Kriegswidersprüche in Washington
Die New York Times spricht sich gegen weitere westliche Eskalation im Ukraine-Krieg aus, fordert Verhandlungslösung – und widerspricht damit auch Politikern in Berlin und Brüssel.
In einer bemerkenswerten Stellungnahme dringt eine der einflussreichsten US-Zeitungen auf Kurskorrekturen des Westens im Ukraine-Krieg – mit potenziell weitreichenden Auswirkungen auf Berlin und Brüssel.
Die Vereinigten Staaten dürften nicht in einen lange andauernden, „umfassenden Krieg mit Russland“ gezogen werden, fordert das Editorial Board der New York Times. Das Risiko einer unkontrollierbaren Eskalation sei hoch; auch werde sich die Kriegsbegeisterung in der US-Bevölkerung angesichts anhaltend hoher Inflation und dramatisch gestiegener Energie-, speziell Benzinpreise nicht lange halten lassen.
Darüber hinaus zieht der Ukraine-Krieg wichtige Kräfte vom Machtkampf gegen China ab. Die New York Times wendet sich gegen Aussagen wie die Ankündigung der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die USA würden die Ukraine „bis zum Sieg“ unterstützen. Derlei Äußerungen haben auch Politiker in Berlin und Brüssel getätigt – so etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die erklärte, sie wünsche, „dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt“, oder Außenministerin Annalena Baerbock, die erklärte, man wolle „Russland ruinieren“.
Kritische Äußerungen zur Politik der Vereinigten Staaten und des Westens insgesamt im Ukraine-Krieg hat es im US-Establishment schon kurz nach Kriegsbeginn gegeben. Bereits am 1. März publizierte etwa das einflussreiche Magazin The New Yorker ein Interview mit dem bekannten US-Außenpolitikexperten John Mearsheimer, der seit vielen Jahren die NATO-Ostexpansion und besonders die Pläne zur Anbindung der Ukraine an das Bündnis attackiert.
Die Pläne der NATO seien für Moskau gefährlich und längst Ziel von Gegenmaßnahmen geworden, bestätigte Mearsheimer kurz nach Kriegsbeginn – ganz, wie es für Washington „selbstverständlich“ nicht in Frage komme, es einer „fremden Großmacht“ zu erlauben, Militär in einem „Land in der westlichen Hemisphäre“ zu stationieren.
„Alle Probleme“ hätten „im April 2008“ begonnen, als die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Bukarest der Ukraine und Georgien die Beitrittsperspektive eröffnet habe, urteilte der US-Experte; wäre dieser Schritt ausgeblieben, „dann wären die Krim und der Donbass heute noch Teil der Ukraine“, und es gäbe in dem Land wohl auch keinen Krieg.
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In einen „umfassenden Krieg mit Russland“ gezogen zu werden, liege nicht in „Amerikas wohlverstandenem Interesse“, urteilt das Editorial Board der New York Times. Dies aber könne geschehen, wenn im Westen oder in Kiew „unrealistische Erwartungen“ dominierten.
Präsident Biden müsse seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj deshalb klarmachen, dass es „eine Grenze“ in der Frage gebe, „wie weit die Vereinigten Staaten und die NATO in der Konfrontation mit Russland gehen werden“ – konkret auch „Grenzen bei den Waffen, beim Geld und bei der politischen Unterstützung, die sie aufbringen können“. Es sei „unerlässlich, dass die Entscheidungen der ukrainischen Regierung auf einer realistischen Einschätzung gründen, welche Mittel die Ukraine zur Verfügung hat“ – „und wieviel mehr Zerstörung sie ertragen kann“.
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