Wie uns die Pandemie spaltet

Die physische Distanz schützt uns vor COVID-19, aber sie ruft auch einige der hässlichsten menschlichen Tendenzen hervor.

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Die COVID-19-Pandemie ist anders als alles, was die meisten von uns in ihrem Leben gesehen haben. Das Virus ist leichter übertragbar als die Grippe, es hat eine höhere Sterblichkeitsrate, und es gibt derzeit keinen Impfstoff, der uns davor schützt. Also ist unser Verteidigungsmittel: das Verändern unseres Verhaltens.

Gesundheitsorganisationen aus der ganzen Welt haben einstimmig Selbstquarantäne und Social Distancing empfohlen, um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Obwohl diese Maßnahmen wirksam gegen Krankheitserreger und Infektionskrankheiten sind, sind sie nicht einfach. Soziale Isolation kann schmerzhaft sein. Selbst die Introvertiertesten unter uns benötigen ein gewisses Maß an sozialer Interaktion. Unsere nicht gestillten Bedürfnisse nach Verbundenheit und Austausch haben Folgen sowohl für unser physisches als auch für unser psychisches Wohlbefinden.

Die Quarantäne hat jedoch auch soziale Folgen, die viel darüber verraten, wie wir Menschen auf die Bedrohung durch Infektionskrankheiten reagieren. Körperliche Distanzierung mag eine natürliche Reaktion auf Infektionskrankheiten sein, aber sie kann leider auch einige der hässlichsten menschlichen Tendenzen hervorrufen: Parteinahme, Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit.

Das Immunsystem ist ein Beispiel für eine weiterentwickelte Lösung gegen Infektionskrankheiten. Es ist wie ein Sicherheitssystem. Wenn ein infektiöser Erreger in unseren Körper eindringt, versucht das Immunsystem, den Eindringling zu identifizieren und zu entfernen.

So entscheidend das Immunsystem auch ist, es ist nicht unsere einzige Abwehr gegen Infektionserreger.

Wir verfügen aber auch über eine Reihe von psychologischen Reaktionen, die uns helfen sollten, eine Krankheit zu vermeiden. Eine davon ist Ekel, eine universelle menschliche Emotion, die in allen Kulturen erkennbar ist. Etwa den Ekel, den man empfindet, wenn man saure Milch schmeckt, oder die Übelkeit, die man empfindet, wenn man hört, wie jemand Schleim aus seinem Rachen entfernt. Seine Funktion besteht darin, uns zu ermutigen, potenziell kontaminierte Gegenstände und Menschen zu meiden und so das Eindringen von Krankheitserregern in unseren Körper zu verhindern.

Dieses «Immunsystem des Verhaltens» ist jedoch nicht immer präzise. So wie ein Rauchmelder losgehen kann, wenn kein Feuer ausbricht, kann Ekel ausgelöst werden, wenn kein infektiöser Erreger vorhanden ist. Die Evolution bietet uns kein Fenster zur Wahrheit, sondern es geht lediglich um die Minimierung der Wahrscheinlichkeit kostspieliger Fehler – wie das Anstecken infektiöser Erreger. Das Ergebnis ist, dass wir anfällig für phantasierendes Denken sind, wenn es um Ansteckungen oder Vergiftungen geht. Wenn jemand beispielsweise «Zyanid» auf eine ungeöffnete Flasche Wasser schreiben und uns davon anbieten würden, hätten wir Schwierigkeiten davon zu trinken. Obwohl wir wissen, dass da eigentlich kein Gift drin ist. Aber warum ein Risiko eingehen?

Unser verhaltensorientiertes Immunsystem ist ein hartnäckiger Leibwächter, der die Wahrheit fürs Überleben opfert. Dieses heikle System hat nicht unbedeutende Auswirkungen auf unsere Art zu denken und auf die Art und Weise, wie wir mit anderen interagieren. Wie der englische Philosoph Francis Bacon hervorhob, ist unser Verstand «ein krummer Spiegel». Wir sehen die Dinge nicht als das, was sie sind. Wir sind anfällig für bestimmte Überzeugungen, und wir suchen unbewusst und unbeabsichtigt nach Informationen, die diese Überzeugungen unterstützen (wir haben eine «Bestätigungsverzerrung»).

Stellen Sie sich vor, ein Detektiv kommt an Ihre Tür und informiert Sie darüber, dass Ihre Mutter wegen Mordes verhaftet wurde. Wie viele Beweise wären nötig, damit Sie glauben, dass sie schuldig ist? Würden Sie Fingerabdrücke benötigen? DNA? Videomaterial? Würde das ausreichen? Wenn ein Fremder als Verdächtiger in Frage käme, würden Sie sie dann mit dem gleichen Beweismaß festhalten? Das ist unwahrscheinlich.

Kurz gesagt, Ihre Mutter ist eine von uns, der Fremde ist einer von denen.

Menschen sind kategorische Denker. Wir konstruieren Welten, die mit DAS und JENES bevölkert sind. Die Bezeichnungen, die wir den Dingen geben, geben uns Struktur und ermöglichen es uns, zwischen den Dingen zu unterscheiden. Unsere Kategorien geben uns auch Vorhersagbarkeit. Die Menschen wünschen sich eine Welt, die stabil und vorhersagbar ist. Wenn wir wissen, dass es sich bei einem Organismus um eine KATZE und nicht um eine HUND handelt, wissen wir, dass der Organismus höchstwahrscheinlich miaut - und so wären wir ziemlich überrascht, wenn die KATZE bellen würde.

Genauso wie wir Tiere und Objekte in unserer Umgebung kategorisieren, kategorisieren wir auch uns selbst und andere. Wir teilen Menschen in WIR und die ANDEREN ein. Wir bevorzugen Freunde und Partner, die unsere Eigenschaften, Überzeugungen und Einstellungen teilen.

Obwohl wir im Allgemeinen eine strukturierte und geordnete Welt bevorzugen, ist die Welt, in der wir leben, eigentlich ziemlich chaotisch. Viele Dinge passen oft nicht bequem in die sozial konstruierten Kategorien, die oben erwähnt sind. Was passiert also, wenn diese Linien verschwimmen, wenn Kategorien nicht mehr klar sind?

In einem Experiment von Mediziner Ivan Pavlov, in den 1920er-Jahre, wurden Hunde mit Futter belohnt, wenn das Futter mit einem Kreis hingestellt wurde. Wie nicht anders zu erwarten, haben sie den Kreis schnell lieb gewonnen. Dagegen wurden die Hunde mit einer ovalen Figur nicht belohnt. Die Hunde lernten schnell, zwischen rund und oval zu unterscheiden. Sobald jedoch der Experimentator die Figuren zu manipulieren begann, dass beispielsweise die ovale Figur immer mehr wie der Kreis aussah, kamen die Hunde an einen Punkt, an dem sie nicht mehr zwischen den Reizen unterscheiden konnten. Die Hunde begannen, sich unklar zu verhalten, sich zu winden und zu quietschen.

Der Wunsch nach Vorhersagbarkeit und kategorischer Gewissheit ist nicht nur den Hunden eigen. Wir alle leiden in unterschiedlichem Maße darunter. Einige von uns etwa so, dass wir schwere Phobien wie die Brumotactillophobie, die Angst vor dem Berühren von Lebensmitteln, entwickeln. Das Bedürfnis nach Ordnung kann aber auch weniger stark sein: So sortieren andere ihr Besteck und Wäsche, und sind dann frustriert, wenn sie die Socke ihres Partners nicht finden können.

In Zeiten von Turbulenzen und Unsicherheit, in denen unser Leben bedroht ist, haben wir einen noch größeren Wunsch nach Gewissheit. Wir suchen nach Informationen, die uns Bestätigung geben, und meiden Ideen und Personen, die wir für gefährlich halten. Dies kann besonders dann der Fall sein, wenn eine Krankheit droht.

Diese assortative Sozialität, bei der Freunde und Partner auf der Grundlage ähnlicher physischer und psychischer Merkmale ausgewählt werden, nimmt zu, wenn die Bedrohung durch eine Krankheit hoch ist.

Infektionserreger können unseren Körper so manipulieren, dass er niest und hustet – eine bequeme Möglichkeiten für den Erreger, sich auf andere Wirten in der Nähe auszubreiten. In der Tat ist einer der häufigsten Wege der Krankheitsübertragung der Kontakt von Mensch zu Mensch. Daher ermutigt uns das verhaltensbedingte Immunsystem, bei sozialen Interaktionen vorsichtig zu sein. Wir bevorzugen Menschen, die wie Menschen aus unserem Umfeld aussehen und wie Menschen aus unserem Umfeld denken. Wenn wir Liberale sind, neigen unsere Freunde und Partner dazu, Liberale zu sein. Wenn wir Konservative sind, neigen unsere Freunde und Partner dazu, konservativ zu sein.

Diese kulturelle Quarantäne ist ein Mittel der Natur, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten einzudämmen, aber sie hat eine unangenehme Nebenwirkung. Sie begünstigt Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit. Wenn wir mit einer Krankheitsbedrohung konfrontiert werden, werden wir gegenüber Außengruppen voreingenommener.

Die COVID-19-Pandemie begann in Wuhan, China. In einem Tweet am 16. März bezeichnete Präsident Trump COVID-19 als das «chinesische Virus». Eine Woche später versuchte er, den Schaden zu mildern, indem er twitterte: «Es ist sehr wichtig, dass wir unsere asiatisch-amerikanische Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt umfassend schützen. Es sind tolle Menschen». Am 23. März jedoch twitterte Trump: «Das ist der Grund, wieso wir Grenzen brauchen!» Während die Grenzpolitik immer eine Frage der Debatte ist, könnten die widersprüchlichen Botschaften des Präsidenten dazu beitragen, Hassverbrechen gegen asiatische Amerikaner zu schüren. Russell Jeung, Professor für asiatische Amerikastudien an der San Francisco State University, hat eine Website eingerichtet, um diese Vorfälle zu verfolgen. Innerhalb eines Monats nach ihrem offiziellen Start hat sie landesweit fast 1.500 Vorfälle von Diskriminierung gegen asiatische Amerikaner katalogisiert.

Auch Social-Media-Plattformen sind nicht immun gegen die Auswirkungen, die Infektionskrankheiten auf unser Sozialverhalten und unsere Überzeugungen haben. In der Zeit von COVID-19 ziehen wir uns auf soziale Medien zurück. Es besteht jedoch ein Risiko: Wir folgen Menschen, die unsere Überzeugungen teilen, und blockieren die Menschen, die uns beleidigen. Infolgedessen können unsere sozialen Medienplattformen zum Nährboden für Verschwörungstheorien werden. Die Folge ist, dass wir immer mehr polarisiert werden.

Viele psychologische Kräfte also sind während der COVID-19-Pandemie zusammengekommen und haben einige gefährliche Tendenzen hervorgerufen. Wenn wir nicht aufpassen, werden die Polarisierung und die daraus resultierenden Fehlinformationen im Zusammenhang mit COVID-19 dazu führen, dass noch mehr Menschen ihr Leben verlieren. In unserem Kampf gegen COVID-19 bewegen wir uns auf einem Drahtseilakt. Auf der einen Seite müssen wir Social Distancing betreiben und soziale Interaktionen einschränken, um die Ausbreitung dieser Krankheit einzudämmen. Andererseits müssen wir erkennen, dass diese Maßnahmen einige hässliche soziale Verhaltensweisen bei Menschen hervorrufen können. Verhaltensweisen, die uns spalten und uns in «feindliche» Lager teilen.

Die Wahrheit ist, dass COVID-19 ein unparteiisches, globales, menschliches Problem ist. Wir werden nicht gesund bleiben, wenn wir uns gegeneinander stellen.