Friedensarbeit in der Gemeinschaft

Wenn wir Frieden auf der Erde wollen, brauchen wir funktionierende Gemeinschaften. Wenn wir funktionierende Gemeinschaften wollen, brauchen wir – schlicht gesagt – eine Revolution unseres bisherigen Menschenbildes und unserer bisherigen Vorstellungen vom Leben.

Eine Gruppe in Tamera errichtet einen «Friedenspfahl». Foto: Christa Dregger

Friede und Heilung sind fast gleichbedeutende Begriffe. Wenn ich von Frieden spreche, meine ich keine Lippenbekenntnisse und keine moralische Empörung über das bestehende Unrecht, sondern ich meine den wirklichen Frieden, der uns mit innerer Freude und Kraft erfüllt. Es handelt sich um eine Kraft, die keine Angst mehr hat vor den Kräften der Gewalt, weil sie ihnen gewachsen und überlegen ist. Der Aufbau dieser Friedenskraft ist verbunden mit einem umfassenden neuen Erkenntnisvorgang. Wir können nach aussen nur so viel Frieden erzeugen, wie wir im Inneren haben, und wir können nach aussen nur diejenigen Heilungskräfte in Bewegung setzen, die wir bei uns selbst und in unseren Gemeinschaften aufbauen und verwirklichen. 

Eine Gemeinschaft wird um so heiler und um so mächtiger sein, je besser sie das Thema Vertrauen und Liebe gelöst hat. 

Friedensarbeit in der Gemeinschaft ist gegenseitige Heilungsarbeit und Unterstützung der beteiligten Personen. Eine Gemeinschaft enthält dann eine wachsende Friedenskraft in sich, wenn ihre Mitglieder einen heilenden Umgang miteinander pflegen. Heilend heisst: kreativ, humorvoll, lebendig und wahrhaftig. Wir brauchten in unserem Gemeinschaftsprojekt viele Jahre Lernzeit, um herauszufinden, was aktive Friedenskraft bedeutet, die mehr ist als das Fehlen von Unfrieden. Der wirkliche Heilungsweg besteht im inneren Zuwachs einer geistigen Kraft, durch die echtes Vertrauen, echte Gemeinsamkeit und echte freie Liebe erst möglich werden. 

Eine Gemeinschaft wird um so heiler und um so mächtiger sein, je besser sie das Thema Vertrauen und Liebe gelöst hat. Zum Thema Liebe brauchen wir eine weite Exkursion ins Land der Seele. Liebe ist mehr als Emotion. Die meisten Emotionen behindern eher unseren Weg zur Liebe. Durch die Unterdrückung echter Gefühle wurde das menschliche Leben von falschen Gefühlen überflutet. Dadurch hat sich ein Emotionalkörper an unsere Seelen und Leiber geheftet, der immer sofort reagiert, bevor irgend etwas wirklich wahrgenommen und verstanden worden ist. Die Liebe, die wir in der Heilungsarbeit anpeilen, entsteht durch einen langen Prozess von Erfahrung, gegenseitiger Wahrnehmung und Erkenntnis. Oft durch viel Verzweiflung und neue Hoffnung, durch Wut auf ganz spezielle Personen und durch nachträgliche Danksagung an ihre Adresse. Es ist ein geistiger Vorgang, der uns dazu bringt, unsere Emotionen, unseren Trotz, unsere Wut, unsere Eitelkeit, unsere Missgunst, unsere inbrünstige Freude am Versagen anderer (die wir alle teilen), unsere Arroganz und unseren Drang zu vorschneller Verurteilung abzubauen. Das ist der Beginn einer Evolution, welche auf der langsamen Enthüllung jenes Geheimnisses basiert, welches wir «Liebe» nennen. 

Jetzt beginnt ein innerer Erkenntnis- und Heilungsprozess, der viel tiefer und wahrer ist als äussere therapeutische Massnahmen.

In funktionierenden Gemeinschaften entsteht eine unsichtbare geistige Einrichtung, die langsam aber sicher unsere bislang privaten Gedanken und Entscheidungen übernimmt und verändert. Ich nenne diese Instanz das «kommunitäre Ich». Diejenigen, die damit begonnen haben, Verantwortung zu übernehmen und der Gemeinschaft als ganzer zu dienen, haben teil an dieser höheren Bewusstseinsebene, die mit dem «kommunitären Ich» gemeint ist. Jetzt beginnt ein innerer Erkenntnis- und Heilungsprozess, der viel tiefer und wahrer ist als äussere therapeutische Massnahmen. Man orientiert sich zwar immer noch am eigenen, sogenannten «persönlichen» Interesse, aber man spürt, sucht und findet immer mehr die Verbindung mit «den anderen». Man beginnt, über den eigenen Tellerrand zu schauen und sich ehrlich für das Leben der anderen zu interessieren. Das ist eine ganz eigene und meist neue Erfahrung. 

«Die anderen», die wir jetzt zu sehen beginnen: Das sind die Teilnehmer unserer Gemeinschaft, die ankommenden Gäste und Freunde; es sind aber auch unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine, in Tschetschenien, in Bosnien, im Kosovo ... Manchmal entdecken wir dabei auch Menschen wieder, die wir längst vergessen hatten, Menschen aus unserer eigenen Lebensgeschichte, frühere Freunde, Verwandte, Geliebte. 

Ihr Egoismus hat jetzt keinen «evolutionären Vorteil» mehr. 

Diese Art von Anteilnahme am Leben anderer ist für viele, die heute in Gemeinschaften eintreten wollen, zunächst einmal sehr neu. Sie kommen aus einer Welt von Heimatlosigkeit, Einsamkeit und Misstrauen, wo sie sich nur mit ihren Egokräften über Wasser halten konnten. Sie versuchen zunächst, die Gewohnheit der Egospiele in der Gemeinschaft weiterzuführen. Wenn es eine gute Gemeinschaft ist, merken sie, dass sie damit nicht weiterkommen. Ihr Egoismus, zu dem sie sich infolge ihrer vielen Lebensenttäuschungen so tapfer durchgerungen hatten, hat jetzt keinen Sinn, keinen «evolutionären Vorteil» mehr. Jetzt kommt der innere Entscheidungspunkt, wo man sich für die alte oder die neue Lebensmöglichkeit entschliesst. Viele entschliessen sich noch für die alte, behalten aber die neue, die wir ihnen anbieten, im Auge, um vielleicht gerade noch rechtzeitig umzusteigen. 

Die zukünftigen Gemeinschaften brauchen ein Wissen und ein Konzept, welches sie ganz elementar herausführt aus dem altertümlichen Denken unserer Zeit. Altertümlich sein heisst heute – angesichts der globalen und geschichtlichen Weltsituation – steckenzubleiben in alten Vorstellungen von privater Liebeserfüllung, von heiler Familienwelt und süssen Kindern. Wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft – nach dem gemeinsamen Aufbau ihrer Häuser und Gärten – ihre altertümlichen Denkweisen, ihre Liebesvorstellungen, Heimatvorstellungen, ihre alten Egospiele, Trotzspiele, Konkurrenzspiele weiterführen, kann auf Dauer keine Friedenskraft und kein Überlebenskonzept entstehen, auch wenn ihre Häuser und Gärten noch so schön sind. 

Kein Zweifel: Wir alle lieben immer noch die romantischen Lindenbäume vor dem Tore, die fliessenden Brünnlein und die Gartenhäuschen der Liebe; da stecken Gefühle drin, die wir nicht verlieren wollen, aber wir wissen, dass dies nicht mehr genügt, um uns und unsere Welt zu retten. Die beiden Königskinder, die im deutschen Volkslied zusammen nicht kommen konnten, werden erst zueinander finden, wenn wir hierfür die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben. 

Es handelt sich um den ersten Wechsel des inneren Montagepunktes: den Wechsel vom Ego-Ich zum kommunitären Ich. Dieser Wechsel ist noch in keiner Gemeinschaft abgeschlossen. Es handelt sich ja nicht nur um einen individuellen Vorgang, den jeder für sich selbst vollziehen muss, sondern um einen geschichtlichen Vorgang, der jetzt eingeleitet wird. Wir kommen an dieser geschichtlichen Stufe gar nicht vorbei, wenn wir überleben wollen. Wir müssen den Weg des kommunitären Ichs gehen, weil die alten kollektivistischen Konzepte der Gemeinschaft nicht mehr brauchbar sind.

Die zukünftige Gemeinschaft beginnt mit der Gemeinschaft unter Menschen; aber dort, wo sie erlebt und verstanden wird, hat sie keine Grenzen mehr. Wir sind, wenn wir untereinander in Verbindung treten, mit allem Leben verbunden, denn wir sind universelle Wesen, und unsere Gemeinschaft ist letztlich – die Gemeinschaft aller Lebewesen. In der Vereinigung mit dem Ganzen findet das Einzelne seine höchste Verwirklichung und seine höchste Kraft. 

In der Verbindung mit dem Ganzen findet das Einzelne seine höchste Kraft und seine Vollendung.

Das ist ein Kraftsatz für die Zukunft: In der Verbindung mit dem Ganzen findet das Einzelne seine höchste Kraft und seine Vollendung. Teilhard de Chardin hat gesagt: «Höheres Sein ist umfassenderes Vereintsein.» In der Verbindung des Einzelnen mit der Gemeinschaft tut sich eine neue Quelle auf.

Die Heranbildung des kommunitären Ichs ist die beginnende Grenzüberschreitung der Beteiligten. Es ist vielleicht neu im Heilungsdenken unserer Zeit, dass die erhoffte Grenzerweiterung im Wesentlichen nicht durch private Übungen, nicht durch esoterische Innerlichkeit und nicht durch Therapie, sondern durch Gemeinschaftsanschluss erreicht wird. Mit diesem Übergang von der privaten zur kommunitären Biographie ist der entscheidende Heilungsvorgang eingeleitet. Es entsteht das kommunitäre Ich und in meinem Inneren eine neue Perspektive für mein eigenes Leben. Ich «wachse über mich selbst hinaus». Es entsteht die reale Vision von dem einen Sein und der Gemeinschaft aller Lebewesen. 

Tao ist der Weg, den man nicht mehr verlassen kann; der Weg, den man verlassen kann, ist nicht Tao.

Man merkt nach und nach, dass wir auch mit den Tieren ein tatsächlich gemeinsames Leben führen, mit den Pflanzen, mit allem, was lebt, und auch mit allen Wesen, die wir in unserer irdischen Inkarnation nicht physisch sehen können. Das kommunitäre Ich entwickelt sich von Stufe zu Stufe und bezieht dabei immer mehr Welt in sich ein. Wir fangen an, das Leben noch einmal neu aufzurollen und die Zusammenhänge neu zu entdecken. Dieser Vorgang kann nicht enden, bevor wir bei der Quelle angelangt sind, aus der wir alle kommen, und diese Quelle ist das Ganze des lebendigen Universums, ist das ewige Leben, die ewige Divinität. 

Menschen, die in diesen Vorgang eingetreten sind und ihn innerlich verstanden haben, befinden sich in einer besonderen Entwicklung, sie gewinnen echte Humanität. Sie entwickeln die Fähigkeit, durch sehr einfache Worte oder Handlungen anderen zu helfen. Indem sie anderen helfen, sind sie auf einem sicheren Weg ihrer eigenen Heilung. Wir haben in einer unserer Anfangsgemeinschaften gesagt: «Tao ist der Weg, den man nicht mehr verlassen kann; der Weg, den man verlassen kann, ist nicht Tao.» Ich glaube, dass in den letzten Sätzen etwas über diesen Weg gesagt worden ist. 

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