«Empört euch!» – nicht nur in Frankreich
Das schmale Buch des Résistance-Veteranen Stéphane Hessel hat in Frankreich die Bestsellerlisten gestürmt. «Empört euch» sieht die Ideale der Résistance und der Charta der Menschenrechte verletzt und ruft offen zur gewaltlosen Revolte auf. Wir tun gut daran, seinen Ruf zu hören. (Roland Rottenfußer)
Man stellt sich vor, eine Persönlichkeit des Widerstands gegen die Nazis, etwas Hans Scholl, hätte überlebt. Jahr für Jahr wären seine Taten von der politischen Elite in Festveranstaltungen gepriesen und jungen Menschen als Vorbild vor Augen gehalten worden. Eines Tages würde sich dieser Hans Scholl hinstellen und öffentlich das Versagen dieser Eliten anprangern. Alles, wofür wir damals gekämpft haben, würde er sagen, ist heute in Frage gestellt. Es ist wieder Zeit, sich gegen das Unrecht zu empören. Wäre das nicht entsetzlich peinlich für die Politik des alternativlosen Neoliberalismus?
Wer ist Stéphane Hessel?
In Frankreich ist etwas Vergleichbares passiert. Stéphane Hessel ist 93, also noch ein Jahr älter als Hans Scholl heute wäre. Und er gehört zu den Helden seines Landes. Ich verwende dieses Wort ohne Ironie, denn Hessels Lebensweg ist wirklich unfassbar aus der Perspektive des ruhigen Nachkriegsdeutschlands. 1917 wurde er in Berlin geboren – ein Junge jüdischer Herkunft. Die Familie zog 1924 nach Paris. Seit 1937 französischer Staatsbürger, wurde Hessel zum Kriegsdienst eingezogen. Er erlebte die Niederlage Frankreichs gegen Nazideutschland und die Kollaborationspolitik von Marschall Pétain. 1941 schloss er sich Charles de Gaulles „Freiem Frankreich“ an, einer Widerstandsgruppe mit Sitz in London.
Im März 1944 wagte Stéphane Hessel eine halsbrecherische Mission. Er ließ sich heimlich in Frankreich absetzen, um mit Widerstandsgruppen Kontakt aufzunehmen. Im Juni wurde er dann verraten und von der Gestapo verhaftet. Hessel wurde gefoltert und in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert – unter normalen Umständen sein Todesurteil. Durch eine Aktion, die Stoff für einen Thriller hergäbe, gelang es ihm jedoch dem Tod zu entkommen. Er vertauschte seine Identität mit derjenigen eines im Lager Verstorbenen. Stéphane Hessel war damit noch nicht frei, er wurde zu Zwangsarbeit in ein nahe gelegenes Lager verlegt. Zweimal gelang es ihm zu fliehen, bevor er sich zu den anmarschierenden alliierten Truppen durchschlagen konnte.
Die Ideale der Résistance
„Dieses neu geschenkte Leben galt es sinnvoll zu nutzen“, schrieb Hessel in seiner Autobiografie. Er machte Karriere bei den Vereinten Nationen und wurde Referent von Henri Laugier, Sekretär der Menschenrechtskommission. Auf diesem Weg wurde er auch Mitglied der Kommission, die die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (veröffentlicht 1948) entwarf. Der Autor von „Empört euch!“ sieht in der Erklärung den Geist der Résistance verewigt. Der Nationale Widerstandsrat unter de Gaulle hatte 1944 ein Programm verabschiedet, „auf dessen Werten die Demokratie des befreiten neuen Frankreich ruhen sollte.“ Hessel: „Genau dieses Grundsätze und Werte sind uns heute nötiger denn je.“
Dazu gehören:
- „Ein vollständiger Plan sozialer Sicherheit mit dem Ziel, allen Bürgern, denen dies nicht durch eigene Arbeit möglich ist, die Existenzgrundlage zu gewährleisten.“
- „Die Energieversorgung, Strom und Gas, der Kohlebergbau, die Großbanken sollen verstaatlicht werden.“
- Die Errichtung einer echten wirtschaftlichen und sozialen Demokratie unter Ausschaltung des Einflusses der großen im Wirtschafts- und Finanzbereich bestehenden privaten Herrschaftsdomänen auf die Gestaltung der Wirtschaft.“
Stéphane Hessel deutet dies explizit als Reaktion auf die verheerenden Erfahrungen mit dem Faschismus: „Eine rationelle Wirtschaftsverfassung, in der die Individualinteressen dem Allgemeininteresse untergeordnet sind, ohne Diktatur der Sachzwänge nach dem Vorbild faschistischer Staaten. Schon ein flüchtiger Blick auf die deutschen Verhältnisse mit Hartz IV, Energie-Oligopolen und einer radikalen Orientierung des Staats am Privatwohl zeigt, dass wie nötig solche Grundsätze heute wären.
Verrat am Erbe des Antifaschismus
Stéphane Hessel erklärt nun aus der Perspektive von 2010 rundweg: „Dieses gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance ist heute in Frage gestellt.“ Leider spezifiziert der Autor nicht, inwieweit die Regierung von General de Gaulle in der Nachkriegszeit diesem Ideal überhaupt treu geblieben ist. Hessel war ja ein vehementer Gegner des grausamen Algerienkriegs von 1954 bis 1962. De Gaulle war Staatspräsident von 1959 bis 1969. Auch ist die Kritik an der Politik unter Präsident Sarkozy, die das schmale Bändchen „Empört euch!“ (15 Seiten Haupttext) enthält, nicht sehr präzise. Mich hätten mehr Details interessiert. Das, was Hessel durchblicken lässt, besitzt jedoch aufrüttelnde Kraft.
„Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wir heute.“ Und dann kommt der alte Herr zum Kern seiner Botschaft: „Das Grundmotiv der Résistanz war Empörung. Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegung und der Kampfgruppen des Freien Frankreich, rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiterzugeben. Mischt euch ein, empört euch! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht haben, Frieden und Demokratie zu gefährden.“
Es gibt Gründe zur Empörung
Hessels Pamphlet ist geradezu eine Liebeserklärung an das Wort „Empörung“. Während die meisten Bürger nach dem Grundsatz „Im Zweifelsfall bleibe ich erst mal ruhig“ agieren, ruft der Veteran dazu auf, sich einen Grund zu suchen, um empört zu sein. „Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung. Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert.“ Hessel schreibt der Empörung die kreative Kraft zu, die Geschichte voranzutreiben. Er ist ein Schüler zweier großer Philosophen: Hegel sieht die Geschichte als allmählichen Aufstieg der Menschheit zur Freiheit – durch eine Serie von Konflikten zwischen Gegensätzen. Sartre stellte den Menschen allein und ohne göttlichen Rückhalt auf die Erde, voll verantwortlich für eine im Prinzip offene Zukunft. Momentan droht die Hegelsche „Dialektik“ leider ins Stocken zu geraten, da sich die Antithese zur These „Neoliberalismus“ noch recht schwach artikuliert. Und sozialistische Intellektuelle vom Format Sartres, der das Zeug zum „Gewissen der Nation“ hatte, kann man heute mit der Lupe suchen.
Zwei Hauptgruppen von „Empörungsgründen“ schlüsselt Stéphane Hessel auf: „Die weit geöffnete und noch immer weiter sich öffnende Schere zwischen ganz arm und ganz reich“. Und „Die Menschenrechte und der Zustand unseres Planeten.“ Weitere Angriffspunkte des Pamphlets sind u.a die 2008 auf den Weg gebrachte französische Schulreform sowie „die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma“. In jüngster Zeit empörte sich Hessel auch über die Zustände in Palästina und im Gazastreifen. Der Autor war zwischen 2002 und 2009 – schon hoch betagt – mehrfach in der Krisenregion. Man muss in Rechnung stellen, dass Hessel selbst jüdischer Abstammung ist, wenn er sagt: „Was den Gaza-Streifen betrifft, so ist er für anderthalb Millionen Palästinenser ein Gefängnis unter freiem Himmel.“ Und er konstatiert, sehr bitter: „Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich. Leider kennt die Geschichte nicht viele Beispiele von Völkern, die aus ihrer Geschichte lernen.“
Gegen die Gleichgültigkeit
Terrorismus interpretiert Stéphane Hessel demgemäß als „Erscheinungsform von Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit“. Man könne, sagt er in Anlehnung an Sartre, „die Bombenwerfer nicht entschuldigen, aber verstehen.“ Trotzdem ist sein Appell zur Gewaltlosigkeit in „Empört euch“ klar. „Gewalt wirkt nicht. (…) Wenn es gelingt, dass Unterdrücker und Unterdrückte über das Ende der Unterdrückung verhandeln, wird keine terroristische Gewalt mehr erforderlich sein. Deshalb darf man nicht zulassen, dass sich zu viel Hass aufstaut.“
Mehr als um einzelne Missstände scheint es dem Autor aber um das Prinzip „Empörung“ zu gehen. „Das Schlimmste ist Gleichgültigkeit“, schreibt er. „’Ohne mich’ ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den ‚Ohne mich’-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.“ So solidarisiert sich Hessel auch explizit mit modernen Protestbewegungen und Nichtregierungsorganisationen wie Attac. Seine besondere Sorge gilt der Jugend, die in Gleichgültigkeit und Medienkonsum zu versumpfen droht: „Und so rufen wir weiterhin auf zu einem wirklichen, friedlichen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle.“ So jung möchte ich gern mal sein, wenn ich älter werde.
Neues schaffen hießt Widerstehen
Besonders peinlich für die jetzt Herrschenden ist aber die Tatsache, dass ein verdienter Résistance-Kämpfer ihnen bescheinigt, sich nicht konsequent genug vom Geist des Faschismus abgewandt zu haben bzw. wieder darauf zuzusteuern: „Der Nazismus ist besiegt worden dank dem Opfer unserer Brüder und Schwestern in der Résistance und der im Kampf gegen die faschistische Barbarei verbündeten Nationen. Doch die Bedrohung ist nicht vollständig gebannt, und unser Zorn über die Ungerechtigkeit ist nicht gewichen.“ Hessels kraftvoller Leitsatz, sein Resumee, heißt: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“ In einer Zeit, in der gelenkte Pressekampagnen gern die „Dagegengesellschaft“ beschwören – natürlich, damit wir die Zumutungen der Politik brav befürworten – ist dieser Satz erfrischend wie der Vorfrühling, der jetzt draußen eingekehrt ist.
Buchtipp: Stéphane Hessel: Empört euch. Ullstein Verlag 2011, 30 Seiten, € 3,99
Nachtrag: Konstantin Wecker ist einer der ersten, die den Impuls in Deutschland aufgegriffen haben. Kurzerhand schrieb er ein neues Lied mit dem Titel „Empört euch!“ Das deutsche Wort „empören“ ist ja zweideutig, meint zugleich „entrüstet sein“ und „rebellieren“. Fans und Freunde des Liedermachers wird es freuen. Konstantin sieht darin die „offensive Version von ‚Sage nein!’“, einem bekannten Lied aus dem Jahr 1993. Das Lied wird auf seiner in diesem Jahr erscheinenden neuen CD vertreten sein. Vielleicht hört man es schon vorher manchmal auf Demos und Konzerten.
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