Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Ein Traum der niemals verblassen darf: Friede zwischen Palästina und Israel. / © Ballerup Bibliotheken

Wenn diese Zeilen erscheinen, werden sich die Ereignisse erneut überschlagen haben. Auf die vielen Toten in Israel werden noch viel mehr Tote in Gaza kommen. Die eingesperrte Enklave mit der extremen Bevölkerungsdichte wird in Schutt und Asche gelegt und noch unbewohnbarer werden, als sie es bisher schon war. Der israelische Staat wird sich an den Palästinensern mit alttestamentarischer Härte rächen für den brutalen Überraschungsangriff am Wochenende, der die von den USA hochgerüstete Armee vollkommen blossstellte.

So wie Putin in den Augen des Westens als Inbegriff des Bösen gesteinigt wurde, so ist es nun die Hamas, die direkt aus der Hölle kommt. Die Politik und die Medien werden nicht von den Palästinensern sprechen, sondern immer nur von der Hamas. Denn sobald man vom palästinensischen Volk spricht, wird es mit der Verurteilung schwieriger. Ohne das palästinensische Volk gäbe es die Hamas gar nicht. Ohne das Leiden der Palästinenser wäre die Hamas niemals so stark. Die vielen jungen und jüngeren Männer aus Gaza, die der Hamas beitreten, tun dies nur, weil sie in ihrem von Israel kontrollierten grössten Freiluftgefängnis der Welt keine andere Wahl haben. Weil sie alle arbeitslos sind. Weil es in Gaza keine Industrie, keine Landwirtschaft und keine Fischerei gibt, die den Menschen ein Einkommen sichern könnte. Weil Gaza von Hilfsgeldern lebt.

Nicht viel besser geht es den Palästinensern im Westjordanland. Entweder sind sie arbeitslos oder sie müssen dankbar und froh sein, wenn sie in Israel arbeiten dürfen. Auch im Westjordanland schliessen sich viele Männer dem Dschihad an. Dazu hätten sie keinen Grund, wenn ihr Land ein freies Land wäre.

Mit anderen Worten: So wie der Ukraine-Konflikt eine Vorgeschichte hat, hat auch der barbarische Angriff der Hamas-Milizen auf Israel seine Ursachen. Terror entsteht nie von selbst. Terroristen gibt es nur, wenn ein Volk nicht gehört wird – wenn es schreien kann, solange es will, und niemand erlöst es. Wenn alle Bittschriften und Appelle, alle friedlichen Kundgebungen, Proteste und Konferenzen nichts nützen. Wenn die Besatzungsmacht keinen Millimeter zurückweicht. So geht es den Palästinensern seit vielen Jahrzehnten. Man bedauert ihr Schicksal, doch es ändert sich nichts.

Wer von uns hat in den letzten drei Jahren an Palästina gedacht? Es ging um Corona, um die Ukraine, ums Klima, um Gendersprache und Mohrenköpfe – Palästina wurde vergessen, wenn es nicht schon vergessen war. Im Schatten der Weltpolitik hatte der israelische Staat freie Bahn, die Palästinenser weiter zu demütigen, zu diskriminieren und ihnen noch mehr Land wegzunehmen.

Darüber müsste man sprechen. Man müsste Israel dazu bewegen, seine Haltung zu ändern. Warum geschieht das nicht? Warum dringen die westlichen Staaten nicht viel entschiedener auf ein Entgegenkommen von Israel? Warum wird die Benachteiligung der Palästinenser zwar kritisiert, warum wird sogar die Siedlungspolitik angeklagt, warum haben die Vereinten Nationen schon viele israel-kritische Resolutionen beschlossen – und es hat sich doch nichts geändert?

Weil sich nichts ändern soll. Weil Israel der westliche Aussenposten im arabischen Raum ist. Der verlässlichste Verbündete der Amerikaner im Nahen Osten. Der 51. amerikanische Staat. Deshalb stehen die USA unerschütterlich hinter Israel. Deshalb unternehmen sie alles, damit Israel so dominant und so unangreifbar bleibt, wie es ist. Die USA sind die Schutzmacht. Alles, was Israel tut, ist mit den USA abgesprochen.

Dahinter steht eine Arroganz, die wir kennen: Die Arroganz der USA, sich als die führende Macht der Welt zu betrachten und danach zu handeln. Wir sind das freie Amerika! Wir und die mit uns verbündeten westlichen Staaten sind die freie demokratische Welt. Wir sind die Wertegemeinschaft der Zivilisierten und Kultivierten, wir sind die LGBT- und Gender-Bewussten, wir machen es besser, wir haben recht. Das ist die Haltung der Amerikaner und alle machen mit: Kanada, Japan, Australien, Europa – und Israel.

Die westliche Arroganz ist im Grunde nichts anderes als die Rückkehr der Kolonialzeit. Sie ist purer Imperialismus. Russland bekommt sie zu spüren, China bekommt sie zu spüren und neuerdings Afrika: Alle, die nicht länger nach der Pfeife des Westens zu tanzen bereit sind, müssen erfahren, wieviel diese Werte wert sind, die der Westen wie seine Fahne voranträgt. Sie sind nichts wert.

Aber auch Israel fühlt sich besser als seine Nachbarn. Im Nahen Osten brüstet sich die Regierung, sind wir die einzige wahre Demokratie, der einzige wirkliche Rechtsstaat. Auch Israel kann nicht ertragen, dass andere Länder anders sind. Dass sie andere Traditionen, andere Mentalitäten haben. Israel schaut auf seine Nachbarn hinab. Und ganz besonders verachtet es die Palästinenser. Für die Israeli sind die Palästinenser Menschen zweiter Klasse. Und so werden sie auch behandelt. So werden sie seit jeher behandelt. Das ist die Erklärung für den Aufstieg der Hamas. Das ist die Erklärung für den grausamen Angriff am Wochenende.

Die Hunderten Toten von Israel sind der schreckliche, furchtbare Preis für die israelische und die westliche Arroganz. Der Preis, den die Menschen im Gazastreifen bezahlen werden, wird noch viel furchtbarer sein. Doch wer schon so viel verloren und so viel erlitten hat wie die 600’000 Bewohner des umzingelten Terrains, dem ist alles egal. Die jungen Männer von Gaza, die am Wochenende in Israel wüteten – sie wissen, dass sie nicht überleben werden. Der lange Arm der israelischen Militärmaschinerie, die jetzt angerollt ist, wird sie finden und töten. Sie werden sterben als Hamas-Kämpfer mit Allah auf den Lippen. Aber eigentlich werden sie sterben, weil der Tod ihr einziger Ausweg ist.

So wird der israelische Staat schon bald triumphieren: Wir haben Rache geübt und die Normalität wiederhergestellt. Die Normalität der uneingeschränkten israelischen Herrschaft. Israels Triumph wird auch ein Sieg der westlichen Welt sein. Oder wie es ein Chefredaktor in Worte fasste: «Es gibt nur eine Wahl: jene zwischen der freien Welt und der unfreien.»

Die «freie Welt» hat Verluste erlitten. Aber sie hat gewonnen. Die «unfreie Welt» wird verlieren, ein weiteres Mal. Ist es nicht gut so? Ist die «freie Welt» nicht besser als die «unfreie Welt»? Solange sich diese Haltung nicht ändert, wird es keinen Frieden in Palästina geben.

Der nächste Podcast-Text folgt am 25. Oktober.

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Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

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Kommentare

Der furchtbare Preis der Arroganz

von al dorper
Der Text von Nicolas Lindt beschreibt die Situation treffend.

Arroganz

von Marilupa
Ja, was Nicolas schreibt ist absolut richtig. Es fehlt in diesem Konflikt an etwas Wesentlichem: Nur wenn das alte Gesetz „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ abgelöst wird durch die Kraft „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ kann Frieden einziehen.