Mit dem Los zu mehr Demokratie

Parlamente durch das Los bestimmen statt durch Wahlen? Das mag abwegig klingen, ist es aber nicht. Das Losverfahren wurde nämlich sozusagen der Demokratie in die Wiege gelegt. Im Stadtstaat Athen vor über 2000 Jahren wurde der Rat der 500 und wichtige Ämter durch das Los vergeben.

Losen: eine kleine Veränderung des Systems mit einer grossen Wirkung. Foto: Jigar Panchal
Losen: eine kleine Veränderung des Systems mit einer grossen Wirkung. Foto: Jigar Panchal

Wahlen galten bereits damals als zu einfach korrumpierbar. Geld kauft Stimmen, wer kein Geld hat, kann keine Politik machen. Nicht viel hat sich seit damals verändert. 

Aber ins Parlament, durch das Los? Vergegenwärtigen wir uns einfach zwei Realitäten: Weder wird jemand als Parlamentarierin oder Parlamentarier geboren, noch gibt es dafür eine Ausbildung. Und doch meinen wir, dass Wahlen die geeignetsten Parlamentsmitglieder hervorbringen, um anstehende Probleme zu lösen. Wenn aber in der direkten Demokratie auf die Urteilsfähigkeit des Stimm- und Wahlvolkes gesetzt wird, wenn also Krethi und Plethi das Recht haben, seine/ihre Stimme abzugeben, dann sind sie auch fähig, im Parlament Entscheide zu fällen.

Wählen ist aristokratisch – Losen ist demokratisch

Realität ist, dass in den Parlamenten eine Elite von Berufspolitikern und Berufspolitikerinnen sitzt. Um überhaupt eine Chance zu haben, zu dieser Elite zu gehören, braucht es entweder viel Geld oder eine Partei. Meistens beides. Über 90 Prozent der Bevölkerung sind parteilos und werden also nicht von einer Partei und somit auch nicht der daraus hervorgegangenen Elite repräsentiert. Geht es in einer Demokratie aber nicht genau darum, dass dieses System eine Bevölkerung abbildet, abbilden sollte?

Das nennt sich statistisch relevante Repräsentanz. Mehr Frauen im Volk, mehr Frauen im Parlament – mehr Mittelklasse in derBevölkerung, mehr Mittelklasse im Parlament... und so weiter. Können so nicht am besten die tatsächlichen Anliegen der Bevölkerung in die Regierung eingebracht werden, durch ihresgleichen? In Irland wurde per Losverfahren ein Bürgerrat einberufen, um das Problem verfassungswidriger Abtreibungen zu lösen. Nach Anhörungen von Pro und Kontra hat der Bürgerrat den einzig nachvollziehbaren und darum mehrheitsfähigen Vorschlag unterbreitet, zu dem das gewählte irische Parlament während Jahrzehnte wegen parteipolitischer Kämpfe nicht in der Lage war. Gemäss des Vorschlags des Bürgerrates hat das Parlament Abreibung legalisiert.

Ohne Parteiideologen funktioniert Politik besser

Eine tatsächliche Repräsentanz ist durch Wahlen bisher nirgends zustande gekommen. Die Konsequenz: Politikverdruss, immer weniger Bürgerinnen und Bürger fühlen sich verstanden und ernst genommen, immer mehr sind mit der Politik unzufrieden. 

Wir sind nicht demokratie- sondern politikmüde

Um überhaupt von Wahlen sprechen zu können, braucht es eine Auswahl. Ohne Auswahl sind Wahlen sinnlos. Das Rechts-Links-Denken in der Politik suggeriert nur scheinbar eine Auswahl. Tatsächlich lenken Parteiideologien von wirklichen Problemen und Anliegen der Bevölkerung ab, wie das Beispiel in Irland deutlich macht. Ideologien – so sympathisch oder abstossend sie auch sein mögen – bilden weder Realität ab, noch können sie Realitäten vorurteilsfrei erklären. Lösungen sind oft bestechend einfach und könnten – losgelöst von Parteiideologien oder elitären Machtansprüchen – rascher und besser umgesetzt werden, wenn denMitgliedern eines Parlaments nicht die Angst vor Popularitäts- und Sponsorenverlust im Nacken sitzt, weil es weder Wahl noch Wiederwahl gibt. 

Losen macht den Weg frei für richtige Entscheide

Auch Regierungssysteme gehören angepasst, um zeitgemäss zu sein. Auch unseres kann verbessert werden. Wollen wir tatsächlich Demokratie – die beste aller bisher erprobten Regierungsformen – leben, dann können wir nicht mehr nur auf Wahlen, Initiativen und Referenden setzen. Wir sollten das Losverfahren nicht nur für Stichentscheide, sondern auch zur Parlamentsbildung möglich machen. Stellen wir uns nur einmal die Bildung unserer Kinder vor, wenn sie schon früh lernen, dass sie möglicherweise einmal parlamentarische Verantwortung übernehmen. Verantwortung und vorurteilslose Urteilsbildung wären zentrale Elemente jeder Schule. 

Parlamente näher zum Volk durch Losverfahren 

Am demokratischsten wäre es, wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger, die mündig und urteilsfähig sind – das heisst, die wählen und abstimmen dürfen – sich auch für kommunale, regionale und das nationale Parlament zur Verfügung stellen. So kommen bevölkerungsnahe Parlamente, so kommt statistisch relevante Repräsentanz zustande. Nicht durch Wahlen. Der Weg dazu ist dieWiedereinführung von Losverfahren als Instrument der Demokratie, verankert auf Verfassungsebene. Technisch absolut machbar, wäre die Möglichkeit für Kommunen und Kantone und gemeinsam auf Landesebene zu entscheiden, wie die Parlamente zustande kommen sollen, ein enormer Schritt in Richtung mehr Teilhabe.

Losen: eine kleine Veränderung des Systems mit einer grossen Wirkung

Menschen, die sich für die Verbesserung und Weiterentwicklung der Demokratie in der Schweiz engagieren, haben zu diesem Zweck den Verein Losdemokratie ins Leben gerufen. Er hat das Ziel, durch eine Initiative das Losverfahren auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene zur Parlamentsbildung in der Schweiz verfassungsmässig zu verankern. Der Verein strebt das Losverfahren für alle gemeldeten Kandidaturen an, weil er von der Lösung überzeugt ist, dass an der Auslosung nur beteiligt wird, wer sich freiwillig meldet und sich für die Parlamentsarbeit interessiert und befähigt einschätzt. Dieses System funktioniert heute bereits in Tausenden von Gemeinden in der Schweiz seit Jahrhunderten effektiv, einwandfrei lösungsorientiert und praktisch ohne ungelöste Konflikte. 

27. November 2024
von:

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Michael U. Baumgartner

Submitted by cld on Di, 11/26/2024 - 19:22
Michael U. Baumgartner

Masterstudiengang in angewandter Ethik (mit Schwerpunkt Medizin- und Umweltethik) am Ethikinstitut der Universität Zürich und in Sozialarbeit (mit Schwerpunkt interkulturelle Arbeit und Konfliktmanagement) an der Fachhochschule Alice-Salomon in Berlin

Ausbildung in Sozialer Arbeit MSW mit Schwerpunkte Gemeinwesenentwicklung und Empowerment (Schweiz, London, Berlin),

Weiterbildung u.a. Spitalseelsorge sowie Biographiearbeit (nach Dr. Rudolf Steiner), in neuro-systemischem Coaching, Organisationsentwicklung, nachhaltiger Entwicklung, Umweltberatung, Neurolinguistischem Programmieren, internationalen Menschenrechtsinstrumenten und externalisierter Emotionsarbeit (nach Dr. Elisabeth Kübler-Ross) sowie Kommunikation/PR.

Diplomarbeit ‚Die Psycho-Sozialen Betreuung von Folteropfern und ihre Bedeutung für die Sozialarbeit’ publiziert im Verlag Edition Soziothek Bern.

Mitglied der International Association for Community Development IACD , der EU-COST-Action zu Deliberativer Demokratie CONSTDELIB (bis 2022) und im Vorstand von Neustart Schweiz und Losdemokratie