Eine Schicksalswahl
Nach dem Ergebnis der US-Wahlen haben viele gejubelt – aber noch mehr wälzen sich vor Wut und Trauer im Staube. Sie sind immer noch überzeugt, dass Trump die falsche Wahl ist. Gibt es denn eine «richtige» Wahl? Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Nehmen wir als Bild eine Herbstwanderung. Wir haben ein Ziel, wissen aber noch nicht genau, wie wir es am besten erreichen. Vor uns liegt eine Wegscheide. Welcher Weg ist der bessere? Wir blicken uns um, suchen nach einer Antwort in der schweigenden Landschaft, konsultieren die Navigation, erwägen die beiden Varianten und hoffen auf eine Person, die uns auf einem der Wege entgegenkommt. Doch niemand entlastet uns von der Verantwortung, selber entscheiden zu müssen. Kein anderer Wanderer, kein Einheimischer, keine Eltern, die uns an der Hand nehmen würden, kein Guru, kein Gott.
Wir erleben hautnah, dass wir frei sind. Immer dann, wenn wir vor einer Wahl stehen, wird uns bewusst, dass unser Dasein nicht vorbestimmt ist. Seit wir aus dem himmlischen Unschuldszustand entlassen wurden, gestalten wir unser Leben auf diesem Planeten selbst. Wir sind frei – doch gleichzeitig wird uns ständig wieder bewusst, was Freiheit bedeutet: Sie bedeutet Chance und Risiko. Glück oder Pech. Triumph oder Absturz.
Freiheit ist Ungewissheit. Diese Erfahrung hat gestern einmal mehr das amerikanische Volk gemacht. Die Amerikaner hatten die Freiheit, zwischen zwei Wegen, zwei Kandidaten entscheiden zu können. Es standen weitere Kandidaten zur Wahl, so wie es immer im Leben eine dritte und vierte Option gibt. Wir haben auch auf der Wanderung stets die Möglichkeit, querfeldein zu gehen.
Doch der dritte, eigene Weg ist der schwierigste Weg. Soweit ist die Menschheit noch nicht. Schon die Entscheidung zwischen zwei Wegen überfordert uns fast. Doch die Amerikaner wussten: Die Wahlen sind fällig. Wir müssen uns jetzt entscheiden.
Viele sagten: Harris ist die falsche Wahl. Wir müssen Trump wählen. Trump ist besser. Sehr viele andere sagten: Trump ist die falsche Wahl. Wir müssen Harris wählen. Harris ist besser.
Beide Haltungen hatten nicht recht. Denn ob eine Wahl «richtig» oder «falsch» ist, können wir vorher nicht wissen. Welcher Weg der «bessere» wäre, dürfen wir bloss vermuten.
Entscheiden wir uns für den Wanderweg, den wir für den «besseren» halten, kann es geschehen, dass wir nach kurzer Zeit feststellen müssen: Der Weg ist schwierig. Der Weg ist unmöglich. Das erleben wir dauernd. Das vermeintlich «Bessere», «Richtige» erweist sich im Nachhinein oft als die «falsche» Wahl. Dann bereuen wir sie. Dann denken wir, dass wir vielleicht doch den anderen, «schlechteren» Weg hätten wählen müssen. Obwohl wir von diesem anderen Weg gar nicht wissen, ob er doch «besser» gewesen wäre. Wir wissen es nicht, weil wir ihn gar nicht begangen haben.
Jede Entscheidung, jede Wahl, die wir selbstbestimmt treffen können, ist eine freie Entscheidung. Doch die Freiheit des Menschen endet in dem Moment, wo er entschieden hat. Sobald die Amerikaner ihren Wahlzettel in die Urne warfen, tauschten sie ihre Freiheit gegen das Schicksal. Vor jeder Entscheidung regiert die Freiheit. Nach der Entscheidung regiert das Leben. Dann «müssen wir leben» mit unserer Wahl. Dann müssen wir «das Beste draus machen».
Mit grosser Mehrheit haben sich die Amerikaner für Trump entschieden. Sie haben Schicksal gespielt. Eine Wahl ist immer eine «Schicksalswahl». Schicksal bedeutet: Offenbar muss es so sein.
Offenbar brauchen die USA und die Welt in den nächsten vier Jahren Donald Trump an der Macht. Würden die Gegner von Trump an ein Schicksal glauben, an eine höhere Macht, dann würden sie jetzt nicht jammern und zetern. Dann würden sie respektieren, dass es so, wie es ist, richtig ist. Denn das Leben hat immer recht.
Ich jedenfalls bin gespannt und offen für das, was jetzt kommt – was das Schicksal mit der Welt vorhat, jetzt wo Trump die Bühne betritt. Welchen Einfluss er auf die Weltpolitik haben wird, kann niemand wissen. Wer es trotzdem zu wissen glaubt, erhebt sich zu etwas Höherem. Nicht einmal Donald Trump selber weiss, welche Rolle er spielen wird. Auch er ist im grossen Welttheater bloss ein Akteur. Die Regie führt ein Anderer.
Soeben erschienen: Nicolas Lindt «Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Amazon. Alles über das Buch und die Buchvernissage
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