Aus dem Netz ins volle Leben

Kann man eine Revolution online planen? Nein! Dazu wollen Menschen sich sehen, hören, miteinander streiten und kämpfen. Und wenn sie diesen Schritt wagen …

Im Sommer 2005 hatte ich die Nase voll. George W. Bush war erneut zum US-Präsidenten gewählt worden, die «Koalition der Willigen» wütete im Irak, in Afghanistan wurden weder Brunnen noch Schulen gebaut, sondern es wurde gebombt.
Auf kritischen US-amerikanischen Websites fand ich weitere brisante Informationen: Es drohe ein globaler Finanz- und Wirtschaftskollaps. Meine Wut hatte die kritische Masse erreicht. Was tun?

Facebook & Co. waren noch nicht am Start. Debatten fanden in Foren statt. Dort wollte ich mich nun auch zu Wort melden und meine Sicht der Dinge kundtun.
Zuerst musste ein passender Nickname her. Der sollte etwas aussagen, ein bisschen Mut repräsentieren und verraten, dass ich weiblich bin. Aber nicht zu hochgegriffen, keine Kämpferin der mujeres libres, der Anarchistinnen im Spanischen Bürgerkrieg. Ich entschied mich für eine bescheidene Variante, eine Lieblingsfigur aus den Kinderromanen Erich Kästners: Pony Hütchen – passt, eine Berlinerin wie ich!
Kaum zwei Monate lang geisterte «Pony Hütchen» durchs Netz, als mich eine Mail erreichte. Ich könne doch, statt allseits meine Kommentare zu verbreiten, direkt in einem politischen Blog schreiben. Keine schlechte Idee. Anfangs noch zögerlich, doch schon bald mit einer Mischung aus Furor und spitzer Feder kommentierte «Pony Hütchen» fast täglich den einen oder anderen Aspekt zur politischen Weltlage.
So gingen zwei Jahre ins Land. Mittlerweile war die – nicht nur von mir prophezeite – Blase geplatzt, Banken und Versicherungen standen vor dem Ruin und Politiker taten, als hätten sie von alledem nichts gewusst. Eine Milliarden schwere Rettungsaktion wurde gerade als «Problemlösung» aus dem Hut gezaubert, als ein Leser des Blogs den zündenden Einfall hatte: Warum reden wir nur anonym im Internet miteinander? Wir müssen uns organisieren, uns treffen, im richtigen Leben zusammenkommen. Wir wollen was ändern, anders leben! Deutschland ist gross, wir sollten uns aber nachbarschaftlich in kleinen Gruppen treffen, miteinander diskutieren, Aktionen vor Ort planen. Am besten geht das nach Postleitzahlen.

Das war’s. Eine der besten Ideen, die das Internet je hervorgebracht hat. Wir nannten sie die «Aktion Postleitzahl» und starteten mit Bravour. Wie ein Lauffeuer ging der Plan durch die Foren, Leute konnten sich in Listen nach ihrer Postleitzahl eintragen und gemeinsam Termine für Treffen vereinbaren, wir schufen nur die Plattform.
Doch wie sollte das Ganze wieder zusammengetragen, wie die Erfahrungen ausgetauscht oder auch bundesweit parallele Aktionen geplant werden? Via Teamspeak! Am ersten gemeinsamen Plenum beteiligten sich auf Anhieb weit über hundert Leute. Wir waren zwar wieder «im virtuellen Raum», aber doch ganz nah beieinander, konnten uns hören, miteinander lachen und streiten. Und alles bestens organisieren. Es wurden Rechercheteams zu bestimmten Themen initiiert, die sich regelmässig bei Teamspeak «zum Arbeiten» trafen. Sie erstellten papers für umfangreiche Artikel oder bereiteten fact sheets für Interviews vor. Mit dieser Unterstützung konnten wir endlich eine wöchentliche «Hörfunksendung» im Blog produzieren.

Alles lief wunderbar, die Zugriffe auf die Website stiegen, während unsere Leser zu Aktivisten vor Ort wurden. Und spätestens da erregten wir auch «an anderer Stelle» Aufmerksamkeit. Als erstes kam das Anwaltsschreiben eines in Deutschland bekannten Rechtspopulisten – aus nichtigem Anlass, aber nach dem bewährten Muster, mit dem man unliebsame Leute zum Schweigen bringt: die Androhung einer teuren Unterlassungsklage. Als nächstes wurde das Blog mit rechtsradikalen Kommentaren überschwemmt. Angebliche «User», die seltsamerweise 24 Stunden am Stück ihren Senf zum Besten gaben, mussten wir sperren. Teilweise posteten diese Leute strafrechtlich Relevantes, für uns als Blogbetreiber hätte das nicht nur das Aus, sondern auch einen Strafprozess bedeutet.
Wir standen mit dem Rücken zur Wand. Ein offenes Blog mit Kommentaren und Leserbeteiligung konnten wir nicht länger anbieten, das war zu riskant. Wir liessen die Seite im Ausland hosten, hatten kein Impressum mehr. Versteckten uns doppelt – nicht mehr nur hinter unserem Nickname, wir wurden ganz unsichtbar. Das war der Todesstoss. Das Blog wurde 2008 geschlossen. Die Revolution, im virtuellen Raum geboren, hatte keine Chance Realität zu werden
18. Mai 2017
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