Wann wir uns ausgeliefert fühlen - und wie wir damit umgehen können
Wenn wir einen Raum betreten, in dem andere Menschen versammelt sind und wir dazukommen, passieren in uns etliche Abläufe auf der Ebene des autonomen Nervensystems, in den Gedanken, Gefühlen, Körperwahrnehmungen und in unserem Verhalten. Wenn uns solche Abläufe irritieren, gibt es Chancen, unser Erleben neu zu erleben.
Wie möchte ich mich fühlen, wenn ich in eine Gruppe von unbekannten Menschen komme? Foto: Getty images
Wie möchte ich mich fühlen, wenn ich in eine Gruppe von unbekannten Menschen komme? Foto: Getty Images

Oft machen wir uns darüber keine bewussten Gedanken, weil es ja jedes Mal ungefähr so läuft; und was daran unangenehm ist, geht irgendwann vorbei, wir gewöhnen uns daran. Schliesslich sind wir meistens aus irgendeinem übergeordneten Grund in dieser Situation und nicht zur Erkundung unserer Innenwelt.

Immer öfter gibt es Menschen, die ihr inneres Erleben in einer Ansammlung von Menschen direkt in Kontakt bringen und zum Thema machen. Dadurch entspannt sich oft etwas in ihnen und auch im Gegenüber. Diese Kultur der Offenheit, mit dem eigenen Erleben in Gesprächen aufzutauchen, ist allerdings relativ neu in gewissen Kreisen. Nicht selten befürchtet man dadurch schon eine Abwertung durch andere. Doch es nimmt zu, dass man sich traut.

Ganz grundsätzlich können viele Befürchtungen aktiv werden, sobald wir Menschen um uns haben, die uns noch nicht sehr vertraut sind. Das ist tatsächlich zur Normalität geworden, viel eher als dass man sich entspannt und allen Menschen vertraut, die da sind. Dazu gibt es unterschiedlichste Erklärungsmodelle und auch vielfältige Ansätze, dieser kuriosen Tatsache kollektiv wie individuell zu begegnen.

Eine trauma-informierte Perspektive würde die Vermutung anbringen, dass unvertraute Menschen aus unserem Blickwinkel Eigenschaften haben, die uns bewusst oder unbewusst an günstige oder ungünstige Erfahrungen mit gewissen anderen Menschen in der Vergangenheit erinnern. Entsprechend reagieren wir auf all den genannten Ebenen (Gedanken, Gefühle, Körperwahrnehmungen, Verhalten usw.) wohl schneller, als wir uns dafür oder dagegen entscheiden können. Insbesondere auf der Ebene des autonomen Nervensystems hat unser Wille so gut wie keinen Einfluss. So kann es sich so anfühlen, als sei man der Situation ein Stück weit ausgeliefert – und erfährt dabei eine Art Kontrollverlust  (z.B. Erröten, Herzklopfen, Zittern, flacher Atem, Nervosität usw.).

Aber auch auf der Ebene unserer in der Kindheit etablierten Überlebensstrategien haben wir nicht immer einen Einfluss; es sei denn, wir haben uns schon tiefer damit auseinandergesetzt und kennen unsere gewohnheitsmässigen Reaktionen in solchen Situationen. In einer Zeit, wo wir noch nicht in der Lage waren, mit dem eigenen Nervensystem jede Situation zu verarbeiten, brauchten wir Auswege aus der Not: So entstanden unsere Überlebensstrategien.

Menschen, die sich im Kontakt mit unbekannten anderen Menschen aktiv und zugewandt bewegen, sind nicht unbedingt frei von solchen Strategien. Rückzug und Hemmungslosigkeit sehen zwar gegensätzlich aus, können aber ursprünglich in ähnlichem Ausmass gefundene Möglichkeiten sein, um sich vor den Gefahren der Überwältigung zu retten. Später sind diese Strategien dann oft willkommene innere und äussere Ablenkungen, die uns helfen, um zum Beispiel einen Ausweg aus dem unangenehmen Gefühl in einer Gruppe zu finden.

Diese Schilderungen sollen jetzt in keiner Weise dazu führen, dass man sich «falsch» oder «entlarvt» fühlt, wenn man sich in der einen oder anderen Beschreibung wieder erkennt. Im Gegenteil: Wir dürfen uns gratulieren, wenn wir diese Intelligenz von damals wertzuschätzen lernen. Wie gut wir uns angepasst hatten an eine Situation, die damals anders nicht zu bewältigen gewesen wäre – als durch entweder Rückzug oder Hemmungslosigkeit. Denn wie gesagt: Beide Strategien (und noch unzählige mehr) dienten mit höchster Wahrscheinlichkeit aus dem gleichen guten Grund dem gleichen Ziel: ursprünglich lebensbedrohliche Überwältigung zu überbrücken um zu überleben. Grossartig!

Als erwachsene Menschen haben wir nun verschiedene neue Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man sich der Frage widmen: Wer oder was möchte ich aus tiefstem Grundimpuls eigentlich sein? Wie möchte ich mich fühlen, wenn ich in eine Gruppe von unbekannten Menschen komme?

Wir tragen alle die Veranlagung in uns, zutiefst im Vertrauen mit dem Leben und unseren Mitmenschen zu sein. Dieses Potenzial können wir mit solchen oder anderen Fragen in Erinnerung rufen. Damit können wir uns selbst orientieren – und diese Orientierung im Kontakt mit einem selbstverbundenen, erwachsenen Gegenüber bestätigen.

Solche Möglichkeiten tun sich uns mit neuen Therapie-Modellen auf. Die Zeit des Ausgeliefert-Fühlens kann für viele Menschen unkompliziert ein Ende nehmen, wenn genügend innere Kapazität zur Verfügung steht, um den gewohnten Reaktionsmustern auf den verschiedenen Ebenen mit präsenter Begleitung zu begegnen.

Heute wollen wir vielleicht noch dafür ausgebildete Menschen als Unterstützung herbeiziehen. Aber im Grunde ist es naheliegend, dass es ausreichen kann, wenn wir in einer Gruppe unbekannter Menschen einfach präsente, mit sich selbst vertraute erwachsene Mitmenschen erwarten dürfen, bei denen diese Reaktionen bereits zur Ruhe gekommen sind. Wenn es jetzt nicht mehr als gefährlich erfahren wird, wenn all diese Reaktionen aus der Vergangenheit in einem abgehen, können neue Erfahrungen im Kontakt die alten sozusagen «überschreiben». Vielleicht trifft man immer öfter auf solche Menschen in einer unbekannten Menschengruppe, und es wird zunehmend gleichgültig, ob man sich schon kennt oder nicht, weil man einfach als Mensch da ist, der sich nebst der äusseren auch in einer ununterbrochenen inneren Transformation befindet.


Wir planen eine Reihe: Das menschliche Innenleben im Transformationszeitalter.
Wir durchleben als Menschheit einen der intensivsten Übergänge überhaupt. In Zeiten solcher Umwälzungen dehnt sich auch das menschliche Bewusstsein stetig weiter aus. Die lockere Reihe «Das menschliche Innenleben im Transformationszeitalter» will Zugang zu zeitgenössischen Sichtweisen und Erlebensqualitäten bieten, die sich mit zunehmendem Bewusstsein auftun. 

Estherina De Stefano

Estherina De Stefano

Estherina De Stefano, Körperorientierte Psychologin, NARM™-Practitioner, Energetikerin, Eltern-Coach. Mutter zweier Jugendlichen, lebt in Degersheim SG. Sie widmet sich mit ihrer therapeutischen Arbeit den inneren Transformationsprozessen und begleitet Menschen in ihrer Praxis vor Ort in Degersheim und online via Zoom.

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