Libyen aus pazifistischer Sicht

Die Medien berichteten, dass libyische Rebellen im letzten Moment von eingreifenden westlichen Luftangriffen gerettet wurde. Der «Endsieg» gegen Gaddafi lässt aber immer noch auf sich warten. «Darf» man auch in diesem Krieg pazifistisch argumentieren? (Roland Rottenfußer)

Es ist keine leichte Zeit für Pazifisten. Einst wurden sie als „Vaterlandslose Gesellen beschimpft“. Heute müssen sie sich andere Vorwürfe anhören: Wäre es nach ihnen gegangen, hätte Gaddafi unter den libyschen Rebellen in Bengasi ein Massaker angerichtet. Solchen Konflikten müssen wir uns stellen. Wenn wir uns ernsthaft damit auseinandersetzen, kommen wir zu dem Schluss, dass keine Weltanschauung ohne Risiken oder Schattenseiten ist, nicht einmal der Pazifismus. Wenn unsere Überlegungen noch tiefer gehen, finden wir jedoch: Es spricht noch immer sehr viel für den Pazifismus, mehr als für den Krieg.



Es ist ja nicht wirklich überraschend und auch nicht neu. Grausame Diktatoren lösen einen Wutreflex aus: Warum kann man den nicht einfach ausschalten? Alle „gutwilligen“ Staaten der Erde zusammen wären doch ungleich stärker als er! Verstärkt wird der Handlungsdruck noch, wenn Massenmord oder gar Völkermord hinzukommt. Besteht da nicht geradezu eine Pflicht einzugreifen? Und sollten sich „Linke“ und „Alternative“, die seit jeher für Gerechtigkeit und Menschenrechte eintreten, nicht noch mehr dazu aufgerufen fühlen als Konservative? Die CSU pflegte z.B. traditionell ihre Freundschaft mit Diktatoren, was die Opposition in Bayern mehr immer kritisierte.



Libyen ist kein völlig einzigartiger Fall, auf den uns nichts hätte vorbereiten können. Wenn es der Pazifismus nicht schafft, sich angesichts des (laut Presseberichten) drohenden Massakers von Bengasi zu bewähren, können wir ihn gleich verschrotten. Der Fall Libyen kann aber auch unsere Argumente schärfen. Er kann dabei helfen, unsere eigenen Gefühle und Gedanken zu beobachten. Inwieweit lassen wir uns von der in den Medien suggerierten Kriegsstimmung mitreißen? Es führt zu nichts, sich vor dem Thema wegzuducken. Einige linke Medien weichen auf „Nebenkriegsschauplätze“ auf, etwa auf die Frage, ob deutsche Waffenhändler Gaddafi aufgerüstet haben. Das ist ein wichtiges Thema, und ich werde später noch dazu kommen. Aber damit sind nicht alle Fragen, die sich zu Libyen stellen, beantwortet. Ich will versuchen, die Argumente zu ordnen und zu bewerten. Zunächst einige Argumente, die bereits in der öffentlichen Diskussion vorkommen:



Argumente der Kriegsbefürworter, die mich nicht beeindrucken:



„Deutschland isoliert sich durch seine Enthaltung im Sicherheitsrat international.“ Amerikaner und Franzosen sind böse auf uns. Ein historischer politischer Fehler löst uns aus der bewährten Westbindung heraus. Sogar Russland und China stehen uns jetzt näher als unsere treuen Verbündeten. So heißt es in vielen Medien. Ich meine: Die USA, England und Frankreich sind alte Kriegstreiber, die immer neue Kriegsgründe aus dem Hut zaubern. Ihnen in jedes ihrer militärischen Abenteuer zu folgen, wäre Wahnsinn. Deutschland tut gut daran, vorsichtiger zu sein. Wenn es der eigenen Überzeugung entspricht, muss man selbstverständlich auch riskieren, sich zu isolieren. Ohne ein bisschen Mut ist es auch nicht möglich, den derzeitigen bellizistisch-wirtschaftsliberalen Mainstream zu überwinden.



„Die libyschen Rebellen verachten uns und werden uns nie verzeihen.“ Ich halte das für eine Medienkampagne, deren tiefere Ursachen ich später noch untersuchen werde. Bilder von libyschen Rebellen, die sich von Deutschland enttäuscht zeigen und sagen, sie würden uns nie verzeihen, sollen Druck ausüben. Es gibt 193 Staaten auf der Erde, nur ganz wenige sind im Libyen-Einsatz dabei. Warum sollte sich der geballte Zorn der Enttäuschten gerade auf Deutschland konzentrieren? Selbst verständliche Erwartungen anderer sind für uns zunächst keine Verpflichtung. Jede Regierung, jeder Einzelne muss nach seinem Gewissen und aufgrund weit blickender Vernunft handeln.



„Merkel und Westerwelle sind nur aus Angst vor ihren Wählern nicht in Libyen dabei.“ Das will ich doch stark hoffen. Regierungen sollten Respekt vor ihren Wählern haben und auch direkt auf Mehrheitsmeinungen zu Einzelthemen reagieren. Es spricht für die Mehrheit der Deutschen, dass sie Kriegseinsätze traditionell skeptisch sehen. Die Überheblichkeit mancher Politiker, die stolz auf ihre „Kraft zu unpopulären Entscheidungen“ sind, ist eigentlich demokratiefeindlich.



„Deutschland hätte entweder ja oder nein sagen sollen. Enthaltung gilt nicht.“ Das ist nicht der Knackpunkt. In solch schwierigen Fragen sind „Grautöne“ mitunter vernünftig und begründbar.



Es gibt aber auch Argumente von Kriegsgegnern, die mich nicht beeindrucken:



„Wir können nicht überall intervenieren.“ Das ist m.E. nur ein Scheinargument. Wenn ich kriegerische Einsätze gegen Diktatoren für richtig halte und zutiefst von ihrem Sinn überzeugt bin, tue ich eben, was ich kann. Soweit die militärischen Fähigkeit und die Stärke meiner Streitkräfte es zulässt, setze ich mich für mehr Gerechtigkeit ein: in Libyen, in Syrien, in Bahrain, an der Elfenbeinküste, in China usw. Nur wer den Sinn von Kriegen generell bezweifelt, ist glaubwürdig, wenn er an Interventionen nicht teilnimmt.


                         


„Deutschland hat das Recht, seinen eigenen Weg zu gehen.“ Das bezweifelt ja keiner, aber es entbindet nicht von der Verpflichtung, den Weg, den man dann geht, sorgfältig zu begründen.



„Der Ausgang des Libyen-Einsatzes ist ungewiss.“ Gewiss ist er ungewiss, aber das erspart uns nicht das Nachdenken darüber, welcher Verlauf wahrscheinlich ist und wie wir uns aufgrund dieser Prognose zu einer Mitwirkung Deutschlands stellen.



„Gaddafi ist ja auch ein bisschen sozialistisch.“ Dieses Argument hört man gerade in linken Kreisen. Gewiss ist es peinlich für den reichen Norden, wenn in Libyen das Gesundheitssystem kostenlos ist, während wir hierzulande für jedes verschriebene Aspirin 10 Euro Praxisgebühr abdrücken müssen. Es ist beeindruckend, dass Libyen offenbar das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Afrika hat. Irgendetwas muss der „Revolutionsführer“ also richtig gemacht haben. Andererseits sind die Gaddafis Kleptokraten. Die Unterdrückung der Opposition in Libyen, Folter, Todesurteile und Qualgefängnisse rechtfertigt nichts, aber auch gar nichts. Ich finde es bedenklich, wenn linke Publikationen die Verbrechen in Ländern wie China, Kuba und Libyen beschönigen – nach dem Motto: „Naja, die Genossen sind da ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen, aber es sind immerhin Genossen“. Sozialismus ist der Protest gegen alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes, erniedrigtes Wesen ist. Das beinhaltet den Protest auch gegen die libyschen und chinesischen Machteliten.



Nun nähern wir uns aber dem Knackpunkt. Hier sind zwei



Argumente der Kriegsbefürworter, die mich beeindrucken:



1. Die Rebellion gegen Gaddafi ist wie die Volksaufstände in Tunesien und Ägypten positiv zu bewerten – gerade für freiheitsliebende Menschen. Hätte man die Situation in Libyen sich selbst überlassen, wäre der Aufstand gnadenlos niedergeschlagen worden, tausende von Rebellen hätten den Tod gefunden.



2. Wäre Gaddafi mit einem harten Kurs gegen Teile seiner Bevölkerung durchgekommen, so hätte dies andere Diktatoren (etwa in Syrien oder im Jemen) ermutigt, die Widerstandsbewegungen dort ebenfalls brutal zu unterdrücken. Der „Dominoeffekt“, der zu einer Demokratisierung der arabischen Welt führen könnte, wäre zum Stehen gekommen.



Diese Argumente, ich sage es gleich vorweg, sind nicht ohne weiteres vom Tisch zu wischen. Es sei denn, die Medienmanipulation wäre so perfekt, dass uns ständig gefälschte Bilder und verdrehte Tatsachen untergejubelt werden. Davon gehe ich aber nicht aus. Ich glaube die Manipulation ist subtiler. Durch einseitige Auswahl, Weglassen unliebsamer Informationen und tendenziöse Kommentare werden wir beeinflusst. Das ändert aber nichts am Grunddilemma. Der Journalist Ulrich Kienzle hat es in der Sendung „Maybrit Illner“ gegenüber Oskar Lafontaine auf den Punkt gebracht: „Wenn es nach Ihnen gegangen wären, hätte es in Bengasi ein Massaker gegeben.“



Ich muss an dieser Stelle auch zugeben, dass ich nicht jedes Dilemma durch Gedankenakrobatik einer glatten Lösung zuführen kann. Es hilft nichts, sich an eherne Grundsätze zu klammern und den unliebsamen Teil der Wahrheit auszublenden. Es gibt für diesen Fall keine Entscheidung, die nicht auch ihre Schattenseite hätte. Es ist aber möglich zu begründen, warum mehr Argumente gegen eine Beteiligung am Libyen-Einsatz und generell für den Pazifismus sprechen  Dazu muss man auf Informationen aus der unabhängigen Presse und auf eigene Überlegungen zurückgreifen.



1. Jeder Kriegseinsatz, gerade der „erfolgreiche“, stärkt den guten Ruf des Kriegs als Mittel der Politik. Der ideale Krieg ist einer, den „unsere“ Seite relativ mühelos gewinnt, ohne eigene Verluste und ohne grausame Fernsehbilder. Bombardiert werden ja auch in Libyen bekanntlich nur „Stellungen“ oder „Panzer“, nicht Menschen. Schon hier schleichen sich Lüge und Verdrängung in unseren angeblich demokratischen öffentlichen Diskurs. Schon die Unterscheidung zwischen „zivilen“ und „militärischen Opfern“ führt implizit zu einer Verrohung unseres Denkens. Denn der Tod von libyschen Soldaten wird so nicht mehr in jedem Einzelfall als entsetzliche Katastrophe wahrgenommen. Es sind Menschen, die selbst bereit sind, zu töten, aber doch auch Verirrten, Manipulierte, Missbrauchte, die teilweise schon als Kinder in den Militärkadern Gaddafis sozialisiert wurden. Eine Todesstrafe gibt es bei uns aus gutem Grund nicht. Erst recht wird keinen Personengruppen pauschal das Recht auf Leben aberkannt – außer „feindlichen Kombattanten“. Je schneller und effizienter dieser Krieg also geführt wird und je weniger grausige Bilder über den Bildschirm flimmern, desto „beliebter“ wird Krieg auf lange Sicht. Hat Vietnam die Akzeptanz für Krieg drastisch verringert, könnte Libyen sie erhöhen. Vor allem, wenn befreite Rebellen öffentlich „Danke, Frankreich!“ und „Danke, USA!“ rufen. Der „erfolgreiche“ Krieg könnte Lust machen auf mehr und den Antimilitarismus öffentlich diskreditieren.



2. Über jeden Krieg freuen sich Waffenhändler. In Friedenszeiten müssen Waffen nur selten und auf Grund von „Materialermüdung“ erneuert werden. Allenfalls kann die Waffenindustrie „Updates“ verkaufen, die effizienteres Töten versprechen. Kriegszeiten sind dagegen goldene Zeiten für die Rüstungsindustrie. Gigantische Mengen an Material werden vernichtet. Wenn Libyen einmal „befreit“ ist, braucht es natürlich eine neue, schlagkräftige Armee (wer braucht die nicht?). Da werden Rüstungsfirmen der westlichen Welt liebend gern Ersatz für die vernichteten Panzer und Artilleriegeschütze heranschaffen. Frieden, das muss man deutlich sagen, ist für Waffenhändler ein Alptraum. Auch westliche Baufirmen werden vom Krieg nach dessen Beendigung profitieren. Die Wirtschaft als Ganzes profitiert zweimal: von der Zerstörung und vom Wiederaufbau. Und an den zu erwartenden Aufträgen hängen ja nicht nur Unternehmer und Angestellte, sondern auch Investoren. „Investition“ bedeutet im Klartext ethisch blinder, ökonomischer Opportunismus – es sei denn man investiert gezielt in ethische Projekte. Gibt es ein Erdbeben, kaufen Investoren Aktion von Begräbnisunternehmen, gibt es Krieg, investieren sie in Waffen. Verdienen Rüstungsunternehmen viel Geld, können sie wachsen, expandieren. Dadurch wächst auch ihr Einfluss auf die Politik, und in der Folge steigen wieder die Gewinne, usw. Ein einmal vorhandener monströser Komplex aus Profitinteressen und Arbeitsplätzen wird niemals freiwillig abdanken und seine eigene Überflüssigkeit erklären. Er wird immer Gründe suchen und inszenieren, die seine Fortexistenz rechtfertigen. Jemand wie Sarkozy, der offen androht, künftig in jedem vergleichbaren Fall militärisch zu intervenieren, ist der ideale Mitspieler für die Waffenindustrie. Er schenkt den Konzernen quasi ein zeitlich unbegrenztes Abo auf Milliardenprofite.



3. Krieg kostet Geld, mehr Staatsausgaben erhöhen die Staatsschulden. Auch wenn Hilfe für die Rebellen von Bengasi ohne jede Einschränkung eine gutes Sache wäre, würden dem drastischen Nachteile gegenüber stehen, weil das Geld anderswo fehlt. Ein langwieriger Krieg mit deutscher Beteiligung würde dazu führen, dass argumentiert wird, der Militärhaushalt müsse von Sparappellen ausgenommen werden. Schließlich möchte die Heimatfront „unseren Jungs“ in Afghanistan, in Libyen, in Syrien, Im Jemen usw. nur ungern in den Rücken fallen, nur wegen ein paar Pfennigfuchsern, die den Wehretat deckeln wollen. In der Folge steigt die Verschuldung weiter ins Unermessliche. Das freut natürlich jene Kräfte, die sich auf der Sonnenseite der Verschuldungsdynamik tummeln: die Gläubiger. Überwiegend also große Banken. Wie für die Bankenrettung würden noch Generationen von Steuerzahlern für den Libyenkrieg die Zeche zahlen. Unsere Kinder und Kindeskinder sind ohnehin schon pränatal versklavt. Jeder Kriegseinssatz verschärft das Problem. Denn Krieg mit geborgtem Geld bedeutet nicht, dass für 1000 Euro 1000 Euro zurückgezahlt werden müssen. Mit Zins und Zinseszins kann gut das Doppelte, das Dreifache, das Vielfache an Belastungen auf uns zukommen. Die Befreiung der Rebellen von Bengasi könnte mit der Versklavung der Steuerzahler erkauft werden und gleichzeitig die Machtkonzentration bei den Gläubigerbanken verstärken.



4. Die Entscheider müssen sich nicht selbst in Gefahr bringen. Weder Politiker noch Bürger, die vom heimischen Fernsehsofa aus den Libyenkrieg befürworten, müssen dort selbst ihren Kopf hinhalten. Und auch wenn Luftangriffe für Flieger in der jetzigen Situation relativ gefahrlos sind – wer ermisst den Schaden an den Seelen von jungen Soldaten, die für den Tod gegnerischer Soldaten verantwortlich sind? Würdest du den Libyeneinsatz auch dann befürworten, wenn du selbst hin müsstest – oder dein Sohn, dein, Mann, dein Bruder?



5. Schon ein „unschuldiger Toter“ wäre ein Argument gegen den Krieg. (Es stellt sich natürlich hier die Frage, was ein „schuldiger“ Kriegstoter ist.) Im Irak starben nach Schätzungen mindestens 66 000 Zivilisten (wahrscheinlich mehr). Wahrscheinlich werden es in Libyen deutlich weniger sein. Aber stell dir vor, du stündest mit geladener Pistole vor einem Kind. Würdest du es erschießen, wenn eine Autoritätsperson dir glaubwürdig versicherte, dass der Tot des Kindes einem höheren Zweck dient? Und gesetzt den Fall, es wäre dein Kind – welche Begründung für den Mord an ihm würdest du als triftig anerkennen? Freilich, wenn man Gaddafi freien Lauf lässt, sterben andere, ebenso unschuldige Menschen. Aber ihr Tod wäre nicht von deutschen Soldaten verursacht. Mord und unterlassene Hilfeleistung sind Verfehlungen von unterschiedlichem Gewicht. Mit Recht haben Weise und Religionsführer immer wieder darauf hingewiesen, dass man das Böse nicht bekämpfen kann, indem man sich ihm ähnlicher macht.



6. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Diese Erkenntnis ist ja nicht wirklich neu. In der öffentlichen Diskussion kommt sie aber kaum vor. Viele Libyer sind noch immer für Gaddafi – ob wir die Gründe dafür verstehen können oder nicht. Das besiegte, gedemütigte Lager wäre nicht für immer mundtot gemacht. Es würde Gelegenheiten suchen, sich zu revanchieren. Wo dies nicht offen möglich ist, bietet sich auch Terrorismus gegen die Angreiferstaaten an. Ich bin gegen Terrorismus-Hysterie und sehe darin auch eine Strategie zur Installierung eines zunehmend autoritären Staates. Vor dem Afghanistan-Einsatz war Deutschland kaum gefährdet. Wenn aber überhaupt etwas geeignet ist, Terror nach Deutschland zu tragen, so sind es Invasionen auf fremdem Territorium, die von vielen Einheimischen ihrerseits als „Terror“ empfunden werden. Vielleicht liegt ja gerade darin die geheime Agenda der Kriegsnationen: Terror provozieren und im zweiten Schritt die „Sicherheitsvorkehrungen“ im Inland verstärken. So kann man lästige Bürgerrechte entsorgen, ohne zu viel Widerstand in der Bevölkerung befürchten zu müssen.



7. Die Kriegspropaganda nimmt jetzt schon Formen an, die bedenklich sind. Hier erinnere ich an die Pro-Kriegs-Argumente, die ich im ersten Teil des Artikels schon erwähnt habe: „Deutschland isoliert sich“, „Jahrzehnte lange deutsch-französische und transatlantische Freundschaft aufgekündigt“, „Libysche Rebellen sind enttäuscht von uns“, „ein Fehler von historischer Dimension“, „Keiner in der Regierung kann noch Außenpolitik“, usw. Tatsächlich kehrt sich der Rechtfertigungsdruck dadurch um. Nicht mehr diejenigen, die den Krieg wollen, müssen sich erklären und gegen Vorwürfe verteidigen, sondern wer nicht mitmacht, findet sich auf der medialen Anklagebank wieder. Enthaltung wird zur bedauerlichen, hämisch kommentierten Ausnahme von der Regel „Kriegsbeteiligung“. In diesem Zusammenhang finde ich auch die einhellig negative Presse für den scheidenden Guido Westerwelle bemerkenswert. Freilich, für jemanden wie mich, eher links und konzernkritisch, war Westerwelle immer eine Art Lieblingsfeind. Was aber haben stramm neoliberale Blätter wie der Spiegel auf einmal an ihrem Gesinnungsgenossen auszusetzen? Die Angriffe auf den Wahlverlierer sind von einer Bösartigkeit, die selbst mir, dem FDP-Gegner, sauer aufstößt. Westerwelle war mehr noch als Merkel die „Taube“ in der Koalition. Er handelte damit in der Tradition der Außenpolitik Genschers. Fischer dagegen war einer derjenigen, die Deutschland wieder zur Kriegsnation machten. Warum erkennt man Westerwelles besonnenen Kurs nicht an? Warum mutiert er selbst für politisch ähnlich ausgerichtete Magazine zum Hassobjekt? Es wird interessant sein, zu beobachten, ob sich Westerwelle als Außenminister halten kann und wer ihm nachfolgt.



8. Der Libyenkrieg könnte einer versteckten Agenda folgen. Menschlichkeit wäre dann bestenfalls der „Kollateralnutzen“ geostrategischer Überlegungen. Sogar Verteidigungsminister De Maizière sagte bei Interview im heute Journal beiläufig, man könne doch nicht für Öl deutsche Soldaten in den Krieg schicken. Das ehrt ihn, indirekt gibt er aber damit zu, dass Öl für die Kriegspläne der Alliierten eine Rolle spielt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie bedeutet aber: Das Mitgefühl für die libyschen Rebellen wird bewusst geschürt, um „höheren“ Zwecken zu dienen. Würde man diese offen vertreten, ginge die Akzeptanz im Volk für einen Kriegseinsatz vermutlich gegen null – auch in Frankreich, den USA und England. Welche Zwecke könnten das sein? Kontrolle über die Ölfelder? Oder schlicht der Versuch, das neoliberale Weltregime auch auf jene Zonen auszudehnen, wo sich derzeit noch Widerstand regt? Damit man mich nicht missversteht: Mitgefühl ist eine positive und wichtige Eigenschaft. Es wird aber von den Medien selektiv auf bestimmte Personengruppen gelenkt und von anderen abgelenkt. Wären Menschenrechte das höchste Gut, müssten die USA genau genommen in sich selbst einmarschieren.



9. Die „Koalition der Willigen“ ist eine Koalition der Heuchler. Das Engagement der Franzosen in Nordafrika knüpft an die Zeit des Kolonialismus an. Der blutige Algerienkrieg gipfelt 1945 in dem Massaker von Setif, bei dem 45.000 Menschen von Franzosen niedergemetzelt wurde. Präsident Obama wird Guantanamo nicht los und hat unlängst die Aufnahme von Militärprozessen wieder erlaubt. In Afghanistan schossen Soldaten des so genannten „Kill Team“ wahllos und „zum Spaß“ auf einheimische Zivilisten und posierten mit deren Leichen. Die USA waren seit dem Zweiten Weltkrieg an 58 Kriegseinsätzen beteiligt – viele davon mit Unterstützung der Briten. Westliche Industrienationen (etwa 20 Prozent der Bevölkerung) verbrauchen 80 Prozent der globalen Ressourcen und verursachen 80 Prozent des CO2-Ausstoßes, wofür die Länder des globalen Südens häufig den höchsten Preis zahlen müssen. 2003 hat der Westen 54 Millarden Dollar an Entwicklungshilfe an den Süden gezahlt, diesen jedoch – über den Schuldendienst – um das Achtfache, 436 Dollar beraubt. (Quelle: Jean Ziegler: „Das Imperium der Schande“) Noch immer spielen sich gerade die „Weltkriegsalliierten“ jedoch als Weltgewissen und Weltpolizei auf. Die Wut in der arabischen Welt und in anderen Ländern Asiens, Afrikas und Südamerika über diese Doppelzüngigkeit wächst ständig. Heuchlerisch ist der Libyeneinsatz auch deshalb, weil europäische Politiker, allen voran Sakozy und Berlusconi, Gaddafi lange Zeit in peinlicher Weise hofiert haben. Aufgerüstet wurde er nicht zuletzt auch mit deutschem Waffenlieferungen. Selbst dass Gaddafis früher offen den internationalen Terrorismus unterstützte, haben die Abendlandchristen ihm gern verziehen. Vorausgesetzt er jagt afrikanische Flüchtlinge, deren Situation in der Heimat nicht zuletzt infolge der westlichen Wirtschaftspolitik unerträglich geworden ist, zurück in Wüste.



Es gibt noch eine Reihe weiterer Argumente, die ich hier nicht näher ausführe. Man findet sie auf dieser Seite unter dem Stichwort „Libyen“, in der linken Presse und sogar in der Mainstream-Presse ausreichend beschrieben. Z.B.:


10. Sarkozy will nur seine Chancen bei den anstehenden Wahlen erhöhen.


11. Die libyschen Rebellen sind auch nicht perfekt. Man weiß nicht, wohin sie das Land führen.


12. Vietnam, Irak und Afghanistan haben gezeigt, dass militärische Abenteuer dieser Art entsetzlich ausarten können und mehr Schaden als Nutzen anrichten.



Wertet man alle Argumente für und gegen einen Kriegseinsatz in Libyen aus, so sind drei Hauptgruppen von Argumenten zu unterscheiden. Sie betreffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.


Vergangenheit: Wären schon lange überall auf der Welt Pazifisten am Ruder, so hätte es weder einen hochgerüsteten Gaddafi noch die jetzt weltweit hohe Wertschätzung für Militär und Kriege gegeben.


Gegenwart: Wären mit Beginn der Libyen-Krise „plötzlich“ Pazifisten in die westlichen Regierungen gelangt, so stünden sie vor einem schwierigen Dilemma. Man könnte ihnen vorwerfen, die Not leidende Rebellen einem sicheren Tod ausliefern.


Zukunft: Langfristig würde eine pazifistische Haltung wichtiger Länder wie Deutschland, Frankreich, England und USA den Abbau des militärisch-industriellen Komplexes, die Abschaffung von Kriegsanreizsystemen, die Diskreditierung von Krieg als Mittel der Politik, die Entspannung des Verhältnisses zwischen westlicher und islamischer Welt und andere Vorteile mit sich bringen.



Nur eine Politik „auf Sicht“, die sich ausschließlich an der gegenwärtigen Situation orientiert und größere Perspektiven ignoriert, könnte einen militärischer Libyen-Einsatz sinnvoll begründen. Freilich täte sich ein „perspektivischer Pazifismus“ schwer damit, die Frage zu beantworten, wie man entsetzlicher Diktatoren Herr wird. In jedem Fall wären sie weniger gefährlich, denn keine große Industrienation würde ihnen Waffen liefern.



Mein wichtigstes Argument, das ich deshalb hier wiederhole, ist die Abschaffung von Kriegsanreizsystemen. Es darf nicht geschehen, dass Menschen töten und sterben, um


- die Existenzberechtigung eines Militärapparats zu beweisen


- die Stärke eines innenpolitisch erfolglosen Machthabers zu belegen


- ein in Arm und Reich zerfallenes Volk künstlich zusammenzuschweißen


- Privatfirmen die Ausbeutungsrechte an Bodenschätze zu sichern


- neue Nachfrage nach Rüstungsgütern zu schaffen oder


- Rendite für Investoren zu erwirtschaften.



Insofern vergleiche ich die Rüstungsmaschinerie mit einer Suchtdynamik. Nimmt ein Süchtiger sein Suchtmittel wieder und wieder ein, verschafft ihm dies nur kurzfristig Erleichterung. Ebenso verschaffen kriegerische Interventionen den westlichen Nationen kurzfristig das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Im Einzelfall kann damit vielleicht tatsächlich einigen Unterdrückten und Gefährdeten geholfen werden. Die Einnahme des Suchtmittels stabilisiert aber die Sucht und schiebt eine wirkliche Heilung immer weiter hinaus. Ebenso stärkt jeder Kriegseinsatz das Kriegsanreizsystem aus wirtschaftlichen, militärischen und politischen Zwängen.



Es ist sicher hart, zu entscheiden, den libyschen Rebellen nicht zu helfen und Gaddafi gewinnen lassen. Ehrlich gesagt bin ich auch froh, das nicht entscheiden zu müssen. Sicher ist aber auch, dass bei einem zerstörerischen Suchtsystem langfristig nur eines hilft: der Entzug.











11. April 2011
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