Zwischen da und dort
«Das erste Mal» – wann immer wir eine Grenze überschreiten, schenkt uns das Leben eine neue Erfahrung. Aber auch das Gegenteil – ein Hindernis – lehrt uns viel über uns selber. Die Grenzwissenschaften könnten daher die Menschheit ein schönes Stück weiterbringen.
Was sind die Momente der Wahrheit in einem Leben? Wenn wir Grenzen überwinden und etwas zum ersten Mal tun. Der erste Schultag vielleicht, bestimmt der erste Kuss und der erste Sex, eine grosse Reise, Promotion, Heirat oder Kinder. Noch stärker sind unsere Erfahrungen, wenn wir an Grenzen stossen: eine Liebe nicht erwidert wird, wenn wir eine Stellung verlieren oder eine schwere Krankheit uns die Zukunft nimmt.
Solche Ereignisse befördern uns an einen neuen Ort im Leben, in einen neuen Abschnitt. Was vor kurzem noch «dort» war, wird durch die Entwicklung unseres Bewusstseins zu einem neuen Hier und Jetzt.
Wer die Qualität solcher Ereignisse beobachtet, wird bald feststellen, dass es vor allem die Begegnung mit dem Tod ist, die uns menschlicher und oft in einem tieferen Sinn lebendiger macht. Die Erzählungen über die Überwindung schwerer Krankheiten und die Dankbarkeit über die daraus folgenden Erfahrungen füllen eine ganze Bibliothek. Eine kleine Abteilung dieser Bibliothek ist den Nahtoderfahrungen gewidmet. Es sind Momente, in denen sich ein ganzes Leben zu einem einzigen Augenblick verdichtet und sich eine Tür zu einer anderen Welt öffnet. Wie wirklich ist sie?
Seit der österreichisch-amerikanische Arzt Peter Safar 1957 das Buch «ABC of Resuscitation» über die Rettung von Patienten mit Herzstillstand durch Herzmassage veröffentlichte, ist der Tod auch für die Wissenschaft kein abrupter Übergang mehr, sondern ein Prozess. Seither haben sich die Methoden der Reanimation beträchtlich verbessert; der Tunnel zwischen Leben und Tod – den viele Patienten mit dieser Erfahrung beschreiben – ist länger geworden.
Einen wichtigen Anstoss zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen der Nahtoderfahrung (NTE) lieferte 1975 der Bestseller «Life After Life» des amerikanischen Psychiaters Raymond Moody. Die zentralen, immer wieder beobachteten Elemente einer NTE sind gemäss Moody: ein überwältigendes Gefühl von Freiheit und Wohlbefinden; der Eindruck, sich ausserhalb des Körpers zu befinden; der Eindruck, durch eine Dunkelheit zu schweben und ein goldenes Licht wahrzunehmen; Begegnung mit einem «Wesen aus Licht», und/oder Erfahrung einer anderen, schönen Welt.
Nahtoderfahrungen stellen die traditionelle Wissenschaft vor ein grosses Problem. Sie geht davon aus, dass Geist nur im Gehirn entstehen kann und es daher nach einem Hirntod keine Wahrnehmung mehr geben dürfte. Moody wurde vorgeworfen, seine Studie hätte empirische und logische Fehler und er hätte die Erkenntnisse über Halluzinationen nicht berücksichtigt. Anderen Forschern ist es gelungen, bei Epilepsie-Patienten durch Stromstösse ausserkörperliche Wahrnehmungen zu provozieren. Aber ist das ein Beweis, dass es ein vom Körper unabhängiges geistiges Wesen nicht gibt? Nein. Der Versuch beweist einzig, dass Stromstösse bei Epilepsie-Patienten ausserkörperliche Wahrnehmungen hervorrufen können.
Die Existenz eines vom Körper unabhängigen Geistes ist die grosse Grenze der heutigen Wissenschaft. Anstatt diese Hypothese seriös zu beforschen, verwendet sie ihre Energie auf den Nachweis, dass NTEs vom (bereits toten) Gehirn produziert werden. Befürworter der Geist-Hypothese werden in die Esoterik verbannt, mit deren Erkenntnissen man sich gar nicht zu befassen braucht. Dies ist dem niederländischen Kardiologen Pim van Lommel (*1943) passiert, der von der Wochenzeitung Zeit als «Fraktionsvorsitzender der spirituellen Fraktion» bezeichnet wurde. Als Notfallmediziner führte er mit Kollegen ab 1988 eine Studie mit 344 Überlebenden eines Herzstillstandes durch – 62 mit einer NTE –, die 2001 in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht wurde. Ergebnis: Es gibt keine medizinischen, pharmakologischen oder psychologischen Faktoren, die Ursache oder Inhalt einer NTE erklären.
«Obwohl bei einer NTE das Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt wird, haben Patienten diese aussergewöhnlichen Erlebnisse», erklärt Pim van Lommel, Autor des Bestsellers «Endloses Bewusstsein» (Patmos, 2009), im Gespräch mit dem Zeitpunkt. «Das kann nur bedeuten, dass unser Bewusstsein nicht im Gehirn entsteht. Gegen diese Hypothese wehren sich allerdings viele meiner Kollegen, weil es nicht in ihr wissenschaftliches Konzept passt. Mehr als 95 Prozent der Wissenschaftler sind überzeugt, dass das Bewusstsein ein Produkt unseres Gehirns ist. Würde ihre Hypothese stimmen, wären NTEs unmöglich.»
Aufgrund seiner Erfahrungen ist Pim van Lommel überzeugt, dass Bewusstsein bereits vor der Geburt existiert und nach seinem Tod fortbesteht. Die Hirnzellen fungierten dabei als eine Art Empfangsmodul des Bewusstseins – «ähnlich wie ein Mobiltelefon, das aus den elektromagnetischen Feldern genau jene Anrufe herausfiltert, die für uns bestimmt sind». Was die Entwicklung der Wissenschaft betrifft, ist Pim van Lommel gelassen: «Ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaft findet statt.» Es braucht eben seine Zeit, Grenzen zu überwinden.
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