Der Intelligenzkiller im Kinderzimmer
Babys ausgiebig mit Handys spielen zu lassen kann desaströse Auswirkungen auf spätere kognitive Leistungen haben. Wissenschaft, Medizin und Beratungsinstitutionen stemmen sich zu wenig dagegen.
Seit einigen Jahren gibt es immer mehr 5. Klässler, die den 10-er Übergang nicht beherrschen, also nicht in einem Atemzug sagen können, wie viel 9+5 ergibt. Oder 6.-Klässler, die beim Einmaleins abzählen. Meistens handelt sich dabei um Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Für mich als Primarlehrerin ist eindeutig klar, was dahintersteckt: Das Smartphone. Beziehungsweise all die Primärerfahrungen, die es behindert, also Bälle rollen, Steinchen schmeissen, Flaschen aufschrauben. Die Wissenschaft spricht von Vorläuferkompetenzen, die vorhanden sein müssen, damit sich mathematisches Können überhaupt einstellen kann. Das fängt beim Aufschichten von Bauklötzchen oder Legosteinen an und geht bis zu den Gesellschaftsspielen. Aber auch Springen, Laufen, Drehen sind Raum- und damit mathematische Erfahrungen. All dies fehlt, wenn Spiele und Bewegung im Smartphone zusammenschmelzen.
Die Akteure, die aktiv Prävention betreiben sollten, wie Ämter und Beratungsdienste – schlafen den Schlaf der Gerechten. Das Schweizerische Bundesamt für Gesundheit (BAG) zum Beispiel hat vor allem die Jugendlichen im Fokus und lobt die smarten Geräte in den höchsten Tönen: «Die digitalen Medien bieten den Heranwachsenden vielfältige Entwicklungs- und Lernchancen. Indem sie aktiv an unserer Mediengesellschaft teilnehmen, eignen sich die Kinder die technischen Fertigkeiten an, die heute zur Bewältigung von vielen Alltags- und Berufssituationen notwendig sind.»
Diese Haltung dringt bis in die Kindergärten und Schulen vor, wo man überall ein «Rollout» an elektronischem Material für absolut matchentscheidend hält. Selbst Kindergärtnerinnen wiederholen den immergleichen Satz: «Die Kinder könnten etwas verpassen., wenn man sie nicht an die Geräte heranführt.»
Und bis auf wenigen Ausnahmen sind auch die Forscher wenig alarmiert. Sogar jene, die sich effektiv mit dem Thema der Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung der Kinder beschäftigen, winken ab. So behauptet die OEDC-Studie Impacts Of Technology Use On Children: Exploring Literature On The Brain, Cognition And Well-Being (2019) «Es gibt sehr wenige Korrelationen zwischen der Nutzung von Technik und den Auswirkungen auf die Kinder. Und es ist auch unklar, ob die Technologie diese Effekte verursacht hat.»
Fast scheint es, als ob die Allmacht der Tech-Firmen ein Narrativ produziert hat, das ungefähr so lautet: «Das Bedienen der elektronischen Medien gehört zu den Kernkompetenzen der Zukunft. Deshalb müssen Kinder so früh wie möglich an diese herangeführt werden.»
Dieses Narrativ verkennt zwei Tatsachen: Erstens ist das oberflächliche Bedienen von Laptops, Smartphones oder Spielkonsolen kinderleicht. Zweitens setzt die intelligente Nutzung des Internets, (Recherchieren, Nutzen von Dienstleistungen) ein vernetztes, logisches Denken voraus. Dies kann nicht mittels des Smartphones, sondern zunächst exklusiv in Interaktion mit der nichtelektronischen Umwelt aufgebaut werden.
So genannte „Digital Natives“ sind da anderen Generationen in keiner Weise überlegen.
Zu diesem Schluss kommt auch Daniel Süss. Süss’ Fachartikel über diverse Studien zu Kind und Mediennutzung ist auf der Homepage von «Pädiatrie Suisse» aufgeschaltet: «Die blosse Häufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der digitale Medien genutzt werden, garantieren keinen kritischen und kompetenten Umgang. (…) So genannte „Digital Natives“ sind da anderen Generationen in keiner Weise überlegen.» Allerdings sucht man auch bei den Schweizer Kinderärzten Empfehlungen zum Medienumgang vergeblich. Der Verband hat auf Anfrage lediglich auf Süss’ Fachartikel hingewiesen.
Nun gibt es in der Schweiz seit einigen Jahren Organisationen, die sich um die frühe Kindheit, also um die Lebensjahre zwischen 0 und 4 kümmern. Dazu gehört auch das Marie-Meierhofer-Institut für das Kind (MMI). Tatsächlich hat es zu zum Thema Kinder und digitale Medien, Laufzeit 2019-2013, geforscht. Aber weder das MMI noch Studienleiter Fabio Sticca von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) konnten bisher auf meine Anfragen antworten.
Besonders tragisch, dass ich auch vom Verein a-primo keine Antwort auf meine Anfrage zu ihren Erfahrungen mit Kleinkindern und Smartphones erhalten habe. Denn a-primo kümmert sich mit niederschwelligen Angeboten um die Zielgruppe der migrantischen Kleinkinder und deren Eltern.
Äusserst ernüchternd ist der Bescheid der Schweizerische Fachverband Mütter- und Väterberatung (SF MVB), die in allen Gemeinden Eltern mit Säuglingen beraten: «Der SF MVB gibt keine Empfehlungen zur Smartphone-Nutzung heraus.»
Auch für Carine Burkhardt Bossi, Leiterin für das Binationale Zentrum Frühe Kindheit (Biki), ist «das Smartphone nun mal ein unumstösslicher Begleiter im Alltag geworden, den man nicht verteufeln sollte». Sie weist auf die Forschungslücke hin: Es existieren noch keine Längsstudien gäbe zum Gebrauch der elektronischen Medien im Kinderzimmer.
Für mich klingt das so, als ob erst durch zeitaufwändige Studien erhoben werden müsste, ob Klettern an überhängenden Felsen für Ungeübte wirklich lebensgefährlich ist. Und man, solange diese Studien noch laufen, ja schon mal breite Strasse zu den exponiertesten Stellen bauen kann.
In der «Adele Studie. Der Medienumgang von Kindern im Vorschulalter (4-6 Jahre) Chancen und Risiken für die Gesundheit». wurde das Medienverhalten der Kinder anhand der Einschätzung der Eltern abgefragt. Die Forscher stellten Hypothesen auf, die sie durch die Antworten der Eltern veri- beziehungsweise falsifizierten. Die meisten Befunde leuchten ein: So konsumieren Kinder mehr Medien, je positiver die Einstellung der Eltern gegenüber diesen ist. Auch ADHS korreliert positiv mit der Bildschirmnutzung. Und tatsächlich konsumieren Kinder aus benachteiligten Haushalten mehr und länger Medien und seien deshalb vermehrt mit gesundheitlichen und anderen Problemen konfrontiert Die Studienautoren empfehlen deshalb: «Präventions- und Interventionsmassnahmen sollen so gestaltet werden, dass sie vor allem auch Eltern und Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen erreichen.»
Für vornehme Zurückhaltung besteht wirklich wenig Grund. Denn das Handy ist nicht nur in den Fingern kleiner Kinder eine Gefahr für deren geistiger Entwicklung. Studien haben ergeben, dass die vom Smartphone absorbierten Eltern auf ihr Kind einen «still face»-Effekt haben. Still face bedeutet, dass die Eltern keine angemessene Reaktion auf ihren Säugling haben, es also nicht anlächeln oder mit ihm brabbeln. Im Baby erzeugt dies das Gefühl, abgelehnt zu werden. Die Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Smartphones im Kindergarten: Smartphone-Nutzung durch Eltern und Sensibilität und Reaktionsfähigkeit der Eltern in der Eltern-Kind- Interaktion in der frühen Kindheit (0–5 Jahre) ergab, dass «die Smartphone-Nutzung der Eltern in Anwesenheit ihrer Kinder einen Einfluss auf die Sensibilität und die Reaktionsfähigkeit der Eltern hat».
Aber auch diese Studienautoren sehen sich ausserstande, Empfehlungen an Eltern und die sie beratenden Institutionen abzugeben. «Dieser Review kann dazu beitragen, zukünftige Forschungsthemen im Bereich der elterlichen Smartphone-Nutzung in der frühen Kindheit zu definieren, die es schliesslich ermöglichen würden, Eltern von Kleinkindern hinsichtlich ihrer Smartphone-Nutzung zu beraten und präventive Maßnahmen zu konzipieren, so die Studienautoren Agnes von Wyl et al.
Während die zuständigen Entwicklungsforscher seit Jahren also auf noch mehr Studien warten, entsteht in den Schulen ein gefährliches Leistungsgefälle. Denn Eltern aus der Mittelschicht besitzen häufig eine inhärente Skepsis gegenüber elektronischen Medien und bieten ihren Kindern durch ein angereichertes Umfeld mit Spielangeboten drinnen und draussen ein genügend grosses Gegengewicht zum Surfen und Wischen im Internet. Desaströse Züge nimmt das Smartphone allerdings in den Händen bildungsferner Eltern an. Häufig identifizieren diese den Besitz von möglichst viel elektronischen Geräten mit Fortschritt. Und wenn dann in der Primarschule die Lehrpersonen den Mediengebrauch im Elternhaus durch gutes Zureden einzuschränken versuchen, sind schon sehr viele Entwicklungsfenster geschlossen.
Aber auch diese Studienautoren sehen sich ausserstande, Empfehlungen an Eltern und die sie beratenden Institutionen abzugeben.
Dabei gibt es schon seit Jahren Studien, die davor warnen, dass hoher Medienkonsum mit schlechten Schulleistungen korrelieren. Dieser Befund trifft vor allem Migranten mit sozial tiefem Status. 2007 titelte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen «Die PISA-Verlierer. Opfer ihres Medienkonsums». In der Zusammenfassung stellen die Studienautoren fest: «Bereits als Viertklässler verfügen die vier PISA-Verlierergruppen in ihren Kinderzimmern über eine erheblich größere Ausstattung mit Fernseher, Spielkonsole und Computer als ihre jeweilige Gegengruppe. Als Folge dessen weisen sie schon als 10-Jährige und später als 15-Jährige einen weit höheren und auch inhaltlich problematischeren Medienkonsum auf als ihre bei PISA besser abschneidenden Vergleichsgruppen.»
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Kommentare
Wenn es nur die Kinder wären
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neue Generation
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