Attacken von Bewaffneten und TV

Kämpft die Polizei von Marseille so gegen Kinderporno? Aufgrund von Zeugenaussagen Jugendliche in Handschellen abführen, in Verhören unter starken Druck setzen und Moralpredigten halten, als ob sie die Miliz des Vatikans wäre.

Grosse Sache, eine Gruppe von 11- bis 15-Jährigen soll sexuelle Handlungen auf Handyfilm aufgenommen haben, was vor dem Gesetz bereits als Herstellen von Kinderpornografie gilt. Die Schüler werden beim Verhör mit den Handschellen an den Stuhl gefesselt, müssen alle Handlungen haarklein erzählen und sich provokative Fragen der Polizisten gefallen lassen. Der private französische Fernsehsender ist sensationsgeil dabei – gestern im Abendprogramm -, immerhin sind die Gesichter der Verdächtigen unkenntlich gemacht.

Keine Beweise
Die Attacke von Polizei und Fernsehen verwischt die eigentlich vermuteten Straftatbestände und veranstaltet ein moralisches Tribunal. Zum Kinderporno-Vorwurf kommt ein zweiter: Ein erwachsener Zeuge soll ausgesagt haben, ein Mädchen sei gezwungen worden, sich an der Vagina lecken zu lassen. Im Verhör sagt es aus, das stimme überhaupt nicht. Auch der Vorwurf des Herstellens von Kinderpornografie verläuft im Sand, denn das Beweisstück wird nirgendwo, weder im Internet noch bei den Jugendlichen, gefunden. Ein Polizist schwört, die Täter schon noch zu überführen.

Wüten statt Gespür
Auch Frankreich gehört zu den Staaten, die immer jüngere der Erwachsenenjustiz ausliefert. Es ist äusserst unverhältnismässig, ausgewachsene Polizisten auf pubertierende Mädchen und Knaben loszulassen. Hier gilt es, Eltern, Psychologen und Jugendrichter/innen mit Gespür wirken zu lassen. Das Wüten der Polizisten richtet sich gegen die Schweinerein, die nach ihrer Ansicht vielleicht nur den Erwachsenen vorbehalten sein sollen.

Religiöse Altlasten
Die verständnislosen Ordnungshüter wollen nicht realisieren, dass die Jungen aufwachsen in einer Gesellschaft mit Doppelmoral und schweren religiösen Altlasten wie versexter Werbung, Unmengen Porno im Internet, versteckten Leidenschaften, heimlichen Perversitäten, Scham und Schuld. Kinder lernen durch Imitieren, klar ahmen sie die geilen Erwachsenenspiele nach, um sich erwachsener zu fühlen.

Die Schwächsten malträtieren
Gruppendruck ist immer wirksam und bringt Einzelne dazu, etwas zu tun, was sie nicht möchten, aber man tut’s, um nicht ausgelacht oder ausgegrenzt zu werden. Polizisten sind meist nicht geeignet, dies aufzudecken und darüber zu urteilen. Die Beamten erzählen stolz von ihrem erfolgreichen Feldzug gegen Kinderpornografie und Kindsmissbrauch, bei dem offenbar sadistisch die Schwächsten malträtiert werden, wie’s in Kapitalismus und Patriarchat so üblich ist.

Lärm der Fernseh-Propaganda
Ähnliches passiert in Armenvierteln Lateinamerikas, zum Beispiel in Rio de Janeiro: Razzias von Spezialeinheiten von Militär und Polizei morgens vor acht Uhr, wenn ein grosser Teil der Favela-Bewohner aufbricht, um zur Arbeit oder in die Schule zu gehen. Europäische Fernsehstationen sind gerne dabei, wenn die ehrenwerten Männer Ausgesteuerte, Arbeitende und Schüler kontrollieren und schikanieren, mutmassliche Drogenhändler auf der Flucht erschiessen und junge Erwachsene mit kleinen Mengen illegalisierter Stoffe spektakulär in Handschellen abführen: Seht her, wir führen für euch den Krieg gegen die geldgierigen, todbringenden Drogenhändler. Der Lärm der Fernseh-Propaganda lenkt einmal mehr ab von den grossen Drogenbossen, die wohl eher in höheren Kreisen verkehren.

Eine Drogenbekämpfungs-Spezialeinheit der Polizei von Rio wurde fürs europäische Fernsehen begleitet und porträtiert. Eine Horde von „Tough Guys“, gut genährt und trainiert. Sie haben gut bezahlte Arbeitsplätze mit Aussicht auf den Aufstieg in die Mittelklasse. Der Staat gibt viel Geld aus für die unzimperliche Truppe, will aber auch Erfolge sehen. Und die sind am leichtesten in den Favelas zu holen.
09. März 2009
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