Zürich als Zentrum der Friedensbewegung

Es sind vor allem Ausländer, die vor hundert Jahren in Zürich eine internationale pazifistische Bewegung gründen. Mitten unter ihnen: Lenin. Aber er hält nichts von der Niederlegung der Waffen und geht an der berühmten Konferenz von Zimmerwald mit Trotzki eigene Wege.

Der freie Personenverkehr ist keine neue Erfindung. Vor über 100 Jahren kannte man in Europa nichts anderes. Pässe gabs nicht, jeder konnte sich überall niederlassen. Das Wort Ausländer fand im Schweizerischen Zivilgesetzbuch erst im Jahr 1912 Eingang.


Nach der gescheiterten 1848er-Revolution in Deutschland strömen tausende Menschen in die Schweiz mit ihren bürgerlichen Freiheiten, die in zahlreichen anderen Staaten Europas erfolglos eingefordert worden waren. Als Folge davon verzehnfacht sich die ausländische Bevölkerung der Stadt Zürich.
Zwischen 1895 und 1913 steigt die Einwohnerzahl der Schweiz insgesamt um 20 Prozent. Die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz, insbesondere die starke Industrialisierung, zieht Menschen aus ganz Europa an. Das Land wird vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland.


1912 zählt die Stadt Zürich einen Ausländeranteil von 32,2 Prozent, 21 Prozent sind Deutsche. In Genf sind es um 1910 sogar 40 Prozent, in Basel 38 Prozent. Zu dieser Zeit schicken wohlhabende Russen ihre Söhne und vor allem Töchter in die Schweiz. Sie bilden einen gossen Teil der Studenten an den Universitäten. Jeder dritte Student im Land stammt aus Russland – rund 90 Prozent davon sind Frauen. Auf die Schweizer entfällt gerade mal ein Drittel.
In der Zeit des industriellen Aufschwunges kennen die Arbeiter, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen leben, wenig Rechte. Zusammen mit den fortschrittlichen Ausländern entsteht eine revolutionär-emanzipatorische Bewegung. Es bilden sich schon früh in Zürich, aber auch andernorts, Arbeiterbildungsvereine, die sich um das Proletariat kümmern. Besonders aktiv ist der «Deutsche Arbeiter-Bildungs-Verein Eintracht in Zürich», der im heutigen Theater am Neumarkt zu Hause ist.
 


Die erste Friedensbewegung
Während in Europa der Erste Weltkrieg tobt, wird auf der neutralen Insel Schweiz die Stadt Zürich zur Drehscheibe einer internationalen Friedensbewegung. Gleichzeitig gehen tausende Ausländer zurück in ihre Heimat und in den Krieg, während Kriegsflüchtlinge und Deserteure – viele von ihnen revolutionär oder anarchistisch angehaucht – in der Schweiz Schutz suchen. Diese Immigranten bilden die intellektuelle Vorhut der Friedensbewegung, die Arbeiterschaft in den neu eingemeindeten Aussenquartieren ist ihre Basis für den gesellschaftlichen Druck gegen den Krieg. Politisch links geschulte Jugendliche in ihren Organisationen mit Mädchensektionen tun das Ihrige zu dieser Entwicklung. In den Zürcher Stadtquartieren formieren sich linke Diskussionszirkel mit getarnten Bezeichnungen wie zum Beispiel «Kegelklub».


Einer der führenden Köpfe der Friedensbewegung ist der Deutsche Willi Münzenberg, der Sekretär der Internationalen Jugendvereinigungen. Er organisiert von Zürich aus die europaweite Agitation für den Frieden und lernt dabei Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, kennen, der immer wieder vor dem zaristischen Russland in die Schweiz flüchtete und mit Unterbrüchen seit 1895 im Land ist.
Weitere führende Köpfe der Bewegung sind Fritz Platten, Sekretär der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, der 1917 die Reise Lenins im Eisenbahnwagen nach Russland organisieren wird, später in die Sowjetunion übersiedelt und dort im Zuge des Grossen Terrors in einem Arbeitslager erschossen wird, sowie Ernst Nobs. Er wurde 1943 der erste SP-Bundesrat. Der Friedensapostel Max Daetwyler, Pazifist und erster Schweizer Kriegsdienstverweigerer, findet Anhänger und gehört bis in die 1970er Jahre zum Strassenbild des Landes.
Lenin liebt die Schweiz, aber ist frustriert


Lenin ist zu dieser Zeit Mitglied der SP Schweiz. Doch von den Schweizer Genossen hält er wenig. Er selber bezeichnet Robert Grimm, den führenden Schweizer Sozialdemokraten und Redaktor der «Berner Tagwacht», als «Schuft», der «in der Partei seines spiessbürgerlichen Landes versinkt». Die Verachtung war übrigens gegenseitig. Während Lenin von der Schönheit der Schweizer Landschaft schwärmt, findet er es je länger desto frustrierender, dass er dieses Land nicht in die Revolution führen kann und fragt sich, was eigentlich dieser «kleinbürgerliche Bazillus» ist, der die Schweizer Revolutionäre angesteckt hat. Die Schweiz lobt er als «ein sauberes, reingefegtes Land», mit «hübschen Bergen, freundlichen Pensionen, klaren Seen». Besonders angetan haben es ihm die Bibliotheken. Die Zentralbibliothek Zürich ist für ihn ein Grund, von Bern umzuziehen: «Was für eine Freude es immer ist, dort zu arbeiten – dies jetzt, wo Krieg herrscht». Als Zentrum der antizaristischen Russen ist die Schweiz für ihn auch ein «Klärbecken der russischen Revolution», wo die Spreu vom Weizen getrennt wird.
Ebenfalls in Zürich befindet sich Leo Bronstein, Kampfname Trotzki, Berufsrevolutionär und marxistischer Theoretiker, der nach der ersten russischen Revolution in die Schweiz geflohen ist. Noch sind Trotzki und Lenin damals aber nur einem kleinen Kreis von Leuten bekannt.



Trotzki verfasst Programm für Zimmerwald in Zürich
Beide verkehren in der «Eintracht», einem politischen Kampfverein, wo Handwerker Arbeit suchen und sich weiterbilden können. Im November 1914 entsteht in der «Eintracht» eine Broschüre, deren Thesen später in Zimmerwald verhandelt werden. Autor: Trotzki. Die Konferenz, einberufen von Robert Grimm, hat das Ziel, die Sozialistische Internationale neu zu organisieren. Im Kampf gegen den Krieg setzt der Initiant auf die direkte Vernetzung der den Internationalismus hochhaltenden sozialistischen Kriegsgegner aus allen Ländern.
Während vier Tagen werden im verschlafenen Bauerndorf in der Nähe von Bern die unterschiedlichen Positionen der linken Teilnehmer aus aller Welt diskutiert. Bloss, die Parteien finden sich nicht. Die Minderheit um Lenin ist der Meinung, dass das Proletariat seine Waffen erheben müsse gegen die herrschende Klasse. Trotzdem wird das «Zimmerwald Manifest», ein Aufruf für den Frieden und die Beendigung des Ersten Weltkriegs, von allen Teilnehmern unterzeichnet. Fortan aber ist die Arbeiterbewegung gespalten in Sozialdemokraten und revolutionäre Kommunisten.
Die Ideen der Gruppe um Lenin, damals als «Zimmerwalder Linke» bezeichnet, fallen in Russland auf fruchtbaren Boden, führen zur bolschewistischen Revolution und letztlich zur Gründung der Sowjetunion. Das Bauerndorf Zimmerwald trägt fortan den mythisch verklärten Titel: «Wiege der UdSSR».


Den verabschiedeten Thesen der Konferenz schliessen sich Gruppen in ganz Europa an. Die Bewegung der «Zimmerwalder» verkörpert die «kreative Substanz des undogmatischen revolutionären Denkens mit internationaler Orientierung», bilanziert Bruno Kammerer, Graphiker und Politiker aus einer in Zürich seit Generationen politisch aktiven Familie und Kenner der Arbeiterbewegung.
Ein Jahr nach der Konferenz in Zimmerwald ruft Grimm zur Konferenz in Kiental im Berner Oberland. Jetzt gewinnt die revolutionäre Richtung an Einfluss. Der Wille zum revolutionären Klassenkampf findet diesmal in der Resolution der Konferenz Eingang.

Bald haben die russischen Agitatoren allerdings ein Problem. Sie sitzen in der Schweiz, während in der Heimat die Revolution ausbricht. Lenin macht sich in einem plombierten Eisenbahnwagen auf den Weg nach Russland, wo er später an die Macht kommt. In der Schweiz toben Streiks und unter den Arbeitern gärt es. Es ist eine unruhige Zeit – auch in Zürich.  



Der Geist der «Proletarischen Jugend»lebt heute weiter
Nachdem er ausgewiesen 1917 wird, baut Willi Münzenberg in Berlin ein kommunistisches Presseunternehmen und gründet die «Arbeiter-Illustrierte-Zeitung». Im selben Jahr gründet unter dem Einfluss von Zimmerwald eine Gruppe von Jungburschen in Zürich die politische Genossenschaft «Proletarische Jugend». Ganz im Sinne der «Eintracht», die zerfällt, bietet sie kulturelle und politische Bildung an. 1934 eröffnet sie mit dem «Café Boy» einen Neubau mit Café, Produktionswerkstätten und Versammlungsräumen. Als Zimmerwald-Tochter ist die Genossenschaft, die heute unter der Bezeichnung «bonlieu» firmiert, seit jeher international gegen den Faschismus tätig. Bis zum Untergang des Franco-Regimes im Jahr 1976 beliefern zum Beispiel «bonlieu»-Kuriere die spanischen Anitfaschisten mit geheimen Unterlagen. Die «bonlieuGenossenschaft für Wohnen und Kultur» engagiert sich heute im privaten und öffentlichen Bereich als Lobbyistin für eine solidarische kulturelle Entwicklung unserer Gesellschaft. So lebt ein bisschen Zimmerwald bis heute weiter, auch wenn sich die Zimmerwaldner selbst gegen ihre Vergangenheit wehren und im Dorf Erinnerungstafeln verboten sind.
28. Oktober 2015
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