Auf der Suche nach dem verlorenen Hof

5. Zürcher HOFgesang 8. Mai - 11. Juni 2014. Eine Nachbarschaftsinitiative

„Es wäre einfach schön, wenn die Menschen wieder die Namen ihrer Nachbarn kennen würden. So wie in den Fünfzigern und Sechzigern“, bemerkte Aki Kaurismäki in einem Interview. Dass Nachbarn einander heute kaum mehr zur Kenntnis nehmen, liegt auf der Hand - das  Smartphone. Display und Ohrstöpsel beliefern uns mit allen denkbaren Texten und Geräuschen, die Namen der Nachbarn, die an mir vorübergehen oder im Lift neben mir stehen, werden nicht angezeigt, sind also unerheblich. Doch die Stöpsel kamen erst in den Achtzigern und die Displays erst in den Nullern. War da also noch was? Ja, da war noch was: der Raum hinter dem Haus: der Hof - dort wo die Autos stehen. Die kamen in den Siebzigern, Nicht alle auf einmal, eins nach dem andern. Neubauten erhalten in der Regel eine Tiefgarage, ihr Dach ist der Boden des Hofs, darauf schüchterne Birken stehen. Die machen das Beste daraus, aber in den Himmel wachsen sie nicht, Kinder aber können spielen, die Älteren plaudern oder auch mal wieder spielen.

Aber wie war’s denn, als die Menschen die Namen der Nachbarn noch kannten? 
Also grob gesagt vom Mittelalter bis in die Sechziger? Der Hof klang ganz anderes als heute: Amselgesang und Spatzengeschwätz wurden schon frühmorgens von den unterschiedlichsten Arbeitsgeräuschen ergänzt oder gestört, menschliche Rufe ertönten, auch Gesang bisweilen. Fast jeder Hof beherbergte ein Kleingewerbe, im verbleibenden Raum wurde Wäsche zum trocknen aufgehängt, im letzten Jahrhundert wurden Teppiche geklopft, im Frühjahr Betten gesonnt, Fensterläden (aus Holz) geölt, wurde Gemüse angebaut, wenn die Lichtverhältnisse es zuliessen, etc. Kurz: Höfe waren Arbeitsplätze und demzufolge auch Begegnungsorte. Die Kinder machten sich als Zaungäste oder Hilfskräfte mit der Arbeitswelt vertraut und fanden Nischen zum Spiel. Man lief einander über den Weg - ob man wollte oder nicht. Manchmal kamen Fahrende vorbei und spielten zur Kochenszeit auf einer Drehorgel. Dann durften die Kinder, je nach Kassenstand, ein Zwanzig- oder Fünfzigrappenstück in Papier eingewickelt, aus dem Küchenfenster hinunterwerfen.
Mit all dem Leben ist's in der Mehrzahl der Höfe vorbei. Ausnahmen bilden genossenschaftliche und kommunale Siedlungen, ebenso die Hinterhöfe der Altstadt, wo in der Regel Hofeinfahrten fehlen. 
Die Höfe der übrigen Altliegenschaften wurden zweckentfremdet: vom Werkplatz zum Parkplatz. Nicht mehr Amselgesang umschmeichelt das erwachende Gehör, Motoren und das Schletzen der Autotüren plagen es, und Parterrebewohner/innen erwachen im Abgas, falls sie vergessen, die Fenster auch in lauen Sommernächten zu schliessen.

Chorgesang für eine artgerechte Haltung der Stadtmenschen. Die Rückseite der Stadt ist uns weitgehend unbekannt, was noch nicht erstaunen muss. Was erstaunen müsste: dass wir – aus guten Gründen – um Gestalt und Standort einzelner Bauvorhaben streiten, dies aber nicht tun, wenn der Nachbarschaftskultur der Boden entzogen wird. Erstaunlich auch, dass wir – aus guten Gründen – einen Aufpreis für Eier aus Freilandhaltung zu zahlen bereit sind, gleichzeitig aber den uns versagten Auslauf nicht zurückfordern. Das entstandene Defizit wurde von Fachwelt und Politik bisher gründlich übersehen. Unter dem Titel "Lebenswelt Stadt" werden Berichte zu Nationalfondsstudien publiziert, in denen das Wort "Hof" nicht vorkommt, und dies obschon Aussen- und Innen- und Vorder-, Zwischen- und Hinterhöfe rund ein Viertel des Stadtraums einnehmen.
Mitte der Siebziger Jahre, als der Begriff "Lebensqualität" Hochkonjunktur hatte, als viele darunter nicht allein Konsum und Sicherheit verstanden, entstanden unzählige Initiativen, diese "Qualität" lebensnah zu interpretieren, so auch im Hinterhof.
In zahlreichen Städten des In- und Auslands wurden öffentliche Beratungsstellen für Hinterhofsanierung eingerichtet. Teils wurden diese selbst aktiv, öfter haben sie Initiativen von Genossenschaften und Privaten aufgenommen und den "Sanierungsprozess" unterstützt, mit Rat und Tat. In Zürich wurden Projektierungskosten über einen Sanierungsfond finanziert. Entstanden sind auf diese Weise mehr oder weniger phantasievolle (vor allem Spielplatz-) Möbilierungen, aber auch originelle, heute noch beliebte Lebensräume, zum Beispiel der – neben dem Rosenhof im Niederdorf, wo der Max-Frisch-Brunnen steht – populärste in Zürich: der Klingenhof. Die Stadt beschloss vor bald vierzig Jahren, den dreigeschossigen Gewerbebau, der den grössten Teil der Hoffläche einnahm, abzubrechen, um Luft und Licht an die rückseitigen Fassaden zu lassen. Dass der Vorschlag, ein Gebäudeteil stehen zu lassen, am meisten überzeugte, ist zur Zeit, wo der Öffentliche Raum gerade dem flächendeckenden Normierungsprogramm „Stadträume 2010“ unterworfen wird, nicht mehr denkbar. Der Architekt René Haubensak, der im Wettbewerb um die Neugestaltung des Hofs für eine Ruine plädierte, sagt dazu: „Das nicht Fertige, das Unvollendete weckt schöpferische Kräfte und Fantasien“. Und: „Perfektion schafft Aggression“. Kein Wunder erklingen gerade in diesem Hof die meisten Hofgesänge. Wegen der Folgenschwere ist es tragisch, dass der Befund in den Köpfen der heute wirkenden Planer und Bürokraten keinen Platz findet. Bereits Mitte der 80er Jahre erlahmt der Verbesserungs- und der Beratungswille behördlicherseits wieder, denn der Zeitgeist weht nun anderswo, New Public Management wirft seine Schatten voraus.

Unabhängig von jener "Hofserneuerungswelle" wurden in einzelnen Siedlungen schon Mal Parkfelder aufgehoben und in Freiräume verwandelt. Es waren diese seltenen Rückeroberungen von Boden auf dem in der Folge Nachbarschaft nun wachsen und gedeihen kann, die vor bald zehn Jahren den Anstoss zur Initiative HOF gesang gaben, die Erfahrung, dass ein gemeinsam genutzter und unterhaltener Raum im unmittelbaren Wohnumfeld eine wesentliche Voraussetzung für ein verständnisvolles Miteinander ist. Denn Nachbarn, die unfreiwillig das bevorzugte TV-Programm des andern kennen, die Toilettenspülung hören und anderes mehr, die sich aber nie begegnen und kennen lernen, werden weniger Verständnis für einander aufbringen, Konflikte sind dann nicht weit und Integration ist unwahrscheinlich.
Warum nun Gesang? Weil Hof und Gesang seit jeher zusammengehören. Im Hof erklang seit jeher Musik, lange bevor Konzertsäle entstanden. Weil Musik, Gesang ganz besonders, nicht nur an unserer Oberfläche kratzt, wie es etwa amtliche Werbekampagnen tun. Der Klang dringt in Bereiche tief unter der Hirnrinde und verändert unseren Gefühls- und mithin Bewusstseinszustand. Einfacher gesagt: Weil Gesang uns bezaubert und den Hof verzaubert. Weil gemeinsam Singen Grenzen öffnet, etwa Gartenzäune, und weil Höfe akustisch spannende Konzerträume sind. Schliesslich weil der besuchende Chor in einem der hundert Höfe bestimmt auf den schmerzlich vermissten Alt oder Tenor trifft. Oder anders gesagt, weil beim HOF gesang die Stunde derer schlägt, die schon lange gerne ihre eigene Stimme im Chor erhoben hätten und es nur noch nicht wussten.


Die Gemüter zu bewegen, gehen die Hofsänger/innen einen nahe liegenden Weg: Sie bewegen sich selber – unter die Balkone und Küchenfenster – und liefern ihre Gesänge frei Hof. So wird Chorgesang der breiten Bevölkerung, insbesondere auch einer nicht konzertgewohnten, buchstäblich nahe gebracht. Gerade Kinder und Jugendliche, die in nicht optimalen Wohnverhältnissen leben, erleben live, dass es für sie eine Gesangskultur diesseits des Bildschirms gibt, und dass Singen befreit und Singen vereint. So entsteht das Hofgefühl zur Maienzeit: Die Chöre und Schulklassen lachen sich einen Hof an und lassen ihn mit ihren Stimmen erklingen. als hör- und sichtbaren Impuls, der den Anwohner/innen einen neuen Blick auf ihren Hof gestattet. Wenn sie dies in einem freundlichen Hof tun und anschliessend mit dem Publikum in einen trostlosen Hof wechseln und diesen herzhaft singend wach küssen, erreicht die Botschaft - auch ohne Ansprachen - die Zuhörer-, die eben auch Zuschauer-/Innen sind.
Nicht beabsichtigt ist, Rambazamba in die Höfe zu bringen, HOF gesang ist nicht laut, dafür eindringlich, unverstärkter Acapellagesang löst das Hofgefühl aus. Die Vielfalt der Sparten und Stile, die Verschiedenheit der Räume, die natürlichen und die künstlichen Geräusche, Wind und Wetter, prägen den Gesamtklang und machen jeden HOF gesang einmalig berührend und lassen rein künstlerische Kriterien in den Hintergrund treten.

HOF gesang ist nachhal(l)tig und ein bescheiden auftretender Grossanlass, der keine Alkoholleichen und keine Abfallberge hinterlässt, nichts als beglückte Menschen und erweckte Höfe. Vergangene Hofgesänge hallen nach – Roma-Lieder, pure Energie aus Liebe, Schmerz und Sehnsucht ergreifen das Publikum, auch zarte freundeidgenössische Banden werden geknüpft: Ein Basler und ein Zürcher Chor singen gemeinsam Liebeslieder! Kann man mehr wollen? Und es wird anhaltend und quartierübergreifend gejodelt. Und es wird viel gereist: quer durch die Stadt und musikalisch durch das "alte" und das "neue" Europa, mit Abstechern in fast alle Kontinente. Man wird auf Zeitreisen mitgenommen: bis in die Renaissance und zurück in die Gegenwart, mit Halt an allen Stationen. Gerade als eine Kantorei ein weltliches Liebeslied anstimmt verdunkelt sich der Himmel - zum Wolkenbruch kommt es dann erst beim Gang ins Wirtshaus. Ein Kinderchor weiht die Zuhörer/-innen mit dem inbrünstig vorgetragenen helvetischen Alpengospel «Oh, wänn de Sänn, go mälche gaht» 8-strophig in die Geheimnisse der Milchverarbeitung ein. Die "Sechs Lieder im Freien zu singen" von Felix Mendelssohn erklingen – nach dramatischer Flucht vor einem Gewitterregen - im Treppenhaus. Später wird in der Waschküche gegrillt und kräftig gefeiert. Und und ... 

Der HOF gesang wird weit herum gehört. Die Menschen aller Städte haben ein vitales Bedürfnis nach Höfen zum Entdecken, Lauschen, sich berauschen, Lachen, Streiten und Ruhen, zum Leben eben. In Zürich, Bern, Schaffhausen und dem Niederbayrischen Landshut ist HOF gesang erklungen. Erstmals engagiert sich das lokale und regionale Chorschaffen in seiner ganzen Breite und Vielfalt für ein gemeinsames gesellschaftspolitisches Anliegen.
Die vergangenen Hofgesänge haben die Marktgesetze nicht aus den Angeln gehoben, Parkplätze bleiben rentabler als Spielplätze – und doch: manches ungeahnte Idyll und manch trostlosen Fleck haben viele erst als Kulisse des Hofgesangs kennen gelernt. Die dabei waren, können mittlerweile über 500 kleine und feine Geschichten aus klingenden Höfen erzählen und von dem Räume und Menschen verbindenden Hofgefühl berichten, es vielleicht weiter tragen, oder gar zum Anlass nehmen, sich persönlich des eigenen Hofs anzunehmen.
Die öffentliche Hand ist aufgefordert, den in den Achtzigerjahren gerissenen Faden wieder aufzunehmen, nicht als Verschönerungsaktion, sondern als Wurzelbehandlung: Rückerstattung des entzogenen Bodens an die Anwohner/innen. Der Hofgesangsverein lädt alle Akteure zum Dialog ein: Mieter und Vermieter, Verwaltungen und Verbände werden ermuntert, gemeinsam Wege zu suchen, wie diese bedeutenden Räume vermehrt als Orte der Begegnung gestaltet und genutzt werden können. Die Stadtbehörden müssen ihre Vorbildfunktion wahrnehmen, die Hofverbesserung aktiv unterstützen und gemeinsam mit allen Akteuren ein paar Schritte vom Parkplatz in Richtung Lebensraum gehen. In vielen Fällen wäre mit verhältnismässigem Aufwand bereits viel zu erreichen.


Die Hofsänger/innen haben bekanntlich einen langen Atem, sie singen unbeirrt und herzhaft weiter für eine artgerechte Haltung der Stadtmenschen. Und jene Frau, die zwar ihren Vermieter nicht überzeugen konnte, den Hof für Mensch und Natur freizugeben, und trotzdem etwas für eine freundlichere Atmosphäre hinter dem Haus tun wollte, hat ein schönes Denk–mal installiert, indem sie einen Parkplatz mietet und darauf Topfpflanzen blühen lässt. 

HOF gesang
Z-Haus am Stauffacher
Badenerstrasse 18
CH-8004 Zürich
+41 43 317 1968
www.hofgesang.ch
14. April 2014
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