Die Ungerechtigkeit der Welt in der ersten Halbzeit
Eigentlich war Rot meine Lieblingsfarbe, und sie ist es auch heute wieder. Doch dazwischen liegt jener unglückselige Freitagabend, den ich so schnell nicht vergessen werde, weil ich absolut nicht erwartete, dass mir das Leben so etwas antun würde.
Irgendwelche Andeutungen des Schicksals, die mich vorgewarnt hätten, bemerkte ich keine. Weder vergass ich die Fussballschuhe zuhause – was schon geschehen war –, noch bekam ich die Nummer 13, noch erlitt ich einen Schwächeanfall beim Betreten des Platzes, im Gegenteil, ich war voll motiviert, wünschte niemandem Schlechtes und enthielt mich Gedanken des Hochmuts.
Die Bedingungen hätten nicht besser sein können: Ein einwandfrei schöner Herbsttag neigte sich seinem Ende zu, die Sonne fächerte auf den Platz ihre letzten Strahlen, und das Spiel hatte gut für uns angefangen, obwohl es ein Spiel auf fremdem Terrain war und der Gegner nicht unterschätzt werden durfte.
Bis Ende August hat die 5-Minuten-Podcast-Kolumne von Nicolas Lindt Sommerpause. Damit wir nicht auf seine Texte verzichten müssen, veröffentlicht der Zeitpunkt jeden Donnerstag ein Kapitel aus seinem Buch «Im Schulzimmer des Lebens».
Ich glaube fast sagen zu dürfen, dass das 1:0 für uns in der Luft lag, und ich kann nur beteuern, dass ich den Stürmer nicht aus den Augen gelassen hatte. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass er plötzlich am Ball – und ebenso plötzlich an mir vorbei war.
Wild entschlossen verfolgte ich ihn. Mein Schuldbewusstsein verlieh mir Flügel, mein Ehrgeiz auch. Er durfte mir nicht entkommen, denn ich war der hinterste Mann, und ich wusste, alle Befürchtungen meines Teams, in diesem Moment, ruhten auf mir.
Und dann, am Eintritt zum Strafraum, noch bevor mein stürmischer Gegner zum Schuss kam, war ich ihm auf den Fersen, und ich meine das ganz buchstäblich. Ich touchierte mit dem Fuss seine Ferse – dies ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit –, und er stürzte und fiel.
Ich auch, doch dafür interessierte sich niemand. Während sich der zu Fall Gekommene schmerzvoll stöhnend aufrappelte, verdichtete sich in der milden Unschuld der Abendsonne der Vorwurf, ich hätte ihn umgelegt. Die gegnerischen Spieler zeigten zeternd, Mordio schreiend, auf mich, und am Ort des Geschehens traf der Schiedsrichter ein. Er kam von weit, weit her, und alles, was er gesehen hatte, war ein im Strafraum stürzender Stürmer gewesen. Doch den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit folgend, hatte er annehmen dürfen, es handle sich hier um ein Foul, und er hatte, kraft seines Amtes, gepfiffen.
Nun stand er da, wie der Fels in der Brandung der Emotionen, und zeigte auf den Elfmeterpunkt. Welch atemberaubendes Unrecht! Es handelte sich nur um ein Fussballspiel, doch Ungerechtigkeit ist nie nur ein Spiel. Dass der zu Boden gegangene Spieler weinerlich nach dem Penalty schrie, erstaunte mich nicht, denn Charakterschwäche ist angeboren; dass aber der Schiedsrichter, von dem es heisst, er sei unparteiisch, solche Heuchelei noch belohnte, war schlimm.
Schlimm für mich und – viel mehr noch – für meine Mannschaft, die sich mit der unangenehmen Tatsache eines Elfmeters abfinden musste.
Der Herr über Schuld und Unschuld in unserer Mitte war aber noch nicht fertig. Er nestelte plötzlich an seiner Brusttasche – und was nun folgte, erlebte ich nur noch in Zeitlupe. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob ich schon im Moment dieses Nestelns eine Vorahnung hatte. Ich weiss auch nicht mehr, ob ich Sekundenbruchteile, bevor er die Karte zog, unschuldig glaubte, er ziehe die gelbe.
Er zog die rote.
Das klare, leuchtende Rot im Scheinwerferlicht jenes sonnigen Abends vergesse ich nie. Es war wunderschön. Allein schon deshalb sollte ein Schiedsrichter hin und wieder die rote Karte ziehen: Damit man sie sehen kann. Und wichtig ist, dass sie feierlich gegen den Himmel gestreckt wird, wie die Fackel der Freiheitsstatue, nur dann entfaltet sie ihre ganze Wirkung.
Die rote Karte ziehen zu dürfen, muss ein jedesmal wieder grosser, ehrenvoller Moment im Leben eines Schiedsrichters sein. Sie als Spieler bekommen zu dürfen, eigentlich auch. Denn was bedeutet die Farbe Rot? Sie bedeutet Leidenschaft. Wer die rote Karte erhält, muss ein leidenschaftlicher Mensch sein. So leidenschaftlich, ehrlich gesagt, bin ich gar nicht – doch der Schiedsrichter sah das offenbar anders. Und es hätte mich eigentlich freuen müssen, dass er mich für heissblütiger hielt, als ich bin.
Aber die Freude wollte nicht aufkommen. Und ich brachte auch nicht die Gelassenheit auf, mich zu fragen, ob das Rot auf der Karte tomatenrot oder scharlachrot war. Um Äusserlichkeiten ging es hier nicht.
Ich bekam Rot, weil ich – nach der kompetenten Meinung des Schiedsrichters – als hinterster Mann mit nackter Gewalt den Stürmer daran gehindert hatte, aufs Tor loszuziehen. Die Verwerflichkeit dieser Tat, ihre offensichtliche niedere Absicht duldete keine Milde – die rote Karte war angebracht. Sie bedeutete, dass ich den Platz zu verlassen hatte und für mindestens zwei weitere Spiele gesperrt war, dies auch zur Abschreckung von Nachahmungstätern. Hinzu kam eine nette, kleine schmerzvolle Busse und – nicht zu vergessen – der Eintrag ins Register der Vorbestraften, der Gezeichneten und Geächteten.
Wie eine Flutwelle überrollte mich die Erkenntnis, was mich erwartete. Und nicht weniger deprimierend war der Gedanke, was ich meinen Mitspielern antat. Mit dem zu befürchtenden Penaltytor und mit einem Mann weniger für den Rest des Spiels war die Niederlage vorauszusehen. Drei wertvolle Punkte gingen verloren, die uns in der Rückrunde und im Kampf um den ersten Platz fehlten. Der Aufstieg in die höhere Spielklasse – auf den wir zu hoffen begonnen hatten – rückte erneut in die Ferne.
Bereits endgültig abschreiben konnten wir auch den Fairnesspreis. In greifbarer Nähe war er gewesen, nur ganz wenige gelbe Karten belasteten unser Konto. Zu Musterknaben hatten wir uns entwickelt.
Die rote Karte machte alles zunichte.
Damit nicht genug. Grausamer noch als die Schuld, die mich bis in meine Träume verfolgen würde, war die Ohnmacht – die Ohnmacht des ungerechtfertigt Verurteilten. Den Schiedsrichter überzeugen zu wollen von meiner Unschuld, wäre geradezu sinnlos gewesen. Niemals würde ein Unparteiischer, das war mir klar, eine rote Karte zurücknehmen. Würde er mit sich reden lassen, er wäre erledigt. Überall würde die Kunde verbreitet – und sie würde für Erheiterung sorgen –, dass es einen Schiedsrichter gebe, der die Mitbestimmung eingeführt habe.
Ich hatte keine Chance. Dem älteren Herrn, wenn er seine Schiedsrichterpfeife betätigte, gehörte die Welt, und dieses sicher sehr schöne, wenn auch zeitlich begrenzte Gefühl von Macht und Gewicht liess er sich von niemandem nehmen. Gedemütigt und erniedrigt sah ich ihm zu, wie er die unvergleichliche Karte in die obere linke Hemdentasche zurückschob und die Tasche ordentlich wieder zuknöpfte. Der Tarif war erklärt, das Zeichen gesetzt.
Kein Spieler würde es für den Rest des Spiels wagen, die Autorität unseres Feierabendpolizisten in Frage zu stellen. So befriedigt der Mann in Schwarz freilich schien, seines Amtes erfolgreich gewaltet zu haben – ganz sicher, ob mit diesem Urteil nicht er sich schuldig gesprochen hatte, war er wohl doch nicht. Er vermied es, mir in die Augen zu blicken.
Aber auch dies war nur Wunschdenken, musste ich einsehen. Denn was tut ein Richter nach der Urteilsverkündung? Er ordnet seine Akten. Beamtenhaft holte der Schiedsrichter sein Notizbuch hervor, um das Geschehene zu protokollieren. Den Verurteilten – mich – überliess er sich selbst. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Vor aller Augen schlich ich vom Spielfeld. Meine Teamkameraden, die sich, vergeblich protestierend, für mich eingesetzt hatten, begleiteten mich mit Anteilnahme und Mitgefühl, obwohl sie vor allem erleichtert waren, mein Schicksal nicht teilen zu müssen.
Dass der eine oder andere mir auf die Schulter klopfte, als ich vorbeiging, hätte wohl dazu dienen sollen, mich aufzumuntern. Es machte alles nur schlimmer.
Unsere Gegner freilich konnten auch nicht recht froh sein. Obwohl sie das Spiel voraussichtlich nun gewannen, würde ihr Siegesgefühl überschattet sein vom Makel eines Justizirrtums, den auch sie nicht völlig verdrängen konnten. Ein schaler Geschmack würde zurückbleiben und ihnen allen das Bier nach dem Spiel ein wenig verderben.
Doch auch dies war natürlich nur Einbildung. Fussballspieler, wenn sie als Gruppe auftreten, haben kein Bedürfnis nach Selbsterkenntnis. Lautstark würde der Stürmer seinen Kumpanen erzählen, wie kaltblütig ich ihn umgesäbelt hätte und wie richtig und nötig es sei, solche Spieler wie mich vom Platze zu stellen.
Und die Kameraden würden ihm beipflichten, und alle miteinander würden sie trinken und den Sieg des Guten über das Böse feiern. Umworben von den Schmeicheleien des Selbstmitleids, begab ich mich zur Kabine, um mich zu duschen und umzuziehen. Die Sonne draussen war weg, es wurde Abend, ein Abend im Herbst, und die Garderobe im Dämmerlicht wirkte kühl und düster. In der Mitte des Raumes schwebte unverwechselbar die Essenz aus Massagesalben und Männerschweiss, und der Wand entlang, an den Haken, hingen unsere Kleider, und sie sprachen zu mir: Was willst du hier? Du gehörst auf den Platz!
Nein, ich gehörte nicht auf den Platz. Mit hängendem Kopf sass ich da, vernahm aus der Ferne die Rufe, die Pöbeleien der Spieler – und fühlte mich fast so wie damals, als der Lehrer mich vor die Tür gestellt hatte und ich mutterseelenallein im Schulhauskorridor sass. Die Ungerechtigkeit hatte zum Himmel geschrieen, auch da, und niemand gab mir recht, niemand erlöste mich. Durch die Schulzimmertür hörte ich den Lehrer dozieren und meine Mitschüler Antworten geben; ich aber durfte nicht mehr dabei sein, ich war ausgeschlossen vom Unterricht, was für mich ein Gefühl war, als ob ich ausgeschlossen gewesen wäre vom Leben.
Dies empfand ich auch jetzt. Und es regte sich in mir wie schon damals, im Schulhauskorridor das Bedürfnis, zu gehen, einfach heimzugehen, meine Fussballschuhe, auf die ich so stolz war, die mir Flügel verliehen, wenn ich sie nur schon anschaute, diese Schuhe – die ich nie hätte hergeben wollen – demonstrativ in die Ecke zu schmeissen und aufzuhören. Meine Kameraden würden, nach dem Ende des Spiels, die Kabine aufsuchen und die Fussballschuhe da liegen sehen wie der Abschiedsbrief einer Geliebten, die enttäuscht worden ist. Sie würden sich über mich wundern – und es dann schon bedauern, dass ich nicht mehr dabei sein wollte.
So stellte ich mir das vor. Nur wusste ich nicht, wie sehr sie mich wirklich vermissen wurden. Möglicherweise war ich ersetzbar. Möglicherweise brauchte mich die Welt gar nicht!
Der Gedanke, auswechselbar zu sein, schmerzte. Er schmerzte mehr als das, was mir angetan worden war. Und ich erinnerte mich an damals, als der Lehrer nach einer Weile die Türe wieder geöffnet hatte und mich hereinliess. Die Ungerechtigkeit, die mir zugefügt worden war, zählte nicht mehr. Es zählte nur noch, dass ich das Klassenzimmer wieder betreten, an meinen Platz sitzen und wieder mitmachen durfte. Darauf allein kam es an, dass mich die Welt wieder haben wollte, und dasselbe wünschte ich mir auch jetzt.
Also blieb ich und warf meine Fussballschuhe nicht weg. Ich fügte mich den Regeln des Spiels. Ich schluckte die rote Karte.
Als ich etwas später, einigermassen wieder ich selbst, zum Spielfeld zurückkehrte – nicht mehr als Spieler, sondern bloss noch als Zuschauer –, standen die Dinge, wie zu erwarten gewesen war, schlecht. Den Elfmeter hatte der Gegner versenkt, und mit einem Mann in der Überzahl schien das 2:0 nur noch eine Frage der Zeit. Ein haarscharfer Pfostenschuss liess unser Tor bereits warnend erzittern, und ich bangte und zitterte mit.
Doch dann, überraschend, drehte der Wind. Zur Pause stand das Spiel 1:1, und ich schöpfte Hoffnung. Es folgte die zweite Halbzeit, es folgten die letzten zehn, fünf Minuten – und dann, als die Spannung schon der Ernüchterung wich, fiel die Entscheidung. Ich stand am Spielfeldrand, und ich jubelte. Alles war wieder gut: Unser Gegner schlug sich mit einem Eigentor selbst.
Wie hatte ich an ihr zweifeln können? Es gab sie doch, die Gerechtigkeit.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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