Morgendämmerung der Demokratie?

Unsere Machthaber loben das tapfere ägyptische Volk; wie sie vorgehen würden, käme es in Deutschland zu ähnlichen Aufständen, bleibt aber eine offene Frage. Aber wie müsste eine bessere Demokratie bei uns überhaupt beschaffen sein?

„Wer aufrecht geht“, wissen wir von Konstantin Wecker, „ist in jedem System nur historisch hoch angesehen.“ Man könnte ergänzen: „Wer aufrecht geht, ist nur dann hoch angesehen, wenn er es anderswo tut.“

Im Zusammenhang mit den Protesten in Ägypten zeigte sich eine interessante Dynamik: Gehen einige hunderttausend Bürger vor dem Präsidentenpalast auf die Straße, kommentieren die westlichen Medien einhellig, Mubarak sei am Ende. Befreundete Staaten wie die USA legen baldige Neuwahlen nahe und warnen vehement vor einer „chinesischen Lösung“ (also Niederschießen). Das Militär greift nicht ein, was von Kommentatoren weltweit begrüßt wird. Straßenschlachten gab es vor Mubaraks Rücktritt nur noch mit bezahlten Schlägern, die offenbar ihm persönlich angeheuert wurden. Wie viele Demonstranten müssten in Deutschland den Rücktritt der Regierung fordern, damit diese merkt, dass ihre Zeit abläuft? Würde Merkel auch abtreten, oder würde sie mauern? („Die demonstrieren, wir regieren – Helmut Kohl“.) Gäbe es im demokratischen Deutschland weniger Verletzte durch Polizeigewalt als in der Diktatur Ägypten? Oder vielleicht sogar mehr? Würde sich unser Militär weigern, gegen das Volk vorzugehen? Deutsche Ordnungskräfte sind nicht „von Natur aus“ brutaler als die des Orients, aber vielleicht sind sie gehorsamer. Die Bevölkerungszahl Ägyptens (83 Millionen) ist mit der Deutschlands (81 Millionen) jedenfalls vergleichbar. Eine Million Menschen bedeutet dort also ungefähr dasselbe wie bei uns. Wird es in Deutschland jemals einen „Marsch der Million“ geben – und mit welchem Ziel?



Im Folgenden will ich einige Aspekte skizzieren, die meiner Meinung nach zu einer „demokratischen Morgendämmerung“ gehören würden:



Die 1/3-Diktatur



Die Krise der Demokratie wird dadurch verstärkt, dass sie in vielen Ländern als 1/3-Diktatur erlebt wird: Ein gutes Drittel der Wähler entscheiden sich für die Regierung, ein knappes Drittel für die parlamentarische Opposition, ein letztes Drittel entfällt auf kleine Parteien und Nichtwähler. Dadurch ist Demokratie nicht nur weit vom Konsensprinzip entfernt, sie funktioniert nicht einmal als „Herrschaft der Mehrheit“. Schon deshalb müssen neue Formen der Bürgerbeteiligung gefunden werden. Vor allem Plebiszite zu Sachthemen. Parteien scheuen Volksabstimmungen jedoch wie der Teufel das Weihwasser. Bei Umfragen sprechen sich stets weit mehr als 50% der Politiker für Plebiszite auf Bundesebene aus. Merkwürdigerweise kommt ein diesbezügliches Gesetz aber nie zustande, wenn es ernst wird. Ich habe nie verstanden warum angeblich unsere Verfassung dagegen steht, in der ausdrücklich von einer Willenskundgebung des Volkes durch „Wahlen und Abstimmungen“ die Rede ist. Wir sind also in einer grotesk ungerechten Situation, wie sie vor Einführung des Frauenwahlrechts herrschte. Darüber, ob Frauen abstimmen dürfen, entschieden damals – Männer! Die zierten sich naturgemäß eine Weile. Plakate von Gegenkampagnen aus dieser Zeit zeigen Kinder, die aus ihrer Wiege gefallen sind, weil Mutter Politik treibt. Heute lacht man darüber, aber so lang ist es noch gar nicht her. Alte Zöpfe wie die arrogante Zurückweisung von Bürgerpartizipation durch die „Machtinhaber“ können nur durch massiven außerparlamentarischen Druck abgeschnitten werden.



Sich einigen statt niederringen



Besser als zu siegen, ist es, gar nicht kämpfen zu müssen. Bei Auseinandersetzungen und Wahlen bleibt stets eine relevante Gruppe von nachtragenden Verlierern. Sie warten auf ihre nächste Chance, ihrerseits die Gewinner von heute zu demütigen. Bis dahin heißt es: „Das hier ist Demokratie, und du hast verloren, also halt den Mund“. Den Volksabstimmungen können Schlichtungsprozesse vorgeschaltet werden, an denen eine kompetente außerparlamentarische Opposition beteiligt ist. Die Schlichtungsgespräche von Stuttgart 21 geben diesbezüglich durchaus Anregungen. Demokratiefremd war dagegen die Art der Entscheidungsfindung: Am Ende stand das Machtwort des Schlichters. Wie könnte man stattdessen vorgehen: 1. Konsens geht vor „Niederstimmen“. Wenn es zu einer Einigung kommt, mit der alle leben können, ist das gut. 2. Kann kein Konsens gefunden werden, entscheidet ein wirklich (!) neutrales Gremium aus mehreren kompetenten Personen, niemals nur einer. 3. Will sich die unterlegene Seite diesem Spruch nicht beugen, wird als letzte Instanz die Volksabstimmung einberufen. Voraussetzung: die „kompetenten Oppositionsvertreter“ müssten wirklich das repräsentieren, was die Masse der kritischen Bürger denkt. Sonst wird die Schlichtung zur Farce.



Mitsprache statt gewählter Tyrannei



Staatliche Organe agieren gern nach dem Motto: „Ihr dürft uns jederzeit kritisieren und Vorschläge machen; nur erwartet nicht, dass wir uns danach richten.“ Damit muss Schluss sein. Ohne bindende Macht ist Mitsprache der Zivilgesellschaft nur Fassade. Demokratie bedeutet derzeit, die Kräfte zu wählen, die uns beherrschen dürfen. Richtig wäre, die zu wählen, die unseren Willen zu exekutieren haben. Wer als Politiker damit nicht einverstanden ist, ist als Volksvertreter fehl am Platz. Er vertritt dann ja nur sich selbst. In der Praxis läuft das auf Elemente eines Rätesystems hinaus. Die Tatsache, dass das Wort „Räte“ (russisch: „Sowjets“) historisch belastet ist, sollte uns nicht abschrecken. Rätesysteme sind eher eine anarchistisch-basisdemokratische Einrichtung, die mit dem Staatszentralismus kommunistischer Färbung traditionell auf Kriegsfuß steht. Der Aufstand der autonomen Räterepublik von Kronstadt gegen den Vormarsch der leninistischen Staatsdiktatur kostet 1921 ungezählten Menschen das Leben.



Man muss dazu wissen, dass Anarchie nicht „Chaos“ meint, sondern Ordnung ohne Herrschaft. Es ist wichtig festzustellen, dass es sich um eine natürliche Form der Ordnung handelt. Die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth beschreibt die archaische Gesellschaft nicht als „Herrschaft“ von Müttern, sondern als Abwesenheit von Herrschaft des Menschen über den Menschen. Sie erzählt von einer Art Basisdemokratie aus Clan- und Dorfräten, vergleichbar dem modernen Rätesystem. Moderne Demokraturen nach dem Motto „Ich nehme deine Stimme und mache dann damit, was ich will“ sind dem gegenüber eher eine Verfallsform. Sie funktionieren, wenn Demokratie in stark abstrahierter Form stattfindet und sich Gewählte vor ihren Wählern in nebelumwaberte Höhenregionen geflüchtet haben. Sie funktionieren nicht zuletzt auch durch Gewaltandrohung gegen diejenigen, die andere Entscheidungen treffen als von der Staatsmacht vorgegeben.



Demonstrationen, na und?



Aber zurück zum Thema Ägypten und der Frage, was Demonstrationen bewirken können. Theoretisch könnten in Deutschland mehr als 50 Prozent der Bürger den Rücktritt der Regierung fordern. Die Innenstadt von Berlin um den Reichstag könnte kilometerweit von Menschenmassen geflutet sein – die Regierung könnte dennoch argumentieren: „Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Bei uns bestimmen Wahlen, nicht Krawall auf den Straßen.“ Es sollte in der Demokratie einen Mechanismus geben, wonach Massendemonstrationen ab einer bestimmten Menge zu einer Volksabstimmung führen. Oder, wenn sich die Proteste gegen die Regierung als ganzes richten, zu Neuwahlen. Eine solche Logik ist in Deutschland nicht vorgesehen und wird von den Mächtigen gefürchtet. Eine demokratisch (d.h. durch ein gutes Drittel der Wählerstimmen) legitimierte Regierung kann selbst dann weiterwursteln, wenn sie offensichtlich Wahlversprechen gebrochen hat und die Sympathie „ihres“ Drittels der Wähler verloren hat.



In Deutschland haben immer mehr das Gefühl, mit ihren Protesten, mit Parteiaustritten, Wahlentscheidungen, Petitionen und Unterschriftenlisten gegen eine Wand aus Arroganz zu laufen. Das schürt Wut. Und die kann einmal heftig ausbrechen, selbst wenn über Jahrzehnte scheinbar Ruhe im Karton herrschte. Das Beispiel Nordafrika hat es gezeigt. Da angemessene demokratische Mechanismen, die eine Regierung abseits von Bundestagswahlen aushebeln könnten, nicht existieren, müssen wir einfach auf die Straße gehen und unseren eigenen „Liberation Square“ schaffen. Wir werden dann ja sehen, wie viel Protest genügt, um dem neoliberalen Spuk ein Ende zu bereiten.


18. März 2011
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