Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen werfen der Koalition vor, zentrale Reformversprechen gebrochen, Freiheitsrechte eingeschränkt und wirtschaftliche Interessen über soziale und ökologische Belange gestellt zu haben. Der Koalitionsvertrag wird von vielen als Rückschritt bewertet – nicht als Neuanfang.
Gesundheit: Reform mit Kahlschlag statt Versorgungssicherheit
Besonders scharf fällt die Kritik des Bündnisses Klinikrettung aus. Die Fortführung der Krankenhausreform, die noch unter Gesundheitsminister Lauterbach angestossen wurde, sei laut der Organisation nichts anderes als ein «Kahlschlag der stationären Versorgung». Sprecherin Laura Valentukeviciute kritisiert die Kehrtwende der CDU/CSU, die das Reformgesetz im Bundestag noch als «verkorkst» ablehnte, nun aber im Koalitionsvertrag mitträgt:
Als ob nichts gewesen sei, bescheinigt auch die CDU/CSU im Koalitionspapier der Reform die Möglichkeit ‚eine qualitative, bedarfsgerechte und praxistaugliche Krankenhauslandschaft‘ aufzubauen. Das Gegenteil ist der Fall.
Auch der Klinikvorstand i.R. Klaus Emmerich warnt: «Viele Menschen werden kein Allgemeinkrankenhaus einschliesslich Basisnotfallversorgung mehr binnen 30 Fahrzeitminuten erreichen. Dies kann bei eskalierenden Krankheitsverläufen und Verletzungen lebensentscheidend sein.»
Das Bündnis fordert eine vollständige Neuausrichtung: Selbstkostendeckung, demokratische Bedarfsplanung und ein Ende der Profitlogik im Gesundheitswesen.
Transparenz und Lobbykontrolle: Leere Versprechen
Auch von LobbyControl kommt massive Kritik: Der Koalitionsvertrag lasse zentrale Forderungen zur Transparenz völlig vermissen. Anja Nordmann, politische Geschäftsführerin, sagt:
Unsere Demokratie steht derzeit von aussen wie von innen stark unter Druck. Union und SPD setzen völlig falsche Prioritäten, wenn Themen wie illegitime Einflussnahme, Integrität und Transparenz in ihrem Koalitionsvertrag nicht vorkommen.
Stattdessen sei der Vertrag gespickt mit «Lobbygeschenken für Konzerne» und enthalte Rückschritte bei zivilgesellschaftlichen Kontrollinstrumenten. Besonders brisant: Die Koalition will das Informationsfreiheitsgesetz «reformieren» – eine Formulierung, die viele als Einladung zur Einschränkung verstehen.
Aussenpolitik und Waffenexporte: Wirtschaft vor Menschenrechten
Besonders alarmierend sind die Aussagen zur Rüstungspolitik. Die Kampagne «Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel» kritisiert, dass Rüstungsexporte laut Koalitionsvertrag «an den Interessen der Wirtschaftspolitik ausgerichtet» werden sollen.
Gerold König von pax christi warnt: «Die Menschenrechte […] gelten universell. Die Vermeidung von Leid und nicht die Vermehrung von Profit muss die oberste Maxime jeder Rüstungsexportkontrolle sein!»
Jürgen Grässlin Sprecher der «Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel» ergänzt, dass der Vertrag «nicht einmal die Mindeststandards des internationalen Waffenhandelsvertrags» einhalte. Die Organisationen fordern eine Nachverhandlung und ein vollständiges Exportverbot an menschenrechtsverletzende Staaten.
Rechtsstaat: Einschränkungen statt Schutz
Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) sieht in dem Koalitionsvertrag eine Gefahr für den Rechtsstaat. Geschäftsführer Lukas Theune kritisiert: «Durch diesen Koalitionsvertrag zieht sich ein roter Faden: Freiheitsrechte werden beschränkt und rechtsstaatliche Errungenschaften abgebaut.»
Die konkreten Massnahmen sind noch unklar, doch der RAV warnt vor einem schleichenden Abbau bürgerlicher Freiheiten zugunsten sicherheitspolitischer Erwägungen.
Umweltpolitik: Kürzungen gefährden Engagement
Die ÖDP Brandenburg warnt vor drastischen Einschnitten bei der Förderung von Umwelt- und Mobilitätsverbänden. Thomas Löb, Landesvorstand der Ökologisch-Demokratischen Partei, nennt die Kürzungen einen «Riesenschritt in die falsche Richtung»:
Diese Kürzungen greifen das zivilgesellschaftliche Engagement im Umwelt- und Mobilitätsbereich aktiv an. Sie begünstigen Populismus und Demokratieverdrossenheit!
Betroffen seien zahlreiche Bildungs- und Naturschutzprojekte sowie das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ). Die ÖDP fordert, die Förderstruktur zu sichern, statt sie in Zeiten der Klimakrise zu zerstören.
Schuldenpolitik: Vorsichtiger Hoffnungsschimmer
Trotz spürbarer Rückschritte bei Fragen globaler Gerechtigkeit enthält der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD Ansatzpunkte, die Fortschritte bei der Lösung von Schuldenkrisen in Ländern des Globalen Südens ermöglichen könnten. Das Entschuldungsbündnis erlassjahr.de sieht darin eine Chance.
Kristina Rehbein fordert konkrete Schritte: «Jetzt gilt es, das Vorhaben konkret umzusetzen und ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen.» Insbesondere die Beteiligung privater Gläubiger an Entschuldungsprozessen müsse verbindlich geregelt werden.
Fazit
Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wird von zivilgesellschaftlichen Akteuren überwiegend kritisch aufgenommen und es überwiegt die Enttäuschung: Sozialabbau, Demokratiedefizite, zivilgesellschaftliche Einschränkungen und ein an wirtschaftliches Interesse ausgerichtete Aussenpolitik prägen das Bild.
Viele Organisationen fordern Nachverhandlungen und eine tatsächliche politische Kehrtwende. Dazu wird die Bundesregierung kaum bereit sein und so wird der Vertrag wohl zum Symbol für Stillstand und Rückschritt werden.