Willkommen im Zeitalter der Ungewissheit


Streit, Hunger, Krieg und das latente Gefühl, dass irgendetwas Grosses im Gange ist. Grifen Hope, Gemüsegärtner und Konstruktor aus Chile, über den Zustand des Planeten und wie eine Kultur der Transition aussehen könnte.

Wenn Grifen Hope Vorträge hält, nimmt er seine Zuhörer mit auf den Meeresgrund und schickt sie danach in die Unweiten des Universums. Er bringt sie zum lachen, zum tanzen, zum reflektieren und gibt ihnen das Gefühl, dass ein Leben in Harmonie möglich ist. Ein Leben in Harmonie mit der Natur und also auch mit sich selber.
Doch zuerst – das macht der Vater zweier Kinder ebenfalls klar – muss man die Realität kennen, in der wir heute Leben und die geprägt ist von einem Paradigma aus längst vergangenen Zeiten. Dieses trennt die Spezies Mensch von der Natur und stellt sie als Krone der Schöpfung dar.
Heute, im Jahr 2014, sind die Folgen dieses während Jahrhunderten geglaubten Paradigmas spürbar. Wir leben in Zeiten von Mehrfachkrisen, sei dies sozial, ökonomisch, energetisch, ernährungstechnisch, moralisch, kulturell. Oder wie es der 37-jährige Neuseeländer nennt: spirituell. “Wir leben in der gewalttätigsten Zeit seit dem zweiten Weltkrieg. Um diese Situation zu überwinden, müssen wir das Genie unserer Völker, den Bewohnern dieses Planeten aktivieren.”

Grifen Hope, was ist ein Paradigma?
Ein Paradigma ist ein mentaler Rahmen, eine grosse Struktur, die wir als Menschen untereinander teilen. Sie setzt sich zusammen aus dem was wir sehen, aus dem was wir kennen und aus dem was wir machen.
Mit anderen Worten: unser Alltagsleben.
Genau. In diesem haben sich Erzählungen und soziale Normen festgesetzt, die wir in unseren Köpfen gespeichert haben und die wir unbewusst Generation für Generation weitergeben. Deshalb leben wir heute in einer hyper-industrialisierten Welt, deshalb haben wir heute so viel Unsinn im Kopf. Ich sehe jedenfalls viel Missverständnis, Verwirrung und Gewalt mit Worten.  

Die aktuellen Krisen auf dem Planeten bewirken möglicherweise, dass eine Mehrheit aus dem Traum des unendlichen Wachstums aufzuwachen beginnt.  
Oft beginnt der Wechsel tatsächlich mit einer Krise oder einem Schock, bei dem sich die Person bewusst wird, dass ihr aktuelles Leben nicht mit dem übereinstimmt, was sie fühlt. Auslöser kann auch ständige Unruhe sein oder ein Treffen wie hier in El Bolsón (siehe Kasten). Viele Leute erfahren hier das erste Mal ein Gefühl von Familie, von Zusammenleben, von Liebe und glücklich sein.

Es ist nicht einfach, diesen Spirit danach ins Alltagslaben mitzunehmen.
Nein, es ist überhaupt nicht einfach. Wir kehren zwar zurück zu unseren Familien, Freunden, Arbeitskollegen, aber diese finden oft: Du spinnst! Das was du leben möchtest, ist nicht möglich. 

Ein Schock für das Umfeld?
Für das Umfeld, aber auch für jene, die mit neuen Visionen und Ideen in ihren bisherigen Alltag zurückkehren. Ich glaube allerdings, wenn der Switch einmal umgelegt ist, dann gibt es für die Person kein Zurück. Wir müssen uns wieder in Einklang mit dem bringen was wir denken, fühlen und machen.

Wie kann der Mensch diesen Spirit aktivieren, wenn er durch seinen Alltag absorbiert ist?
Die Wurzeln dieses Spirits liegen im Christentum. Die Botschaft von Jesus war sehr schön und sie ist letztlich die Gleiche wie jene von Buddha oder jene von Mohamed. Sie manifestiert sich in fast allen Religionen auf der Welt, wir brauchen gar nicht weiter zu suchen. Es existiert bereits eine Basis.

Eine spirituelle Basis?
Klar, wir müssen lediglich den Weg weitergehen, den uns unsere Vorfahren hinterlassen haben. Letztlich sind wir alle eins. Ich bin Teil eines Grossen Ganzen, das lebt. Und wenn ich nicht in Harmonie mit diesem grossen Ganzen stehe, werde ich durch meinen Ego dominiert. Die Sache ist, dass wir heute in einer Welt voller Hierachien leben. Es sind Hierachien, die sich mit einem lebenden Planeten, dessen Ressourcen endlich sind, nicht vereinbaren lassen. Wenn wir evolutionieren wollen, brauchen wir ein neues Verständnis für die Kreation unseres Planeten, eine neue Kosmovision.

Wir reden von langwierigen Prozessen.
Wir müssen akzeptieren, dass diese Prozesse Zeit brauchen und alles andere als schnell sind. Es heisst, dass die Industriealisierung fünfhundert und mehr Jahre dauerte und dass es nun, wo wir auf dem Höhepunkt dieser Industriealisierung stehen, weitere fünfhundert Jahre dauern wird, bis wir wieder in einer Zivilisation leben, die in Harmonie zur Natur steht.

Wer sagt das?
Sämtliche Theorien zum peak of oil bestätigen dies. Wir wissen, dass es in der Natur einen Rythumus gibt, einen Atem. Das sind zwar grosse Zyklen, aber viele Menschen auf dem Planeten spüren bereits heute, dass Etwas im Gange ist, und beginnen sich mit sich selber zu versöhnen.  

Wie haben Sie das gemacht?
Ich wuchs in einer Hippie-Kommune in Neuseeland auf und es war für mich ein Schock, als ich in die Welt hinaustrat, die geprägt ist von Individualismus und Konkurrenzkampf. Ich war voller Wut, Kummer und Trauer. Die Welt kann doch nicht so kalt sein! Ich war fünfzehn und begann mit Alkohol, Drogen und Sex. Ich begann zu flüchten. Dabei war mir während langer Zeit selbst nicht klar, was ich eigentlich brauchte. Erst mit dreissig fand ich dann meinen Weg.
Gab es dazu einen konkreten Anlass?
Ja, meine Ankunft in Südamerika vor acht Jahren. Ich konnte mich nicht in meiner Sprache ausdrücken, mir fehlte meine Kultur, meine Identität. Die ersten zwei Jahre waren geprägt von einer Suche nach mir selber. Wer ist Grifen? Ich fühlte mich sehr komisch. Nach einer gewissen Zeit konnte ich mich schliesslich neu definieren. Heute lebe ich ganz gut mit dem Gefühl der Ungewissheit, wohin die Welt geht und auch mit der Komplexität und Grösse unserer Aufgabe.

Welche Aufgabe?
Die Aufgabe eine Kultur der Transition zu entwickeln, eine Kultur des Übergangs. Es ist ein langer Weg, aber ich weiss, was meine Rolle ist und ich werde den Weg weitergehen. Das was ich in meinem Leben konserviere – Prinzipien, Ethik, Lehre, Praxis, andere Menschen motivieren – kann ich an andere weitergeben und der Spirit, von dem wir zuvor sprachen, wird sich vermehren.

Wenn Sie von der Kultur der Transition sprechen, meinen sie den Übergang von einem der Natur fernen Leben, zu einem Leben in Harmonie mit unserem Umfeld?
Exakt. Es gibt Menschen, die sind auf diesem Weg weit vor uns und andere, die sind weit hinter uns. Wir müssen beginnen gemeinsam zu gehen, Schritt für Schritt unseren Konsum verringern, allen voran unseren Energiekonsum. Wir können nicht von einem auf den anderen Tag in die Nachhaltigkeit springen.

Was heisst das konkret?
In Neuseeland kämpften wir während vier Jahren gegen die Einführung von gentechnisch verändertem Saatgut. Wir kämpften, unterrichteten, informierten – und verloren. Die Regierung sagte, dass das was die Ökos sagen nicht so wichtig ist und das wirtschaftliche Wachstum Priorität hätte. Das war eine grosse Frustration.

Lohnte sich der Protest?
Ja, das Gegen-Etwas-sein ist sehr wichtig. Es lohnt sich, gegen Monsanto zu kämpfen. Aber heute brauchen wir andere Dinge, Dinge, die für eine offene Polinisation sind, für Bio-Landwirtschaft, fürs Leben.

Sie gingen also selber durch eine Art Paradigmenwechsel – vom entsetzen Gegner gentechnisch veränderten Saatguts zum Kämpfer für das Leben?
Ja, an Stelle von Kontra brauchen wir Pro. Diesbezüglich brauch' ich oft die Worte von Einstein, der sagte: “Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Sonst landen wir  immer im Kapitalismus mit dem grünen Mäntelchen. Wir müssen das aktuelle System bis zu seinem Tod ignorieren und gleichzeitig mit dem Aufbau einer neuen Realität beginnen.

Und wie könnte die philosophische Grundlage dieser neuen Realität aussehen?
Schutz von Personen und Erde, Einschränkung unseres Konsums und Teilen unseres Überschusses – Diese drei ethischen Grundsätze sind die Basis von allen traditionellen Kulturen, die in Harmonie mit ihrem Umfeld lebten; auch die Permakultur baut auf diese Werte. Wir sind nunmal nicht das Ende der Evolution. Ich glaube wir sind heute weltweit an einem kritischen Punkt angelangt, bei dem es nur zwei weitere Wege gibt: Ja oder Nein.

Das tönt wie im Film The Matrix, wo der Protagonist zwischen der Roten und der Blauen Pille wählen muss. Der Switch, von dem Sie zuvor sprachen.
In dieser Etappe befinden wir uns.Viele wollen, dass die Menschen Nein sagen. Sie wollen den Status Quo aufrechterhalten, weil es ihnen dadurch gut geht. Das Geld fliesst in ihre Richtung, genauso wie die Macht. Sie wollen uns weiterhin im Zustand des dummen Konsumenten halten. 

Das heisst also: Rot oder blau, Ja oder Nein.
Wir brauchen Menschen, die Ja sagen. Ja, dass sie die Welt in der sie leben ändern können. In ihrer Stadt, in ihrem Dorf, in ihrem Umfeld, in ihrer Familie.

Wo die Reise wohl hinführt, wenn viele Menschen Ja sagen.
Herzlich Willkommen im Zeitalter der Ungewissheit! Es gibt keine Meister dieses Weges, keine Gurus, die dir ihre Weisheit vermitteln. Es ist der Weg jedes Einzelnen. Ein innerer Weg und auch ein äusserer. Ein Weg, auf dem wir unseren Kopf, unser Herz und unsere Hände brauchen. Mit diesen dreien ändern wir Paradigmen.
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Sechs Tage Weltenwechsel
Das Bio-Construyendo ist ein sechstägiger theoretischer und praktischer Workshop zu den Themen Bio-Konstruktion, Bio-Gemüsegarten, Kunst und Spiritualität. Das Treffen fand dieses Jahr in El Bolsón (Argentinien) statt. Die über 100 TeilnehmerInnen kamen unter anderem aus Frankreich, Deutschland, Spanien, Neuseeland, sowie aus zahlreichen lateinamerikanischen Staaten. “Wir wollen die Menschen motivieren, ihren eigenen Weg zu gehen”, sagt Paulina Avila, Gründungsmitglied und Mitorganisatorin des Treffens. Oft suche der Mensch ausserhalb seines Wirkungsbereiches nach Antworten auf sein Dasein. Stattdessen solle er besser in sich hineinschauen. “Wir hoffen, dass die TeilnehmerInnen innerhalb der Workshops ihre Fähigkeiten entdecken und diese in ihren Alltag einbringen können”, sagt die 38-Jährige Chilenin.