«Was für ein stumpfes Leben!» Wie ich ins Provisorium fiel und mein Feriengeld beim Uhrenreparaturdienst der EPA verdiente
Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #20
Es kam, wie es kommen musste: «Neben all meinen Aktivitäten» – schrieb ich ins Tagebuch – «versank die Pflicht, nämlich die Schule in Schutt und Asche. Trotz harten Kampfes in den letzten, klausurschweren Wochen bin ich deshalb ins Provisorium versetzt worden.»
Damals ging das Schuljahr noch im Frühling zu Ende, und eine Woche vor Schulschluss präsentierte mir der Klassenlehrer mit ehrlichem Bedauern die Abrechnung: Vier ungenügende Noten – in Mathematik, Rechnungswesen, Physik und Biologie – waren eine zuviel. «Es zahlt sich nicht aus, wenn ein Hobby zur Hauptbeschäftigung wird», stellte ich im Tagebuch etwas betroffen fest und nannte gleich eine weitere Konsequenz: «Solange ich provisorisch bin, erhalten meine Eltern keine Stipendien mehr, obwohl sie das Geld bitter nötig hätten. Diesen Sommer bleibt mir deshalb nichts anderes übrig, als mich voll und ganz für die Schule zu engagieren.»
Ich befürchtete schon, meine Musikkolumne müsste der Schule zum Opfer fallen. Auch die Zukunft unserer literarischen Zeitschrift schien plötzlich ungewiss, obwohl Elias am Provisorium knapp vorbeigeschrammt war. Aber so ernst war es mir doch nicht mit meinen Vorsätzen. Schon das folgende Wochenende stand wieder ganz im Zeichen meiner heimlichen Hauptbeschäftigung. Wir produzierten das neue Heft. «Samstags arbeiteten wir von zwei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends, sonntags von neun Uhr morgens bis Mitternacht. Und am Montag in der Schule mussten wir das Ganze vollenden, um die Matrizen dem Hauswart zum Drucken zu geben.»
Soviel Geringschätzung meiner schulischen Notlage musste belohnt werden: «Wir leisteten uns für 14 Franken ein Mittagessen im Mövenpick und feierten den Erfolg unserer Schufterei.»
Meine Versetzung auf Probe konnte mich auch nicht davon abhalten, mit Elias während der Sommerferien eine Autostoppreise nach Schottland zu planen. Dafür reichten aber das Taschengeld und die Entschädigung für meine Kolumne nicht, und ich musste mir in den Frühlingsferien einen Job suchen. Über eine Vermittlerin, die Studenten und Schülern Ferienstellen beschaffte, ergatterte ich mit Glück einen Job im Uhrenreparaturdienst der EPA. Die EPA – Einheitspreis AG – war das Billigwarenhaus in der Schweiz, das auch billige Armbanduhren verkaufte. Diese Uhren waren dementsprechend defektanfällig.
Für 6.50 CHF pro Stunde musste ich während zwei Wochen «die Sendungen mit den kaputten Uhren auspacken, sortieren je nach Uhrenfabrik, an die betreffende Firma weiter versenden. Die reparierten Uhren wieder sortieren, Name und Adresse dazulegen und die Rücksendung vorbereiten, bevor dann die Uhren mit Rechnung zu ihren Besitzern zurückgeschickt wurden.»
Da die Armbanduhren der EPA so günstig waren, gehörten sie meistens Kunden aus den unteren Bildungsschichten. Die Briefe, die den defekten Uhren beigelegt wurden, offenbarten mir eine Welt, die ich nicht kannte. Viele der Reklamationen waren in einem Deutsch abgefasst, das mehr falsche als richtig geschriebene Wörter enthielt. Auch wie die Uhren verpackt waren, liess auf sehr einfache Menschen schliessen. Ich sehe heute noch einen Brief vor mir, der mit Spuren von Kuhmist verklebt war und mir seinen Stallgeruch in die Nase trieb. Das bedenkliche Niveau machte mir soviel Eindruck, dass ich einen der Briefe fotografierte und ins Tagebuch legte. Ich kann die inzwischen vergilbte Schrift der Reklamation gerade noch lesen:
B…, 7. April 1970
Habe am 10. März die Uhr gekauft im neue Wahrenhaus Bern. Jetzt war die Uhr pro Tag 2-3 Minuten vorgeloffen, und auf einmal Bleipt sie zwischen 23 und 24 Uhr stehen, bevor das neue Datum kommt. Und seidher war es immer so. Seid so gut und schaut die Uhr an und schickt sie wieder so bald wie möglich. Mit bestem Dank Hochachtungsvoll
O.A.U.
B…
Die Arbeit im Uhrenreparaturdienst gefiel mir durchaus. «Weil sie nicht einfach war», schrieb ich ins Tagbuch, «war sie interessant. Man musste bei jedem Brief überlegen und war nicht einfach eine Maschine.«
«Trotzdem», fuhr ich fort, «wäre es auf die Dauer ein sinnloser Trott. Ich bedaure die Leute, die eine solche Arbeit die ganze Zeit machen. Jemand muss sie natürlich erledigen – aber was für ein stumpfes Leben. Und die gereizte Atmosphäre in diesen Büros! Jede dieser Frauen sagt Schlechtes über die andere.»
Ich glaube, ich war nach zwei Wochen erleichtert, der unangenehmen Stimmung wieder entkommen zu können. «Endlich liegt die Arbeit jetzt hinter mir. Sie hat mir immerhin 520 Franken gebracht», stellte ich mit Genugtuung fest. «Zurück in der Schule hängte ich sofort ein – und die erste schöne Note ist eine 4,75 in der Physik.»
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von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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