Vor 23 Jahren, an einem Novemberabend, stürzt in Bassersdorf beim Landeanflug ein Flugzeug ab. Die meisten Insassen sterben. Unter den wenigen Überlebenden ist eine prominente Schweizer Politikerin. Eine sehr laute Politikerin. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben»

Intakt blieb nur das Heck der Maschine (Bild Netzfund)
Intakt blieb nur das Heck der Maschine (Bild Netzfund)

Das Flugzeug, das sich an einem Samstagabend, unmittelbar vor der Adventszeit, auf seinem planmässigen Flug von Berlin nach Zürich befand, war nicht einmal zur Hälfte besetzt. Die 28 Passagiere konnten ihre Plätze, wenn sie dies wollten, frei wählen. Unter ihnen waren Touristen, Geschäftsleute, eine bekannte Sängerin auf dem Weg zu einem Auftritt im Fernsehen und eine dreiköpfige Girlgroup, unterwegs zu einem Konzertauftritt. Ebenfalls zu den Fluggästen gehörte eine Schweizer Politikerin, die sich mit ihrem Geschäftspartner, nach Terminen in Deutschland, auf dem Heimflug befand.

Die beruhigende Ambiance modernster Technik vermittelte Wohlbefinden und Sicherheit. Die Passagiere plauderten oder schliefen ein wenig, blätterten in der Zeitung, studierten vielleicht ein paar Akten, blickten ab und zu aus dem Fenster, hinaus in die undurchdringliche Nacht, und nippten an ihrem Glas. Die drei von der Girlgroup steigerten sich in euphorische Laune, bestellten Sekt und stiessen auf den vielversprechenden Abend an. 

Sie tranken und lachten so laut, dass die Schweizer Politikerin mit ihrem Geschäftskollegen in die hintersten Sitzplätze wechselten. Die beiden wollten bloss ihre Ruhe. Einen anderen Grund hatte ihre Rochade nicht.

Die Girls liessen sich davon nicht verdriessen. Sie feierten weiter, ausgelassen und jung, und dachten keine Sekunde daran, dass ihr Partylokal keine Bar war, sondern ein kleines Gehäuse aus Stahl und Kunststoff im grossen, unendlichen Himmel der Winternacht.

Das Flugzeug flog von einer Metropole zur andern. Dass es da unten eine Welt zwischen den Metropolen gab, wurde vom Dunkel der Nacht verschluckt. Man lebt im Flieger auf hohem Niveau. 

Über Bassersdorf, kurz vor 21 Uhr, setzte die Maschine bei leichtem Schneefall zum Sinkflug an. Die Sicht war schlecht. Das Flugzeug flog immer tiefer. Es flog zu tief. Plötzlich streiften die Flügel die Spitzen von Bäumen, plötzlich gab es da nur noch Wald – dann war der Flug CRX 3597 zu Ende. 

Beim Aufprall schoss ein Feuerball durch das Innere. Die Flammen zerstörten das Cockpit und den ganzen vorderen Teil der Maschine. Der glänzende, schöne Komfort verwandelte sich in Zerstörung und Chaos. Berlin und Zürich waren auf einmal bedeutungslos. In Birchwil bei Bassersdorf kam die grosse kosmopolitische Welt, die für kleine Orte nichts übrig hat, auf den Boden zurück. Im winterlich dunklen Wald nahm die Flugzeugparty der Girlgroup ein jähes Ende. 22 Passagiere, der Pilot und der Kopilot, fanden zwischen den Bäumen ihr Grab. 

*

Ich war nicht dort, aber die Bilder sehe ich vor mir. Sie zeigen mir Dunkelheit, verwundete Tannen, lodernde Flammen, beissender Rauch, hingeworfene, leblose Körper und Trümmerteile, blutige Spuren im Schnee – und eine alles ertragende, alles schluckende Erde. Die Bilder erzählen von den ersten Minuten nach dem Absturz der Crossair. Aber sie zeigen uns noch etwas. Sie zeigen uns das abgerissene Heck, das intakt blieb – und eine kleine Gruppe von Menschen, die durch das brennende offene Loch aus dem Flugzeug taumeln. 

Sie fanden sich wieder mitten in einem Wald, mitten in einem Inferno, aber das alles hatte keine Bedeutung. Sie spürten weder die Kälte noch ihre Schmerzen. Sie wussten nur, dass sie noch lebten. Und sie konnten ihr Glück kaum fassen.

Neun Menschen haben den Absturz, schwer oder leicht verletzt, überlebt. Sechs Passagiere und die drei Flight Attendants. Neun Menschen mussten sich in ihrem Leben wieder zurechtfinden. Neun Menschen mussten sich darüber Gedanken machen, warum gerade sie überleben durften. Sie mussten herausfinden, was die Gunst einer zweiten Chance für ihr Leben bedeutete. 

Unter den Geretteten war auch die Schweizer Politikerin, die sich mit ihrem Geschäftskollegen nach hinten verzogen hatte. Das war ihre Rettung. Die Politikerin ist zu einer sehr bekannten Person geworden. Sie ist eine laute Politikerin. Wenn sie redet, dann poltert sie. Sie kann sogar ausfällig werden. Die leisen Töne kennt sie weniger gut. Viele finden sie mutig und kämpferisch. Sie bewundern sie. Dass die prominente Politikerin vor vielen Jahren ein Flugzeugunglück heil überlebt hat, wissen sie nicht. 

Ich weiss es. Ich vergesse es nicht. Und jedesmal, wenn sie wieder im Fernsehen auftritt und ich sie reden und ausrufen höre, denke ich daran, dass die gleiche Frau wie durch ein Wunder noch lebt. Aber ich merke es ihr nicht an. Sie ist mir zu laut. Und zu grob. Und ich bin sicher, sie glaubt, sie habe rein zufällig überlebt. Weil sie bloss ihre Ruhe wollte. Nur deshalb. 

Doch in Wirklichkeit war es anders. In Wirklichkeit hat das Leben sie sanft an der Hand genommen und aus dem Gefahrenbereich sicher hinausgeführt. Die Politikerin hat ein Geschenk bekommen, das grösste Geschenk, das es gibt. Aber sie weiss es nicht. Sie weiss es noch immer nicht.

Und ich glaube, sie will es auch gar nicht wissen.


coverVom Autor soeben erschienen: «Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli

Die Buchvernissage findet statt am 30. November 17 Uhr im «Zürcherhof» in Wald. Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch

Kommentare

hmmm

von MS
ob dem so ist? Möglich, aber aufgrund  von Auftritten auf das Innenleben zu schliessen finde ich schwierig. Natürlich bin ich gwundrig geworden, wer das sein mag...und siehe da, ein Interview: https://www.srf.ch/radio-srf-1/20-jahre-nach-crossair-absturz-ich-war-mir-sicher-das-ist-er-jetzt-mein-tod