Oben A sagen, unten B tun

Im Neoliberalismus wird der schöne Begriff «Verantwortung» missbraucht.

Der Einzelne soll auf seine Kosten das Versagen der Politik korrigieren. Von «Eigenverantwortung» wird vor allem dann gesprochen, wenn sich die Institutionen aus der Verantwortung zurückziehen. Trotzdem gibt es eine wirkliche Verantwortung des Bürgers: Sie besteht darin, die Macht dieser Institutionen zu brechen.
    

Ein bisschen Eigenverantwortung finde ich schon richtig», sagte mein Zahnarzt, als er mir die hohe Rechnung präsentierte. Meine Krankenkasse würde davon keinen Cent übernehmen. Auch der deutsche FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle fordert mehr Eigenverantwortung. Für die Pflegeversicherung solle – wie schon bei der Rente – jeder selbst vorsorgen. Auf dem Arbeitsmarkt gilt schon längst: «Fördern und Fordern». Der geringe Hartz IV-Satz soll «die Eigenverantwortung des Leistungsempfängers stärken». Das hört sich gut an. Scheinbar steht dahinter das Ideal einer autonomen Persönlichkeit. Man befreit sich aus Abhängigkeiten und trifft für sein Leben Entscheidungen. Geht es schief, trägt man dafür die Verantwortung. Ich bin gerührt, dass sich Menschen wie Brüderle und mein Zahnarzt so für meine Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit engagieren.
Haben wir es uns bisher etwa zu leicht gemacht? Angela Merkel jedenfalls wirft uns vor: «Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt.» Prinz Charles setzt eins drauf: «Wir zerstören die Klimaanlage unseres Planeten.» Dirk Fleck, Autor einiger Öko-Thriller, nennt uns pauschal die «Tätergeneration». Wir würden mit unserer Art zu leben und zu wirtschaften die Lebensgrundlagen unserer Nachkommen zerstören. Das bedrückt mich umso mehr, als ich ja schon von Geburt an dem Tätervolk (Deutschland) und dem Tätergeschlecht (Männer) angehöre. Erdrückend viel Schuld für einen eigentlich ziemlich harmlos wirkenden Typen. Ich schlafe in letzter Zeit schlecht.

Schuld sind immer wir
Die drastische und pauschale Zuschreibung von Verantwortung an die breite Masse, an Sie und mich, ist heute gängige Rhetorik. Wenn ich eine bessere Welt will, fange ich mit der Veränderung bei mir selbst an. Eigentlich könnte man sich ja darüber freuen, dass Verantwortung ein Zeitgeist-Thema geworden ist. Und es gibt echte Verantwortung und echte Schuld. Ich wehre mich aber entschieden gegen Übertreibungen und den Missbrauch des Begriffs «Eigenverantwortung».
 Beispiel Zahnarzt: Ich putze meine Zähne so gut, dass der Zahnarzt seit vielen Jahren nichts zu meckern hat. Obendrein gehe ich regelmässig zur Vorsorge. Ich bin meiner Verantwortung also beispielhaft nachgekommen. Die Prophylaxe zahle ich trotzdem aus eigener Tasche, zuzüglich Praxisgebühr. Eine Art Geldstrafe für vernünftiges Verhalten.
Beispiel Glühbirnen: Es wird so getan, als ob in der Verwendung der richtigen Glühbirne der Dreh- und Angelpunkt für die Rettung der Welt läge. Die Wahrheit ist: Nur etwa ein Zehntel des CO2-Ausstosses entfällt überhaupt auf Privathaushalte, davon ca. ein Zwanzigstel auf Beleuchtung, also ein Zweihundertstel. Für den Energieexperten Hans Arpke geht die Verantwortung des Endverbrauchers in Sachen Licht gegen Null: «Glühbirnen alten Typs geben Wärme ab. Wenn sie durch temperaturneutrale Energiesparlampen ersetzt werden, könnte der Verbraucher dies im Winter kompensieren, indem er die Heizung weiter aufdreht.»
Beispiel Friedenspolitik: Hier herrscht oft eine Eigenverantwortungs-Mentalität, die zu kurz greift. Spirituelle Menschen argumentieren: «Der Friede beginnt in dir». Der Friedenspsychologe Prof. Gert Sommer mahnt politisches Engagement an: «Mit sich selbst im Frieden zu sein ist auch schön. Aber selbst wenn 99 Prozent der Weltbevölkerung mit sich im Frieden sind und 1 Prozent ist es nicht, dann reicht das völlig aus, um Kriege zu führen.»

Beispiel Fair-Trade-Produkte. Hier kann der Käufer tatsächlich etwas tun, allerdings mit Einschränkungen. Erstens wird ihm ethisch richtiges Handeln durch den Preis erschwert. Wohlmeinende zahlen eine Art Ethik-Strafgebühr. Zweitens verschleiern die Grosshändler bewusst die unfairen Herstellungsbedingungen bei den meisten Übersee-Produkten. Gleichzeitig werden die Verbraucher durch massive Werbekampagnen ständig zur Bedenkenlosigkeit verführt. Es braucht viel Zeit- und Energieaufwand, um informiert zu sein und Fehlentscheidungen auszuschliessen. Die Frage ist also: Warum kaufen mächtige Multis nicht von vornherein nur faire Produkte ein? Oder warum verbietet der Staat nicht einfach den unfairen Handel?


«Verantwortlich» im Kleinen, machtlos im Grossen

Der Endverbraucher soll also die Fehler kompensieren, die vorher von grossen, mächtigen Organisationen begangen wurden. In Anlehnung an das Thema dieses Hefts heisst das: Die sagen «A», wir sollen «B» tun. Es findet eine Art Crowdsourcing des Verantwortungsgefühls statt. Der wohlmeinende Verbraucher lädt das ganze Elend der Welt auf sein Gewissen: «Wenn ich korrekt einkaufe, gibt es keine Ausbeutung mehr.» Dies könnte ein Fehlschluss sein. Die wesentlichen Probleme können nur durch Strukturveränderung und politische Entscheidungen im Grossen gelöst werden. Naheliegend wäre es zum Beispiel, die Gewinnspanne der Aldi-Brüder (geschätzte 34 Milliarden Euro Vermögen) drastisch zu reduzieren. Das Geld könnte eingesetzt werden, um Herstellern fairere Preise zu bezahlen. Auch müsste die Gewinnabschöpfung durch Personen verhindert werden, die keine Eigenleistung erbringen.
Innerhalb des alten Systems erleben wir jedoch immer wieder das alte Spiel: Arbeiter und Endverbraucher sollen das kleine Stück vom Kuchen unter sich aufteilen, das die Abzocker übrig lassen. Der österreichische Sachbuchautor Christian Felber sieht dahinter ein perfides System: «Wir werden vom eigentlichen Platz des politischen Geschehens ferngehalten und in die Supermärkte gelotst, wo wir unsere demokratische Verantwortung ausleben sollen, in einem zugewiesenen Reservat der Wahlfreiheit als Ersatz für echte Demokratie.» Felber trifft den Kern: Die Bürger werden von wichtigen Entscheidungen systematisch ausgeschlossen. Zum Beispiel durch die Verweigerung direkter Demokratie (ausser in der Schweiz) und durch Verlagerung von Entscheidungen auf die EU-Ebene. Gleichzeitig sollen wir uns «immer verantwortlicher» fühlen.


Kampfbegriff der Unverantwortlichen
Mit Blick auf die von Staat und eingebetteten Medien lancierten Kampagnen kann man feststellen: Eigenverantwortung wird immer dann angemahnt, wenn uns jemand dazu zwingen will, Verschlechterungen unserer Lebenssituation hinzunehmen. Eigenverantwortung wird von denen angemahnt, die sich aus der Verantwortung zurückziehen, obwohl sie gut dafür bezahlt werden, diese zu tragen. Ein Beispiel: Bei der «Bankenrettung» 2008 wurde klar, dass Banken zwar ungeniert mit Milliardensummen zockten, aber nicht einsahen, warum sie die Verluste selbst tragen sollten. Dafür hat man ja den Steuerzahler. «Eigenverantwortung» ist heute vor allem der Kampfbegriff der Unverantwortlichen.Unsere Verantwortung steht und fällt mit unserem realen Einfluss auf das Geschehen. Der ist oft kleiner als wir denken. Deshalb greifen auch wohlmeinende Appelle aus der Aktivistenszene oft zu kurz. So lesen wir im Webmagazin «Sein», «dass ein Wandel nicht durch politischen Widerstand und Gewalt erzeugt werden kann, sondern bei jedem Einzelnen beginnt, in jeder einzelnen Entscheidung, die wir jeden Tag treffen.» Schade, dass der Autor mit der Gewalt gleich auch den Widerstand entsorgt hat. Die Machthaber können sich nur freuen, dass solche Halbwahrheiten im Volk kursieren. Sie müssen dann nur noch unseren Entscheidungsspielraum auf ein für sie ungefährliches Mass verkleinern – und genau das geschieht.

Gefährlicher «Zuständigkeits-Burnout»
Das Energie- und Zeitbudget des Menschen ist begrenzt, sein Verantwortungsbereich dagegen potenziell unbegrenzt. Besonders problematisch ist der Satz: «Wer zuschaut, ist mitschuldig». Er führt, wörtlich genommen, sehr schnell zu einem «Zuständigkeits-Burnout». Natürlich darf man, wenn einer gerade ertrinkt, nicht am Ufer stehen bleiben. Wer sich allerdings für den ganzen Globus zuständig fühlt, kommt schnell an seine Grenzen. Das neoliberale Menschenbild zieht eine Negativspirale nach sich: Da sich das Kollektiv zunehmend weigert, Verantwortung für uns zu übernehmen, sind wir dauernd damit beschäftigt, für uns selbst zu sorgen. In der Folge haben wir nicht mehr die Kraft, Verantwortung für das Kollektiv zu übernehmen.  Appelle an unser Verantwortungsgefühl suggerieren eine beliebige Ausweitung der Zuständigkeiten. Schwierig wird es, wenn unser Handeln massiv Herrschaftsinteressen berührt. Ein Beispiel sind die Komplementär- oder Regionalwährungen. Wenn sie dem System der Kontrolle über das Geldwesen gefährlich werden, könnten sie von heute auf morgen verboten werden. So geschah es 1932 beim berühmten Geldexperiment von Wörgl.

Schuldgefühle machen klein
Es stellt sich die Frage, wie es möglich war, Verantwortung so massiv auf den «einfachen Bürger» abzuwälzen. Zunächst ist der Verantwortungstransfer natürlich eine psychische Selbstentlastung der wirklich Mächtigen. Zweitens sollen die finanziellen Nachteile verantwortlichen Handelns auf uns verschoben werden. Mir erscheint aber noch ein dritter Grund wichtig: Die dunkle Schwester der Verantwortung ist die Schuld. Und mit Schuldgefühlen kann man Menschen manipulieren. Wer Verantwortung übernimmt, ohne entsprechende Einflussmöglichkeiten zu haben, wird sich schnell als Versager fühlen. Schuldgefühle lähmen, machen uns klein und lassen uns glauben, wir hätten eine Besserung der Verhältnisse gar nicht verdient. Der US-amerikanische Bürgerrechtler Noam Chomsky schreibt: «Die Menschheit soll denken, sie sei wegen zu wenig Intelligenz, Kompetenz oder Bemühungen die einzig Schuldige ihres Nicht-Erfolgs. Das ‹System› wirkt also einer Rebellion der Bevölkerung entgegen, indem dem Bürger suggeriert wird, dass er an allem Übel schuld sei, und mindert damit sein Selbstwertgefühl.»
Warum übernehmen viele Menschen die Verantwortung, die ihnen zugeschoben wird, scheinbar bereitwillig? Ich vermute, dahinter steht der Wunsch, sich mächtig zu fühlen. Der König im Buch «Der kleine Prinz» befiehlt allmorgendlich der Sonne, aufzugehen. Abends befiehlt er ihr dann wieder unterzugehen. Und siehe da: Sie gehorcht. Auch in der Esoterik ist es üblich, dem Individuum die Urheberschaft an allem zuzuschreiben («Ich bin Schöpfer meiner Realität»). Ich sehe darin eine Abwehr von Machtlosigkeitsgefühlen, die als unerträglich erlebt werden. Die Grössenfantasien spriessen in dem Mass, wie unsere tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten durch die Institutionen zurückgedrängt werden.

«Ent-schuldigt euch!»
Möchte ich mich etwa selbst vor Verantwortung drücken? Ich versuche, uns alle von falschen Selbstvorwürfen zu entlasten. Dafür muss ich uns aber mit einer Verantwortung belasten, die meist gar nicht als solche erkannt wird: Sie besteht darin, die bestehenden Machtstrukturen anzugreifen und zu stürzen. Die Kräfte also, die darüber entscheiden, dass unsere Steuergelder in Kriegsgerät fliessen, dass das Volk Geld nur als Schuldgeld von Privatbanken beziehen kann und diese das Geld in einem wahnwitzigen legalen Raubzug ständig von unten nach oben pumpen. Wir müssen handeln. Nicht weil wir schuld daran sind, dass die mies bezahlten Arbeiter in den Bananenplantagen an den Spritzmitteln ersticken, sondern damit eine Welt entsteht, in der dies nicht mehr geschehen kann. Zwischen «weil» und «damit» besteht ein grosser Unterschied, wie Noam Chomsky gezeigt hat: Fühlen wir uns als Versager, macht uns das depressiv und antriebsschwach. Fühlen wir uns dagegen als wertvolle Menschen, deren Würde von Machtkartellen verletzt wurde, werden wir selbstbewusst unser Recht einfordern. Wer die Verantwortung für alles übernimmt, neigt zur Nabelschau, anstatt an der Umwälzung der Verhältnisse zu arbeiten.

Jenseits der Grössenfantasien
Dies ist kein Aufruf, die «kleinen Schritte» zu einem anständigeren Leben zu unterlassen. Ich finde es wichtig, unnötige Autofahrten bleiben zu lassen und fair gehandelten Orangensaft zu kaufen. Aber diese Dinge sollten nebenbei geschehen und allmählich in Fleisch und Blut übergehen. Das Leben des politisch erwachten Menschen sollte noch Kraft für die grossen Auseinandersetzungen frei halten. Das kann bedeuten, auf die Strasse zu gehen, Plätze zu besetzen und Banken zu umzingeln. Das kann bedeuten, bei Regen und Kälte draussen zu stehen und durch die bedrohlichen Spaliere hochgerüsteter Polizisten zu marschieren. Das kann auch bedeuten, den Ungehorsam zu proben und dafür die Konsequenzen in Kauf zu nehmen.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum es so beliebt ist, zu sagen: «Ich fange lieber mit kleinen Veränderungen bei mir selbst an»? Es ist einfach bequemer, Fair-Trade-Rosen für 3 Euro zu kaufen, als auf die Strasse zu gehen und sich mit der Macht anzulegen. Das Erstere verschafft ein wohliges Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Letzteres verursacht Angst, ist riskant. Es ist oft mit Selbstzweifeln verbunden oder bedeutet zähes Ringen mit Mitstreitern um den richtigen Weg. Gerade dies wäre aber wirkliche Eigenverantwortung ohne falsche Schuldgefühle und Grössenfantasien. Ja, die Veränderung muss bei jedem Einzelnen anfangen. Aber sie darf nicht dort aufhören. Wir haben Verantwortung, aber sie besteht zunächst darin, zu erkennen, wofür wir nicht verantwortlich sind.



Mehr zum Thema «Wer A sagt, muss B tun» im neusten Zeitpunkt: http://www.zeitpunkt.ch/archiv/2012/117-wer-a-sagt-muss-b-tun.html
21. Januar 2012
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