Begegnung zwischen einem Palästinenser und einem israelischen Soldaten

Seit Samstag ist der Dauerkonflikt zwischen Israel und Palästina eskaliert. In diesem Beitrag geht es um die niemals endende Möglichkeit der Versöhnung - auch wenn es angesichts der derzeitigen Gewaltexplosion naiv erscheint.

Konfliktreiche Situation während einer Pilgerschaft durch Israel-Palästina
Konfliktreiche Situation während einer Pilgerschaft durch Israel-Palästina. Foto: Archiv

Eine Gruppe von etwa 80 Friedenspilgern ging zu Fuß durch Israel und die Westbank. Sie wurde Zeuge von Schmerz, Konfrontation, Gewalt - und auch Bereitschaft, Neues zu wagen. Wir bringen ein Kapitel aus dem Buch "Grace" von Sabine Lichtenfels, um die Möglichkeit des Friedens nicht aus dem Auge zu verlieren.


Wir sind unterwegs durch einen Olivenhain. Die Sonne lässt die Welt in einem farblosen Licht erscheinen, das gibt allen Dingen einen Glanz, als wären sie eingetaucht in die Welt der Ewigkeit. Wir sind noch nicht lange unterwegs, da kommt uns ein Jeep mit drei Soldaten entgegen. 

Das folgende Erlebnis hat sich mir besonders prägnant ins Gedächtnis eingeschrieben. Es sitzt tief in meiner Seele und wird dort immer wieder auftauchen und mich erinnern an eine elementare Erfahrung. Ich wurde Zeugin davon, dass Menschen alte Verhaltensmuster instantan ablegen können und sich öffnen für Neues. Dadurch leuchtet eine neue Vision und mögliche Realität in unser Leben hinein.

Die Soldaten wollen uns kontrollieren. Mit kühlen Dienstgesichtern fragen sie uns, warum wir hier entlang laufen, es sei verboten, die Sicherheitszone zu betreten.
Als wir erzählen, was wir machen, bekommen ihre formalen Dienstgesichter Risse. Etwas ungläubig schauen sie uns an. Sie sind gewohnt, dass immer mal wieder internationale, politisch engagierte Gruppen in der Westbank auftauchen, aber dass wir ernsthaft, im Namen von GRACE, zu Fuß unterwegs sind durch das ganze Land, so etwas ist ihnen noch nie begegnet.
Sie werden immer neugieriger, und das Gespräch nimmt fast menschliche Züge an. Schließlich lassen sie uns weiterlaufen.

Nach einer Weile kommen wir an einen Brunnen. Glücklich zeigt uns Feyez, wie die Bauern in diesen Oasen das Wasser schöpfen. Wir machen Pause im Schatten eines Olivenbaumes. Er ist das Wahrzeichen des Friedens für die palästinensische Welt. 

Es ist mir danach, eine Gesprächsrunde einzuleiten, die sich im Angesicht der silbergrauen farblosen Lichtspiele der Olivenbäume und der gesamten sakralen Frequenz dieses Ortes als würdig erweist und eine lebendige Schau auf ein menschenwürdiges Morgen in allen Beteiligten zu wecken vermag.

Schon lange ist es mir ein Anliegen, eine Runde für die Aussprache einzuleiten, wo die Teilnehmer die Möglichkeit haben, darüber zu sprechen, was sie bewegt. Es gab ja bis jetzt immer noch keine wirkliche Gelegenheit dafür, sich auszusprechen. Was bewegt die jungen Menschen? Was geht in den deutschen Mitpilgernden vor, die ja wissen, wie sehr das Schicksal dieses Landes mit den Nachwehen des Holocaust verbunden ist? Wann werden die Israelis erzählen, wie ihnen zumute ist?

Joel reicht mir einen Granatapfel. Er soll von Hand zu Hand gehen und das Wahrzeichen dafür sein, dass wir uns gegenseitig achten und respektieren und dass wir bereit sind, demjenigen zuzuhören, der den Granatapfel in der Hand hält.

Die Sprechstabrunde oder das sogenannte "Deep Listening" ist eine der einfachsten Methoden, die ich kenne, aus dem Pingpong der Diskussion auszutreten und sich gegenseitig den Respekt und die Achtsamkeit zu schenken, die es braucht, um sich wirklich zuzuhören in einer Runde von Personen, die sich noch relativ fremd sind.

Ich spreche ein einführendes Gebet und fühle mich an die Göttin mit dem Granatapfel erinnert, was der gesamten Situation ein feierliches Strahlen schenkt. Wie sehr verlangt die Seele nach diesen Momenten, wo sie sich erheben kann über Leid und Schmerz und Ausweglosigkeit, um neue Kraft zu tanken für die Kräfte der Selbstheilung. Einfache schlichte Rituale, die von keiner bestimmten Religion oder Ideologie durchtränkt sind, können einer Gruppe immer helfen, sich zu finden und eine gemeinsame Schwingung aufzubauen. Solch tiefes Zuhören kann Wunder bewirken.

Ich weiß, dass die Herzen aller Beteiligten übervoll sind und dass es höchste Zeit wird, dass sie sprechen können, damit es nicht zu unnötigen Gefühlsausbrüchen kommt.

Das Leben spielt allerdings meistens etwas anders als erwartet.
Wir sind gerade eingestiegen, höchste Spannung, Neugierde und Interesse aneinander spiegeln sich in den Gesichtern aller Beteiligten, da kommt der Jeep mit den gleichen Soldaten vorgefahren, die uns schon vor einer Weile gestoppt hatten. Ich bin sehr entschieden, diesen Gesprächskreis zu schützen, und gehe entschlossen zum Fenster des Fahrers. Ich erkläre ihnen unsere Situation und dass es sehr wichtig sei, dass wir jetzt nicht gestört werden. Sie fragen, ob sie zuschauen dürfen. „Zuschauen ist schwierig, ihr könnt aber die Gruppe fragen, ob ihr mitmachen dürft, “ antworte ich überrascht. Bereitwillig steigen sie aus dem Wagen und bitten um Teilnahme an unserem Kreis.

Einer der Teilnehmenden gibt zu bedenken: „Wie soll man die Wahrheit sagen, wenn Menschen mit Uniform dabei sitzen. Sie vertreten ja genau das, was wir überwinden wollen.“

„Lasst uns beschließen, hinter der Uniform den Menschen zu sehen," schlage ich vor. Jemand stellt die Bedingung, dass die Soldaten ihre Gewehre auf den Boden legen. Und tatsächlich tun sie das. Wir halten dem Atem an - wir alle wissen, was sie damit riskieren. Das ist in der Armee streng verboten. Die Soldaten lassen sich nieder.

Jetzt wandert der Granatapfel von Hand zu Hand, und die Einzelnen beginnen, bewegt zu erzählen, was sich in ihren Herzen regt, seit sie die Westbank betreten haben. Israelis drücken ihre Ängste aus, die sie durchgemacht haben, seit sie auf dieser Seite der Mauer sind, aber auch ihre tiefe Berührtheit von der palästinensischen Gastfreundschaft, die sie erfahren haben. Einige haben schon so viel gesehen und erlebt, dass sie sich einen Tag Pause wünschen. 

Viele geben in die Runde, dass sie sich noch nie vom Elend dieser Welt so haben berühren lassen. Neben dem Schmerz fühlen sie einen Kraftzuwachs und eine neue Verantwortung. Manche reichen den Apfel einfach weiter, ohne zu sprechen.

Nach einer Weile des Schweigens durchbricht einer der Soldaten seine innere Grenze, mit der er offensichtlich für einige Zeit gerungen hatte. Er wusste nicht, was er von uns halten sollte. „Soll ich hier wirklich einsteigen? Was denken die von mir? Sie werden mich verschmähen, weil ich Soldat bin. Sie machen mit den Palästinensern gemeinsame Sache, damit die antijüdische Front Verstärkung bekommt."

Solche oder ähnliche Gedanken sind auf seinem Gesicht zu lesen. Aber jetzt ist der Augenblick gekommen, er durchbricht das innere Tabu, nimmt den Apfel und beginnt von seiner Situation zu erzählen. „Ich tue meinen Dienst nicht gern. Ich denke auch nicht, dass die Palästinenser unsere Feinde sind. Aber solange die Terrorakte geschehen, müssen wir unser Volk schützen. Ich versuche, mich hier freundlich zu verhalten. Manchmal gebe ich sogar den Kindern etwas zu essen. Aber ich habe es erlebt, dass sie kurz danach Steine nach mir geworfen haben. Warum werfen die Kinder Steine nach mir, nachdem ich ihnen zu essen gegeben habe? " beendet er seine etwas unsicher suchenden Worte.

Anschließend wandert der Apfel wieder durch den Kreis, niemand spricht für eine ganze Weile.

Jetzt nimmt Feyez den Apfel. Er rollt ihn in seinen Händen hin und her, sichtlich nach Worten ringend. Seine Augen leuchten so mächtig, als könne man die ganze Geschichte dieses Landes darin lesen. Feyez, ein palästinensischer Mann, mit einer eigenen Geschichte, dazu angehalten, keine Gefühlsregungen zu zeigen, Marxist, Widerstandkämpfer der palästinensischen Bewegung „Stop the occupation,“ ist offensichtlich sehr berührt. Seine Gesichtsmuskeln beben.

Vermutlich ist es für ihn das erste Mal in seiner Lebensgeschichte, dass er in einem solch spirituell anmutendem Kreis sitzt und sich in aller Ruhe, ohne Unterbrechung die Sichtweise anderer anhört, dazu noch in Gegenwart israelischer Soldaten in Uniform. Einige seiner Genossen würden ihn vielleicht als Kollaborateur verurteilen und verschmähen, wenn sie ihn in diesem Kreis sehen würden. Aber Feyez ist zu sehr ein Wahrheitssucher, als dass er sich durch solche Gedanken von seiner unbeirrbaren Suche nach einer Lösung abhalten lassen würde. Er schaut unverwandt zu den jungen Soldaten. Die Runde ist absolut still, jeder hängt erwartungsvoll an seinen Lippen. Langsam und eindringlich beginnt er, zu den Soldaten zu sprechen. 

Sehr gründlich erklärt er, warum die Kinder Steine werfen. Er bemüht sich, beherrscht zu sprechen, aber dann sieht man, wie eine Gefühlswelle ihn einholt. Er bricht in Tränen aus und ringt um jedes Wort.

„Hört zu, ihr seid jung, ihr habt noch keine Frau und keine Kinder. Aber ich bin sicher, dass eure Mütter und Väter das Gleiche fühlen , wie ich es fühle, wenn meine Söhne oder meine Tochter das Haus verlassen. Sie beginnen, mit der Hamas zu sympathisieren, weil sie etwas tun wollen für ihr Land. Könnt ihr euch vorstellen, wie mir zumute ist, wenn ich das mitansehen muss? Könnt ihr euch vorstellen, wie wir fühlen? Vor Generationen lebten wir hier friedlich nebeneinander. Warum das alles? Und schon so lang? Wir könnten doch langsam begreifen, dass es so nicht weiter geht, dass dieses ewige Morden auf diese Weise kein Ende hat. Warum machen wir nicht endlich Schluss? Wir könnten es einfach beenden, just now."

Seine Worte wirken stark und eindringlich. Fast die ganze Gruppe lässt jetzt den Tränen einfach ihren Lauf.

Man ist still geworden. Es könnte so einfach sein. Und doch scheint der Ausweg so unerreichbar. Dazwischen steht die Mauer, eine Mauer von Urteilen und Vorurteilen, eine Mauer, die gebaut wurde aus unzähligen Verletztheiten, eine Mauer aus Weltanschauung, Religion und Ideologie, 
eine Mauer von politischen Parolen und Reglementierungen.

Eine Mauer, durch die alles Menschliche, Schöne und Wahre in die privaten Nischen verdrängt wurde. Nur manchmal verschafft ein Riss eine kleine Öffnung, wirft Licht auf alle, die in seiner Nähe verweilen und lässt das große Leuchten hervortreten. Es ist ein Riss, der die Bereitschaft zur Versöhnung mit sich bringt, die Bereitschaft zu einem absoluten Neuanfang.


Cover GraceAus dem Buch Grace - Pilgerschaft für eine Zukunft ohne Krieg
 

Über

Sabine Lichtenfels

Submitted by cld on Sa, 06/03/2023 - 18:56

Theologin, Friedensbotschafterin, Autorin und Mitbegründerin der Friedensforschungsgemeinschaft Tamera in Portugal, Leiterin der dortigen «Globalen Liebesschule» und der Abteilung für spirituelle Ökologie - «Terra Deva». Leitete mehrere Friedenspilgerschaften durch Krisen- und Kriegsgebiete und war als eine der «1000 Frauen für den Frieden» nominiert für den Friedensnobelpreis. 

Kommentare

Krieg und Frieden

von Paoloblueverde
FRIEDE Liebe Sabine soeben habe ich den neuen Podcast gehört. Wenn es erlaubt ist, sende ich dir einige meiner Gedanken dazu? Friede und Krieg sind Polaritäten in einer 4-Dimensionalen Welt. Radikal betrachtet fängt der Krieg ja da an wo ich etwas besitzen will. Wenn ich etwas besitze und ich es nicht verlieren will, muss ich es früher oder später verteidigen. Etwas verteidigen gegen Uneinsichtige geht mit Gewalt einher und führt doch zu Krieg. Wenn wir Friede haben wollen müssen wir uns zwingend mit der Kapital-Religion beschäftigen. Folglich auch mit der Juden-Frage die es zu lösen gilt. Ich denke nicht dass ich mich gegen etwas stellen soll, sondern ich mache nicht mit und gebe keine Kraft in etwas was mir nicht gefällt! Fremd kann mir niemand sein, denn wir Menschen kommen alle vom gleichen Stamm. Hier ist der Kreis fast wieder geschlossen, da ich auf den Menschen-Besitz komme. Ja, Steine können mir ein steinaltes Wissen übermitteln, ich lebe mit ihnen. Sowie auch mit den Pflanzen die mir neue brauchbare Wege aufzeigen zur Heilung der Erde. Die Erde ist krank. Krankheit ist, meiner Meinung nach der Anfang der Heilung, also lasse ich es geschehen. Herzlichen Dank und ebensolche Grüsse! Paolo di Modolo Paul Hertig <[email protected]>