Favela da Paz
Ein Slum des Friedens, der Selbstversorgung und des Samba
Obdachlose zwischen Müllsäcken am Strassenrand, Fixer unter Brücken, Armut und Chaos überall: Die brasilianische Wirklichkeit, die sich uns auf der Fahrt vom Flughafen zeit, ist deprimierend. «Ich bringe euch jetzt in die beste Gegend von Sao Paulo», sagt unser Führer. «Die Favela ist der einzige Ort, an dem man hier gut leben kann.» Claudio Miranda, 40, ein Mann mit unwiderstehlichem Lächeln, ist hier aufgewachsen.
Jardim Angela mit 800‘000 Bewohnern wurde in den 90ern von der UNO als einer der brutalsten Stadtteile der Welt eingestuft. Bewohner der offiziellen Stadt lernen diese Welt kaum kennen. «Zu gefährlich», sagen sie. «Niemand geht dorthin.» Was sie nicht wissen: Im Gegensatz zu den anonymen Stadtzentren kennt man sich in der Favela, man hilft sich, wo immer man kann. Mit der «Favela da Paz» entsteht hier ein Modellprojekt für Selbstversorgung. Claudio ist ihr Initiator – nebenberuflich, denn eigentlich ist er Musiker.
Der Empfang im engen Haus der Mirandas ist laut und herzlich. Es ist eines der inoffiziellen Favela-Häuser, die bei jeder neuen Generation eine neue Etage erhalten. Die 80jährige Nachbarin nimmt uns in den Arm wie lange vermisste Freunde. Man verständigt sich schreiend, laute Musik ertönt aus dem Aufnahmestudio im Wohnzimmer, Kinder toben in der engen Wohnung, denn die Straße gehört den Banden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit untermalen Techno-Musik, laufende Automotoren und manchmal Schüsse die Drogendeals.
Als Kind begannen Claudio und sein Bruder Fabio, auf Blechdosen Konzerte zu geben. Müll gab es schliesslich genug, echte Musikinstrumente waren unerschwinglich. Die Musik zog andere Kinder an, und mit 13 gründete Claudio die Band Poesia Samba Soul, die auch heute noch besteht.
«Wir wussten nie, was schlimmer war, die Banden oder die Polizei», erzählt er. Altersgenossen liessen sich von der Drogenwelt und Kriminalität einfangen. Einer seiner besten Freunde wurde erschossen. «Mit 14 war ich auf dem Weg zu einem Konzert. Ein Polizist stoppte mich, sah mein Saxophon, hielt mir die Pistole an den Kopf und sagte: Spiel! Damit ich sehen kann, ob du wirklich Musiker bist. Es war das Solo meines Lebens.»
Es gehört zu Claudios unerschütterlich heiterem Wesen, dass er heute den Polizisten zu seinen Freunden zählt. Seit jenem Moment, als er um sein Leben spielte, wurde Musik statt Tod das Motto seines Lebens. Seine Musikschule im väterlichen Haus bietet zahllosen Jugendlichen und Kindern Möglichkeiten, sich durch Musik, Poesie und Kunst auszudrücken und von der Strasse weg zu kommen.
In der Kunst erlebten sie Freiheit, doch die Realität blieb hart. Arbeit gab es kaum. Mal kam Strom, aber kein Wasser, dann wieder umgekehrt, die Müllabfuhr fand gar nicht hierher, und die Kinder spielten in der engen Wohnung, denn die Strasse gehörte Drogendealern und Banden. Fabio, Claudio und seine Frau Hellem, Sängerin der Band, legten Geld zusammen. Claudio reiste nach Europa und kehrte zurück – im Gepäck einen neuen Samba-Song: Favela da Paz. Er beschreibt einen grünen Stadtteil, nicht reich, aber selbständig und frei. Der Song wurde ein Hit – und zog Verwirklichungskräfte an. Unterstützer fanden sich. Die Firma Lush aus England, der Globale Campus aus Portugal und das Elos-Zentrum aus Sao Paulo brachten Geld, internationales Knowhow und Helfer.
Nach und nach wird das Haus der Familie Miranda zum ökologischen Modellhaus. Zuerst kam die Solardusche. Der Luxus, «warm duschen zu können so lange wir wollen», sprach sich herum. Dann entstand ein Permakulturgarten auf dem Dach, der sich selbst mit Regenwasser tränkt und bewässert. In einer ganzen Strasse, wo bislang kein Grün zu sehen war, sammeln die Bewohner jetzt die Samen aus Früchten, um sie in Claudios Garten aufkeimen zu sehen. Und im Oktober entstand eine Mini-Biogasanlage: Ein künstlicher Kuh-Magen, der Essensreste und die Inhalte der Komposttoilette verdaut und Methan-Gas zum Kochen erzeugt. «Ein Wunder», fanden Nachbarn und Besucher, als die Gasflamme zum ersten mal blau flackerte.
Was wünschen sich die Bewohner am meisten? Die Umfrage im Oktober 2013 auf einem ihrer monatlichen Nachbarschaftskonzerte ergibt: Dass die Kinder wieder draussen spielen können, dass Bäume wachsen im Viertel, dass endlich – nach Jahren – die Müllabfuhr kommt. Es ist der Auftakt einer Aktionswoche.Das Ergebnis zeigte sich im Februar 2014, wie ich aus einer Mail erfahre: Ein Markt mit Volksfest-Charakter und Samba feiert die Eröffnung des gemeinsam eingerichteten Spielplatz. Die Bäume sind noch klein, aber der Garten im Schulhof hat schon erste Ernte eingebracht. Und, worauf viele ihr halbes Leben lang gewartet haben: Die Stadt schickte tatsächlich einen Müllwagen. Es scheint, als habe eine neue Zeit angefangen im Jardim Angela. Die Zeit der Favela da Paz.
Jardim Angela mit 800‘000 Bewohnern wurde in den 90ern von der UNO als einer der brutalsten Stadtteile der Welt eingestuft. Bewohner der offiziellen Stadt lernen diese Welt kaum kennen. «Zu gefährlich», sagen sie. «Niemand geht dorthin.» Was sie nicht wissen: Im Gegensatz zu den anonymen Stadtzentren kennt man sich in der Favela, man hilft sich, wo immer man kann. Mit der «Favela da Paz» entsteht hier ein Modellprojekt für Selbstversorgung. Claudio ist ihr Initiator – nebenberuflich, denn eigentlich ist er Musiker.
Der Empfang im engen Haus der Mirandas ist laut und herzlich. Es ist eines der inoffiziellen Favela-Häuser, die bei jeder neuen Generation eine neue Etage erhalten. Die 80jährige Nachbarin nimmt uns in den Arm wie lange vermisste Freunde. Man verständigt sich schreiend, laute Musik ertönt aus dem Aufnahmestudio im Wohnzimmer, Kinder toben in der engen Wohnung, denn die Straße gehört den Banden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit untermalen Techno-Musik, laufende Automotoren und manchmal Schüsse die Drogendeals.
Als Kind begannen Claudio und sein Bruder Fabio, auf Blechdosen Konzerte zu geben. Müll gab es schliesslich genug, echte Musikinstrumente waren unerschwinglich. Die Musik zog andere Kinder an, und mit 13 gründete Claudio die Band Poesia Samba Soul, die auch heute noch besteht.
«Wir wussten nie, was schlimmer war, die Banden oder die Polizei», erzählt er. Altersgenossen liessen sich von der Drogenwelt und Kriminalität einfangen. Einer seiner besten Freunde wurde erschossen. «Mit 14 war ich auf dem Weg zu einem Konzert. Ein Polizist stoppte mich, sah mein Saxophon, hielt mir die Pistole an den Kopf und sagte: Spiel! Damit ich sehen kann, ob du wirklich Musiker bist. Es war das Solo meines Lebens.»
Es gehört zu Claudios unerschütterlich heiterem Wesen, dass er heute den Polizisten zu seinen Freunden zählt. Seit jenem Moment, als er um sein Leben spielte, wurde Musik statt Tod das Motto seines Lebens. Seine Musikschule im väterlichen Haus bietet zahllosen Jugendlichen und Kindern Möglichkeiten, sich durch Musik, Poesie und Kunst auszudrücken und von der Strasse weg zu kommen.
In der Kunst erlebten sie Freiheit, doch die Realität blieb hart. Arbeit gab es kaum. Mal kam Strom, aber kein Wasser, dann wieder umgekehrt, die Müllabfuhr fand gar nicht hierher, und die Kinder spielten in der engen Wohnung, denn die Strasse gehörte Drogendealern und Banden. Fabio, Claudio und seine Frau Hellem, Sängerin der Band, legten Geld zusammen. Claudio reiste nach Europa und kehrte zurück – im Gepäck einen neuen Samba-Song: Favela da Paz. Er beschreibt einen grünen Stadtteil, nicht reich, aber selbständig und frei. Der Song wurde ein Hit – und zog Verwirklichungskräfte an. Unterstützer fanden sich. Die Firma Lush aus England, der Globale Campus aus Portugal und das Elos-Zentrum aus Sao Paulo brachten Geld, internationales Knowhow und Helfer.
Nach und nach wird das Haus der Familie Miranda zum ökologischen Modellhaus. Zuerst kam die Solardusche. Der Luxus, «warm duschen zu können so lange wir wollen», sprach sich herum. Dann entstand ein Permakulturgarten auf dem Dach, der sich selbst mit Regenwasser tränkt und bewässert. In einer ganzen Strasse, wo bislang kein Grün zu sehen war, sammeln die Bewohner jetzt die Samen aus Früchten, um sie in Claudios Garten aufkeimen zu sehen. Und im Oktober entstand eine Mini-Biogasanlage: Ein künstlicher Kuh-Magen, der Essensreste und die Inhalte der Komposttoilette verdaut und Methan-Gas zum Kochen erzeugt. «Ein Wunder», fanden Nachbarn und Besucher, als die Gasflamme zum ersten mal blau flackerte.
Was wünschen sich die Bewohner am meisten? Die Umfrage im Oktober 2013 auf einem ihrer monatlichen Nachbarschaftskonzerte ergibt: Dass die Kinder wieder draussen spielen können, dass Bäume wachsen im Viertel, dass endlich – nach Jahren – die Müllabfuhr kommt. Es ist der Auftakt einer Aktionswoche.Das Ergebnis zeigte sich im Februar 2014, wie ich aus einer Mail erfahre: Ein Markt mit Volksfest-Charakter und Samba feiert die Eröffnung des gemeinsam eingerichteten Spielplatz. Die Bäume sind noch klein, aber der Garten im Schulhof hat schon erste Ernte eingebracht. Und, worauf viele ihr halbes Leben lang gewartet haben: Die Stadt schickte tatsächlich einen Müllwagen. Es scheint, als habe eine neue Zeit angefangen im Jardim Angela. Die Zeit der Favela da Paz.
30. April 2014
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