Comeback der Sklaverei

Schulden sind oft unter betrügerischen Umständen zustande gekommen und zwingen die Bevölkerung der Schuldnerländer in eine de-facto-Leibeigenschaft. Sie belasten die nachfolgenden Generationen und machen nicht einmal vor dem Existenzminimum halt. (Roland Rottenfußer)

Politiker sind manchmal zu erstaunlichen Erkenntnis-Durchbrüchen fähig. Vor allem bevor ihre Amtszeit begann – und nachdem sie in Rente gegangen sind. Einer dieser Politiker, der brasilianische Präsident Lula da Silva, hatte in einem Gespräch vor seiner Wahl zu Protokoll gegeben: „Wir denken, dass kein Land der Dritten Welt in der Lage ist, seine Schuld zu bezahlen. Wir denken, dass jede Regierung der Dritten Welt, die beschließt, die Auslandsverschuldung zurückzuzahlen, sich dafür entschieden hat, ihr Volk in den Abgrund zu führen.“



Wie? Gibt es denn noch eine andere Möglichkeit als seine Schulden zurückzuzahlen? Allein die Idee hat etwas Irritierendes. Umschuldung, ja. Stundung, mit dem Ziel, die Schulden später zurückzuzahlen, ja. Betteln um die Gnade eines Schuldenerlasses, auch legitim. Aber die Schulden einfach so nicht zurückzahlen? Da könnte ja jeder kommen. In der Tat wollte Brasiliens angehender Präsident aber genau darauf hinaus: „Wir vertreten die Auffassung, dass die Rückzahlung der Schulden sofort eingestellt werden muss.“



Genau darum geht es: Nicht-Rückzahlung ist nicht nur legitim, sie ist existenziell notwendig. Ob sie auch möglich ist, wird die politische Praxis zeigen. Ich weiß nur eines: Wer jetzt vorschnell sagt: „das geht nicht“, der verurteilt die Menschen in seinem Land zu fortdauernder finanzieller Knappheit und langfristig zu sozialem Elend und Schuldknechtschaft. Ein berühmter Satz von Karl Marx lautet: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Ich möchte diese Aussage auf meine Weise abändern: Politiker, Wirtschaftsfachleute und Schuldnerberater haben nur verschiedene Wege aufgezeigt, um Schulden zurückzuzahlen; es käme aber darauf an, die Rückzahlung zu verweigern.



Menschen haben eine eigenartige Scheu vor der Möglichkeit, etwas „schuldig zu bleiben“. Es gilt als unanständig, ja als ehrlos, Schulden nicht zurückzuzahlen. Schließlich ist man selbst auch mal Gläubiger gewesen, hat seinem Kollegen 10 Euro, seinem erwachsenen Kind gar 100 Euro geliehen oder einem Kunden die Begleichung einer Rechnung gestundet. Da freut man sich doch, wenn der Schuldner anständig genug war, seine Schuld zu begleichen. Das religiös verbrämte Wort von der „Schuld“ (gleichbedeutend mit Sünde) schwingt in dem Wort „Schulden“ mit. Aber versuchen wir das Problem jenseits aller Schuld-und-Sühne-Rhetorik ganz nüchtern auf das zu reduzieren, was es ist: Jemand hat eine juristisch begründbare Geldforderung an Sie – das ist alles. Diese Forderung zu begleichen ist nur recht und billig. Im Prinzip. Allerdings müssen sich Gläubiger bestimmten Fragen stellen, von deren Beantwortung es abhängt, ob Anspruch auf Rückzahlung besteht.



1. Ist die Geldforderung gerechtfertigt?


2. Sind es auch wirklich meine Schulden?


3. Ist die „Schuld“ tatsächlich noch nicht beglichen?


4. Ist der Gläubiger ehrenhaft und der Kredit unter fairen Bedingungen zustande gekommen?


5. Bin ich in der Lage die „Schuld“ zu begleichen, ohne dafür unzumutbare Opfer zu bringen?



Wenn ich alle diese Fragen (oder auch nur eine von ihnen) mit „nein“ beantworte, dann muss die betreffende Geldforderung auf den Prüfstand. Der Hinweis auf die Gesetzeslage allein genügt nicht. Ist ein Gesetz für einen größeren Personenkreis massiv ungerecht oder schädlich, dann muss auf die Änderung des betreffenden Gesetzes hingewirkt werden. Legal ist nicht gleich legitim.



In vieler Hinsicht, diese unbequeme Wahrheit muss man erst einmal an sich herankommen lassen, leben wir schon lange nicht mehr in einer Demokratie. Angemessen wäre vielmehr die Bezeichnung „Plutokratie“ (Herrschaft des Geldes) oder noch drastischer: „Kleptokratie“ (Herrschaft der Diebe). Was damit gemeint ist, formuliert eindringlich Oskar Negt: „Die Wirtschaftseliten aller hoch industrialisierten Länder plündern mehr oder weniger offen und umfänglich ihre eigenen Völker aus.“



Eine Broschüre der deutschen Dienstleistungsgesellschaft ver.di fasst gut zusammen, worum es geht: „Besitzer von Geldvermögen profitieren von der Staatsverschuldung. Je mehr sie dem Staat leihen, desto mehr muss der Staat an sie zahlen. Während die Mehrheit der Bevölkerung für die Staatsschulden über die Steuerzahlungen aufkommen muss, kassieren die Geldvermögensbesitzer die Zinsen. (…) Es ist auf Dauer untragbar, dass rund 15 Prozent der gesamten Staatskasse für Zinszahlungen ausgegeben werden müssen. Hierdurch findet eine permanente Umverteilung von steuerzahlenden Beschäftigten an Vermögensbesitzer statt.“



Als Maßnahme gegen das „Unerträgliche“ empfehlen die traditionell recht braven deutschen Gewerkschaften allerdings lediglich, „die jährliche Neuverschuldung herunter zu fahren und perspektivisch auch eine Verringerung des Schuldenstandes anzustreben.“ Eine wahrhaft revolutionäre Forderung! Die Kleptokraten dürfen ihre Beute behalten. Lediglich die Geschwindigkeit mit der diese sich vergrößert, soll reduziert werden.



Die Frage „Sind es wirklich meine Schulden?“ ist im Kern die Frage nach der Generationengerechtigkeit. Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der USA, sagte: „Keine Generation darf Schulden anhäufen, die höher sind als das, was sie im Laufe ihres eigenen Daseins zurückzahlen kann.“ Bill Bonner und Addison Wiggin haben die Problematik in ihrem Buch „Das Schuldenimperium“ sehr eindrucksvoll formuliert: „Sagen wir, der Mann hat mit dem Geld eine Weltreise finanziert. Aber die Reise hat ihn erschöpft, kaum ist er zu Hause, da erliegt er einem Herzinfarkt. Müssen die Kinder die Kreditkartenabrechnungen begleichen? Keineswegs. Aber jetzt kommen die ‚öffentlichen’ Schulden ins Spiel. Was für ein seltsames Wesen haben wir da vor uns? Eine Generation konsumiert und gibt der nächsten Generation die Rechnung. Die jüngere Generation hat den Konditionen der Verschuldung nie zugestimmt. Sie ist Teil eines Vertrags – und sitzt am falschen Ende, können wir hinzufügen –, den sie nicht geschlossen hat. Schuldsklaven mussten nur sieben Jahre arbeiten, um ihre Schuld abzutragen. Die neue Generation hingegen wird ihr ganzes Leben dafür arbeiten müssen.“



Eigentlich ist es verwunderlich, warum die jüngere Generation angesichts solcher Zustände nicht längst auf die Barrikaden geht. Allerdings hat es keinen Zweck, wenn die Schuldner-Generationen einander gegenseitig beschimpfen, während der Gläubiger selbst nie auf dem Prüfstand steht. Wenn sich Vater und Sohn streiten, wer das Schutzgeld an die Mafia zu entrichten hat – wer von beiden hat Recht? Keiner. Es käme darauf an, sich gemeinsam der Schutzgelderpressung zu verweigern.



Jeder, der einmal ein Haus gebaut hat, weiß, dass er, um den Hausbau zu finanzieren, den Gegenwert von mindestens einem weiteren Haus an Zinsen an die Bank abdrücken muss. Vor allem bei Laufzeiten über 20 bis 30 Jahre übertreffen die Zinszahlungen oft die ursprünglich geschuldete Summe, und dies bei Zinssätzen von „nur“ 4-6 % wie sie in Deutschland üblich sind. Dafür sorgt schon die Zinseszinsdynamik. Wer z.B. 200.000 Euro zur Baufinanzierung bei der PSD-Bank leiht, muss bei 38 Jahren Laufzeit, 4,5 % Nominalzins und 916 Euro monatlichen Ratenzahlungen rund 217.000 Euro an Zinsen berappen – insgesamt also 417.000 Euro, wobei etwas mehr als die Hälfte nur Zinsen sind. Das Rechenbeispiel ist aktuell und für den Kunden nicht einmal besonders ungünstig. Aber man sieht schon hier, dass man nicht nur den „niedrigen“ Zinssatz beachten muss, sondern das, was unter dem Strich dabei herauskommt, nämlich 108,5 % zusätzlich an Zinsbelastungen.



In der Dritten Welt ist die Lage noch deutlich dramatischer. Nach dem Motto „Wer nicht hat, dem wird auch das Wenige noch genommen“, werden als „unsichere Schuldner“ geltende Staaten mit horrenden Zinssätzen abgezockt, die oft fünf bis siebenmal höher sind als diejenigen, die auf den Finanzmärkten üblich sind. Mit anderen Worten: Wenn ein Land durch die Unfähigkeit seiner Politiker und als Folge des Schuldendienstes verarmt, bekommt es statt Hilfe höhere Zinssätze aufgebrummt, was die Verarmung weiter beschleunigt und einen Teufelskreis in Gang setzt, aus dem es nicht mehr aus eigener Kraft entkommen kann.



Wenn die Zinsaufwendungen eines Staates so hoch sind, dass eine Tilgung der ursprünglich geschuldeten Summe nicht mehr möglich ist, dann können die Schuldner, geht es nach den Gläubigern, bis in alle Ewigkeit blechen. Selbst dann, wenn die Zinsbelastung nicht nur (wie im Beispiel einer Baufinanzierung) 108,5 %, sondern 200 %, 400 % oder 1000 % der ursprünglich geschuldeten Summe ausmacht. Das Verbot der Sklaverei, festgelegt in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948, ist damit de facto ausgehebelt. Was hilft es, wenn individuelle Sklavenhaltung verboten, die Versklavung ganzer Völker mittels Schuldendienst aber erlaubt ist?



Man muss also die Frage stellen, ob man den Schuldbetrag bei einem Großteil der Staatsschulden – ob in Deutschland, in den USA oder in der Dritten Welt – überhaupt noch als „offen“ bezeichnen kann. Es geht mir bei dieser Diskussion gar nicht mehr um Rückzahlung von geliehenem Geld – diese halte auch ich für selbstverständlich –, es geht einzig um die „Ansprüche“ der Gläubiger auf ausufernde Zinszahlungen.



Eine weitere wichtige Frage ist die, ob der Kredit unter fairen Bedingungen zustande gekommen ist. Auch hier sind in vielen Fällen erhebliche Zweifel angebracht. In seinem Buch „Bekenntnisse eines Economic Hit Man“ berichtet John Perkins, wie er im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes NSA Entwicklungsländer dazu überredete, unvernünftig große Kredite aufzunehmen. Seine eigentliche Aufgabe bestand darin, „die Länder, die diese Kredite aufnahmen, zahlungsunfähig zu machen (…), so dass sie auf immer von ihren Kreditgebern abhängig wurden, um sie zu leichten Zielen zu machen, wann immer von ihnen etwas erwartet wurde wie etwa Militärbasen, Stimmen in der UNO, Zugang zu Öl und anderen Ressourcen.“ Auch wenn es nicht in jedem Einzelfall so verschwörerisch zugegangen sein mag, Abhängigkeit ist immer eine der gefährlichsten Folgen der Verschuldung. Der Preis, den ein Staat für neue Kredite oder die Stundung der Zinsen zu zahlen hat, geht in der Regel in Richtung „Liberalisierung der Märkte“, was zu Lohn- und Preisdumping führt.



Jean Ziegler, der UNO-Beauftragte für das Recht auf Nahrung, spricht im Zusammenhang mit Krediten, die durch unfaire Begleitumstände zustande gekommen sind, von „widerlichen Schulden“. Ein besonders drastisches Beispiel von widerlicher Schuld ist Ruanda. Dort haben 1994 Soldaten und Milizen des Stammes der Hutus ca. 800.000 Frauen, Kinder und Männer einer anderen Ethnie, der Tutsis, systematisch abgeschlachtet. Die von der UNO dort stationierten Blauhelmsoldaten schauten tatenlos zu. Waffenhändler, vor allem aus Frankreich, verdienten kräftig an dem Gemetzel. Nach der Niederlage der Hutu erbte die neue ruandische Regierung eine Auslandsschuld von über einer Milliarde Dollar. Die Gläubiger, allen voran IWF und Weltbank, bestanden auf vollständiger Begleichung der Schuld, obwohl mit den Krediten eben jene Waffen bezahlt wurden, die bei dem Massaker verwendet wurden. Die bettelarmen Bauern in Ruanda rackern sich also bis heute ab, um Zinsen für jene ausländischen Mächte zu bezahlen, die die Ermordung ihrer Mütter, Brüder und Kinder finanziert haben.



Zugegeben, das Beispiel ist extrem, aber enthalten Kredite zu so ungünstigen Bedingungen, wie sie heute fast überall üblich sind, nicht immer ein Element von Erpressung oder Ausnutzung einer Notlage? Erfüllen dauerhaft überschuldete Völker nicht den Traum vieler Gläubiger von einer unversiegbar sprudelnden Geldquelle – und von wachsender Macht über die Schicksale dieser Völker? Nicht der solvente Schuldner ist für solche Gläubiger rentabel, sondern der hoffnungslos überschuldete, denn er bringt ihnen über die Jahre ein Vielfaches der ursprünglich geschuldeten Summe ein. Ist es da nicht wahrscheinlich, dass Überschuldung auch bewusst inszeniert wird?



Im privaten Bereich tappen jedenfalls immer mehr Bürger, vor allem junge Menschen, in Schuldenfallen, die von interessierten Kreditinstituten bewusst ausgelegt werden. Da das geheiligte Wirtschaftswachstum bekanntlich nur florieren kann, wenn auf dem Markt der Eitelkeiten eine große Anzahl völlig überflüssiger, oder gar schädlicher Produkte abgesetzt werden, locken Werbespots zudem mit allerlei Abos, Flatrates und Handyverträgen, die zu einem beständigen Aderlass auf dem ohnehin strapazierten Bankkonto führen.



Das in der Epoche des Neoliberalismus herrschende Ideal des Wegwerf-Arbeitnehmers führt dazu, dass es immer leichter wird, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und immer schwerer, den sich häufenden Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Politik, Wirtschaft und Geldinstitute wirken so auf wundersame Weise zusammen, um den Ausnahmefall Überschuldung, der früher nur wenigen ökonomisch besonders unbeholfenen Menschen vorbehalten war, zum Normalfall werden zu lassen. Der Weg in die Schuldengesellschaft führt so zu einer Beschleunigung des ohnehin schon perfekt ausgeklügelten Prozesses der Umverteilung von unten nach oben.