Wer bezahlt den «Erfolg» eines Guerillakrieges?

Aus der Geschichte lernen, Verteidigungskrieg, Guerilla oder Gewaltlosigkeit?

Professor Albert A. Stahel meint, die Schweiz sei gut beraten sich auf die Traditionen des Widerstandes zu besinnen und von Beispielen aus der Geschichte zu lernen.
Wenn ein kleines Volk die Unabhängigkeit von macht- und ressourcelüsternen Grossmächten behalten wolle, seien der Durchhaltewillen und die Taktik des Guerillakrieges immer von Erfolg gekrönt gewesen. Stahel verweist auf den irakischen Widerstand, und auch auf die Afghanen, die sich in ihrem Gebirgsland nie von einer Grossmacht, weder den Briten noch den Sowjets, unterwerfen liessen – und die Nato sei heute in ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die afghanische Bevölkerung bereits selber in schwerste Schieflage geraten. In der „NZZ am Sonntag“, vom 11. März 2007, fordert der Oberstleutnant ausser Dienst, die Schweiz müsse sich wieder systematisch durch vorbereitete Sprengungen und Hindernisse auf den Überfall einer militärischen Grossmacht vorbereiten: Militärisches Vorbild sind die irakischen und afghanischen Guerilleros mit ihrer erfolgreichen Kriegführung, denkt er. Selbstmordattentate auf belebten Marktplätzen, Taliban-Ausbildungscamps, Panzersperren auf Alpweiden und Sprengladungen an Autobahnbrücken?

Dazu ist zu fragen: Wie hoch war der Preis den die Afghanen bezahlt haben? Wie ist die Situation heute in Afghanistan? Hätte es nicht einen anderen Weg gegeben? Wie viele Vietnamesen sind seinerzeit umgekommen bei ihrem „erfolgreichen“ Kampf gegen Frankreich und die USA? Wie viele Männer, Frauen und Kinder sind in Guatemala, in Nicaragua, El Salvador, in Kolumbien, in Algerien in all diesen Guerillakriegen ums Leben gekommen? Und was heisst Erfolg? Zehntausende Menschen in Vietnam sind heute noch krank durch die Bombardierungen der US-Luftwaffe mit dem giftigen Entlaubungsmittel Agent Orange. Afghanistan ist verseucht von Minen, Clusterbomben und Uranmunition. Algerien kam nach der erkämpften Unabhängigkeit, dem Krieg der schätzungsweise einer Million Menschen das Leben gekostet hatte, nicht zur Ruhe.

Gewaltfreie Konfliktlösungen statt Guerillakrieg
Lässt sich überhaupt eine humane und freie Gesellschaft mit militärischen Mitteln erzwingen, mit einem Kampf der in der Regel einen Berg von Leichen hinterlässt? Ueli Wildberger, ein Spezialist für gewaltfreie Konfliktlösungen, war für Peace Brigades International in Guatemala im Einsatz und war und involviert in die Tätigkeit des Balkan Peace Team in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo. Er sieht grosse Chancen in gewaltlosen Methoden. Er erinnerte daran, dass Guerilla Organisationen in vielen Fällen entarten, wie er das in Guatemala beobachten konnte und wie es heute zum Beispiel in Kolumbien wieder festzustellen ist. (siehe auch die Publikation „Gewaltfreie Friedenslösungen statt Militäreinsätze, Ueli Wildberger im Gespräch“)

Unabhängigkeit der baltischen Staaten wurde gewaltlos erreicht
Aus der jüngeren Geschichte gibt es Beispiele, dass gewaltlose Bewegungen erfolgreich sein können. Zum Beispiel wurde der Kampf für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten gewaltlos geführt. Im Zuge der Auflösung des sowjetischen Imperiums, die Gunst der Stunde nutzend, erreichten die Balten, niemand hätte an so etwas geglaubt, ohne Krieg die Unabhängigkeit und den Abzug der Roten Armee. Ein gewaltsames Vorgehen der Esten, Litauer und Letten gegen die russischen Besatzer, mit Bomben und Attentaten, hätte sicher eine blutige Reaktion der Roten Armee ausgelöst, wie in Tschetschenien. Nach 50 Jahren diktatorischer Besetzung durch die Sowjetunion gelang es den Balten gewaltlos die russische Besatzung zu beenden. Der Tschetschene, General Dudajew, er war der letzte Kommandant des Atomwaffen-Stützpunktes Tartu in Estland, hätte vielleicht seinem Volk die Blutlachen ersparen können, wenn er estnisch gelernt hätte, wenn er später als Präsident Tschetscheniens wie die Esten den gewaltlosen Weg gewählt hätte, wie der Schriftsteller Heinz Stalder schrieb. Dudajew wurde durch die russischen Besatzer nach der militärischen Intervention, die 1994 begann, in Tschetschenien ermordet. (siehe auch NZZ vom 16. Dezember 1995, Heinz Stalder über die unblutige Revolution in Estland, "Wanderer, kommst du nach Tartu") Die Sichtweise, ein Regime der Diktatur und der Unterdrückung zu überwinden sei nur mit Gewalt möglich, stellte der friedliche Umbruch in Osteuropa und der Falle der Berliner Mauer gründlich in Frage.

Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg
Der Berliner Friedensforscher Theodor Ebert, der die Bewegung im Baltikum in der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung vor Ort beratend beobachtete, fand dort erneut eine Bestätigung, dass der gewaltlose Kampf erfolgreich sein kann. Ebert veröffentliche schon 1972 die Studie "Gewaltfreier Aufstand - Alternative zum Bürgerkrieg", (auch als Taschenbuch publiziert), eine Studie die gerade heute in unserer so gewaltgläubigen Zeit, der Terroristen à la Al Kaida und des weltweiten Krieges gegen den Terror, aktuell sein müsste. Ebert war den auch sehr enttäuscht, als die Balten kurz nach ihrer Unabhängigkeit daran gingen eigene Armeen aufzubauen.

Auch unter extremen Diktaturen, sogar unter dem Naziregime, in Norwegen, Dänemark unter anderem, waren gewaltlose Aktionen oft erfolgreicher als Operationen der bewaffneten Résistance in Frankreich oder Jugoslawien. Dazu gibt es eine umfangreiche Literatur, zum Beispiel das Buch „Die gewaltfreie Aktion“ von Gernot Jochheim, erschienen 1984 im Rasch und Röhring Verlag.

Kriegsfolgen im Zeitalter von Kernkraftwerken und Atommüllagern
Noch etwas spricht heute für ein gewaltfreie Verteidigung: Ein konventioneller militärischer Verteidigungskrieg in Westeuropa könnte noch furchtbarere Zerstörungen zur Folge haben als in Tschetschenien oder im Libanon. Auch eine guerillamässige Verteidigung, wie Professor Albert A. Stahel sie sich vorstellt, wäre eine Katastrophe. Man denke nur an die Atomkraftwerke die in einem Krieg hochgehen könnten, falls die Notkühlungen bei Kämpfen während einiger Tagen ausfallen würden. Eine schwere Panne in einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage, in La Hague (Frankreich) bei der Cogéma oder in Sellafield bei der British Nuclear Fuels Ltd., würde weite Teile Europas, je nach Windrichtung, mit einer radioaktiven Verseuchung unbewohnbar machen.
Auch Atommülldeponien und Lager für abgebrannte Brennstäbe sind schon im Normalbetrieb eine sehr unsichere Sache. Im Krieg könnten diese Lager beschädigt werden, wie auch durch Terroranschläge. Die strahlenden radioaktiven Rückstände die in Tanks oder so genannten Abkling-Becken gelagert werden, müssen nämlich ständig gekühlt werden. Ohne Kühlung kocht die radioaktive Sauce über, verbreitet sich und verseucht weite Landstriche. 1957 explodierte in der Sowjetunion, in der Nähe der Wiederaufbereitungsanlage Majak, ein solcher Atomabfall-Behälter. Gegen eine halbe Million Menschen wurden damals einer hohen Dosis von radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Die Strahlung in der Nähe der Anlage von Majak ist, laut Greenpeace heute noch, um ein Mehrfaches stärker als jene in der Nähe des Havarie-Reaktors in Tschernobyl.

Leider wird weiter auf die militärische Option gesetzt

Leider wird heute weiter vor allem auf die militärische Option gesetzt. Weltweit wird aufgerüstet, während täglich 18'000 Kinder an den Folgen von Hunger sterben, wie die Hilfsorganisation Caritas in ihrem Spendenaufruf kürzlich vermerkte. In Osteuropa wollen die Amerikaner jetzt Abwehrraketen installieren, die vom Kremlchef Putin, als ein Element des "strategischen Nuklearpotenzials der USA" bewertet werden. Russland will darauf militärisch reagieren. Putin wörtlich: „Natürlich müssten wir dann neue Ziele in Europa ins Visier nehmen". Der Irrsinn nimmt kein Ende. Die Frage: Verteidigungskrieg, Guerilla oder Gewaltlosigkeit bleibt offen.

Heinrich Frei
05. Juni 2007
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