«Schreib' genau, was du in dir fühlst»

Im schicksalhaften Jahr 1984 reiste ich mitten im Winter auf die abgelegene schottische Insel Jura, wo der britische Autor George Orwell sein letztes Werk schrieb – den düsteren und zugleich prophetischen Zukunftsroman «1984». Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».

Barnhill auf Jura «Orwell wählte die Einsamkeit in der Einsamkeit»

In meinem neuen Buch «Orwells Einsamkeit» beschreibe ich meine Geistesverwandtschaft zu Orwell. Sein bewegtes Leben und die tragische Entstehungsgeschichte von «1984» standen am Anfang meines eigenen weltanschaulichen Weges. Neben der Titelgeschichte über die Entstehung von «1984» enthält mein 380-Seiten umfassender Essayband deshalb eine Fülle von Gedankengängen, die ich nach meinem Bruch mit der Linken und auf dem Weg zu einem persönlichen Denken formuliert habe – die meisten öffentlich in Form von Referaten und Ansprachen, während andere Beiträge in schriftlicher Form publiziert wurden.

Der nachfolgende Textauszug stammt aus der Titelgeschichte und schildert Orwells Rückzug auf die schottische Insel Jura, in der Absicht, dort an seinem Roman zu schreiben. Kurz vor der Abreise starb unerwartet, nach kurzer Krankheit, Orwells Frau Eileen. Richard, der Adoptivsohn des Paares, hatte damit seine Mutter verloren. Eileens Tod erschütterte Orwell, doch er hielt an seinem Entschluss fest und brach 1946 mit dem kleinen Richard nach Schottland auf…

Orwell ist allein

Aber Orwell wollte nicht allein mit Richard nach Jura. Er wünschte sich wieder eine Beziehung und machte in kurzen Abstän­den mehreren Frauen Heiratsanträge. Einer von ihnen schrieb er:

Ich frage Sie, ob Sie die Witwe eines Schriftstellers wer­den wollen. Sie sind jung und gesund und verdienen ei­nen besseren als mich. Wenn Sie sich aber ein Leben als Witwe vorstellen können, dann gäbe es Schlechteres. Falls ich noch zehn Jahre habe, könnte ich wohl noch drei gute Bücher schreiben. Ich wünsche mir vor allem Frie­den, Ruhe und jemanden, der mich mag. Zurzeit gibt es in meinem Leben nur noch die Arbeit und Richard. Manch­mal fühle ich mich verdammt einsam. Ich habe genug Freunde, aber keine Frau, der ich wichtig bin und die mich anspornen kann.

So offen war Orwell selten gewesen. Er schrieb wie einer, der nichts mehr verlieren kann. Doch in seinen Heiratsanträgen war die Absage eigentlich schon enthalten – und tatsächlich wollte keine Frau mit ihm nach Jura kommen. Orwell musste allein gehen, allein mit sei­nem Kind, allein mit einer Tätigkeit, die ihn noch einsa­mer machte, als er schon war, die ihn aber nicht losliess und am Leben erhielt.

*

Der Mann an der Bar

In der Hotelbar von Port Askaig herrscht noch immer Betrieb. Unter die paar wenigen Hotelgäste haben sich die Farmer der Gegend gemischt. Es geht laut zu und her an diesem Freitagabend. Roddy, der Schullehrer von Jura, ist schlafen gegangen, ich bin noch hellwach, sitze an der Theke, bestelle ein letztes Glas Glühwein und hoffe, dass es mich endlich müde macht.

Der Mann neben mir, schon ziemlich angeheitert, redet mich an. Er ist Elektriker, erzählt er, und auf Mon­tage von Insel zu Insel.

«Morgen geht's nach Jura, ans Ende der Welt!» sagt er und grinst. «Und du?»

Ich erzähle von Orwell.

«Nineteeneightyfour», sagt der Schotte, mehr weiss er nicht darüber. «Willst du auch so ein Buch schrei­ben», fragt er mich, «vielleicht über das Jahr 2000?» Dann schaut er mich an, schaut, als ob er etwas über mich herausfinden müsste, und stellt sein Bierglas hin.

«Wenn du schreibst», meint er dann, «darfst du dich von niemandem beirren lassen, verstehst du? Schreib' genau, was du da drin in dir fühlst».

Und er legt seine Hand auf meine Brust, genau da, wo das Herz ist. Dann nimmt er wieder einen Schluck. Und während er das Glas hebt, nickt er mir zu wie einer, der weiss, dass er recht hat.

Etwas später, im Hotelzimmer, suche ich aus dem Ruck­sack ein Buch von Orwell heraus, das ich mit mir nahm. Einen Essayband. «Der Schriftsteller und sein Leviathan» heisst der Text, den ich suche. Ich blättere nach der Stelle, die ich rot unterstrichen habe:

Müssen wir aus alledem folgern, dass der Schriftsteller die Pflicht hat, sich aus der Politik herauszuhalten? Gewiss nicht! Kein denkender Mensch in unserer Zeit kann die Politik ignorieren. Aber wenn ein Schriftsteller sich auf Politik einlässt, sollte er das als Mensch und Bürger sei­nes Landes tun, nicht als Schriftsteller. Was er auch immer im Dienste der Sache tun mag – als Schriftsteller sollte er nie seine Gedanken opfern, auch wenn sie zu einer Abweichung der vorgeschriebenen Linie führen; und er sollte sich nicht allzusehr darum kümmern, ob ihm jemand sein unorthodoxes Denken zum Vorwurf macht. Vielleicht ist es für einen Schriftsteller heute nicht einmal ein schlechtes Zeichen, wenn er reaktionärer Tendenzen verdächtigt wird - so wie es noch vor eini­gen Jahrzehnten ein schlechtes Zeichen gewesen wäre, nicht der Sympathie für die Kommunisten verdächtigt zu werden.

*

Barnhill, das Haus, das Orwell gemietet hatte, lag an der Nordspitze der langgezogenen Insel, acht Kilometer von der letzten grösseren Siedlung, Ardlussa, entfernt. Auf Barnhill gab es kein Elektrisch, und bis zum nächsten Telefon waren es 20 Kilometer. Der einzige Arzt auf der Insel wohnte in Craighouse, fast 40 Kilometer von Barnhill entfernt. Hätte Orwell wenigstens ein Haus im Hauptort der Insel gemietet – dort, wo die Verbindung zum Festland war, dort, wo der einzige Laden war, die einzige Post, die einzige Bar!

Orwell wählte die Einsamkeit in der Einsamkeit. So, wie er in seinen Essays und Polemiken immer wieder sehr weit ging, so ging er auch hier auf Jura so weit er konnte und suchte sich ausge­rechnet das abgelegenste aller Häuser aus.

*

Orwells Schatten wächst

Orwell war in seinem Element. Kaum hatte er das Haus auf der Insel bezogen, begann er ein Tagebuch. Aber es war ein ganz besonderes Tagebuch, ein «Natur­tagebuch». Er beobachtete das Verhalten der Vögel, er beschrieb sei­ne erste Kaninchenjagd, wie er die Hummerkörbe im Meer aussetzte und was er auf seinen Rundgängen alles entdeckte. Er schrieb über die Arbeit im Garten, über das Gemüse, über die Blumen, und er notierte täglich das Wetter.

Sonst setzte er sich in dieser ersten Zeit auf Jura nur selten an seine Schreibmaschine. Die Tage vergingen mit Gartenarbeit, Ar­beit im Haus, Jagd und Fischfang. Oft spielte er stunden­lang mit dem kleinen Richard, nahm ihn auf seine Spa­ziergänge mit und zeigte ihm alles. Er nahm sich Zeit, zum erstenmal seit Jahren, und es tat ihm gut.

Orwell hatte seine Freunde eingeladen, ihn zu besuchen. Nun erschienen sie alle, und es kam der Moment, wo es ihm zu viel wurde. Er sehnte sich plötz­lich nach Ruhe. Das Buchprojekt, das er mit sich herum­ trug, drängte zur Realisierung – und endlich, Ende Au­gust 1946 begann Orwell zu schreiben.

Noch war Sommer auf Jura, aber das Buch beginnt «an einem kalten, windigen Apriltag». Über das Haus auf der schottischen Insel legte sich fast unbemerkt ein Schatten. Ahnte Orwell schon, was er heraufbeschwor, als er die ersten Seiten von «1984» schrieb?


Cover

Aus «Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», soeben erschienen, lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli


 

Nach dem Wienachtsmärt an die Vernissage

Die Zeitschrift «DIE FREIEN» lädt ein zur Buchvernissage von «Orwells Einsamkeit». Sie findet statt am Samstag, 30. November 17 Uhr im «Zürcherhof» Wald. Musikalische Begleitung: Gitarrist Peter Glanzmann (Ex-Les Sauterelles) Eintritt CHF 10.00. Mit anschliessendem Apéro und Kürbissuppe. Am gleichen Tag findet in Wald der Wienachmtsmärt statt.

31. Oktober 2024
von:

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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