochen werden kann, ohne Strafe von anderen zu erwarten. Mit anderen Worten: wahrheitsfähige Gruppen. Auch wenn die Wahrheit eines anderen im Moment anders klingt als meine.