Bilanz von 30 Jahren Neoliberalismus: «ausgesprochen jämmerlich»
Die neoliberale Wende, schreibt der kanadische Professor David Harvey in seinem Buch «Kleine Geschichte des Neoliberalismus», sei in den 1970er-Jahren zu dem alleinigen Zweck eingeleitet worden, die Klassenmacht einer gesellschaftlichen Elite wiederherzustellen, die befürchtete, dass ihre Privilegien nachhaltig beschnitten werden könnten. Wenn bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die «Auswüchse» des Neoliberalismus kritisieren und die wachsende soziale Ungleichheit als dessen unerwünschtes Nebenprodukt beklagen, hält Harvey entgegen: Weshalb kommt diesen Leuten denn «nie der Gedanke, dass die soziale Ungleichheit womöglich von Anfang an der Zweck der ganzen Übung war»?
Harvey rekapituliert die Geschichte des Neoliberalismus, seiner Theorie und seiner Praxis, wobei nicht nur die allgemein bekannten «Pioniere» Thatcher und Reagan zu Ehren kommen, sondern auch das neoliberale Modellland Chile (unter Diktator Pinochet) oder das China von Deng Xiao-ping und seinen Nachfolgern. Schliesslich zeigt Harvey anhand zahlreicher Beispiele, wie mit Zahlenmaterial jongliert wird, um angeblich zu beweisen, dass der Neoliberalismus allen Menschen Vorteile bringe. Eine äusserst scharfsichtige Analyse.
David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Rotpunkt Verlag, 2007. 280 S. Fr. 38.-/Euro 24.-.
Leseprobe:
Und die Bilanz des Neoliberalismus? für David Harvey sieht sie ausgesprochen jämmerlich aus:
«In den 1960er-Jahren lagen die jährlichen Wachstumsraten der gesamten Weltwirtschaft bei etwa 3,5 Prozent, und selbst in den krisenhaften 1970er-Jahren gingen sie auf lediglich 2,4 Prozent zurück. Dann aber fielen sie in den 1980er- und 1990er-Jahren auf 1,4 bzw. 1,1 Prozent (bis 2004 kamen sie kaum über die Ein-Prozent-Grenze hinaus). Wie wir sehen, konnte die Neoliberalisierung die Weltwirtschaft insgesamt nicht stimulieren.
In einigen Ländern (etwa auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa), denen man die neoliberale «Schocktherapie» verordnet hatte, kam es zu katastrophalen Einbrüchen. In Russland schrumpfte das Pro-Kopf-Einkommen in den 1990er-Jahren um jährlich 3,5 Prozent. Weite Teile der Bevölkerung stürzten in die Armut ab, wodurch sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei den Männern um fünf Jahre verkürzte. ähnlich verlief die Entwicklung in der Ukraine. Nur Polen, das die Ratschläge des IWF nicht befolgte, erlebte eine gewisse Besserung.
In weiten Teilen Lateinamerikas führte die neoliberale Strategie entweder zur Stagnation – die 1980er-Jahre gelten hier als ‹verlorenes Jahrzehnt› – oder zu einem Wachstumsschub, dem ein ökonomischer Zusammenbruch folgte, so etwa in Argentinien. Auch in Afrika bewirkte die Neoliberalisierung keinerlei Wandel zum Guten. Nur in Ost- und Südostasien, und neuerdings auch in Indien, lässt sich die Neoliberalisierung mit einer positiven Wachstumsbilanz assoziieren. Doch gerade in diesen Entwicklungsstaaten spielte die nicht besonders neoliberale Regierungspolitik eine sehr bedeutsame Rolle. Man beachte etwa den deutlichen Kontrast zwischen dem Wirtschaftswachstum in China, das bei fast 10 Prozent jährlich liegt, und dem Rückgang in Russland um 3,5 Prozent.
Würden mehr Menschen solche Fakten kennen, fiele das Lob für die neoliberale Strategie und ihre besondere Form der Globalisierung sicherlich viel gedämpfter aus. Warum also ist die Überzeugung so weitverbreitet, dass Neoliberalisierung mittels Globalisierung erstens die «einzige Alternative» und zweitens so überaus erfolgreich sei? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe:
Erstens bringt es die zunehmende Volatilität der geografisch ungleichmässigen Entwicklung mit sich, dass bestimmte Gebiete zumindest vorübergehend spektakuläre Fortschritte gemacht haben, wenn auch auf Kosten von anderen. Die 1980er-Jahre waren zum Beispiel weitgehend das Jahrzehnt Japans, der asiatischen Tigerstaaten und Westdeutschlands, so wie die 1990er-Jahre den USA und Grossbritannien gehörten. Diese Erfolgsgeschichten überdeckten in gewisser Weise die Tatsache, dass die Neoliberalisierung keineswegs generell das Wachstum stimuliert oder den Wohlstand erhöht hat.
Zweitens war die Neoliberalisierung in der Praxis ein gigantischer Erfolg für die Oberschichten. Sie stellte entweder die Klassenmacht der herrschenden Eliten wieder her – wie in den USA und in gewissem Masse in Grossbritannien –, oder sie schuf die Bedingungen für die Entstehung einer solchen Klasse – so in China, Indien, Russland und anderen Ländern. Da in den Medien die Interessen der Oberschichten dominieren, konnte sich der Mythos verbreiten, dass Staaten ökonomisch scheiterten, weil sie nicht konkurrenzfähig seien was dann Forderungen nach noch konsequenteren neoliberalen Reformen zur Folge hatte.»
Harvey rekapituliert die Geschichte des Neoliberalismus, seiner Theorie und seiner Praxis, wobei nicht nur die allgemein bekannten «Pioniere» Thatcher und Reagan zu Ehren kommen, sondern auch das neoliberale Modellland Chile (unter Diktator Pinochet) oder das China von Deng Xiao-ping und seinen Nachfolgern. Schliesslich zeigt Harvey anhand zahlreicher Beispiele, wie mit Zahlenmaterial jongliert wird, um angeblich zu beweisen, dass der Neoliberalismus allen Menschen Vorteile bringe. Eine äusserst scharfsichtige Analyse.
David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Rotpunkt Verlag, 2007. 280 S. Fr. 38.-/Euro 24.-.
Leseprobe:
Und die Bilanz des Neoliberalismus? für David Harvey sieht sie ausgesprochen jämmerlich aus:
«In den 1960er-Jahren lagen die jährlichen Wachstumsraten der gesamten Weltwirtschaft bei etwa 3,5 Prozent, und selbst in den krisenhaften 1970er-Jahren gingen sie auf lediglich 2,4 Prozent zurück. Dann aber fielen sie in den 1980er- und 1990er-Jahren auf 1,4 bzw. 1,1 Prozent (bis 2004 kamen sie kaum über die Ein-Prozent-Grenze hinaus). Wie wir sehen, konnte die Neoliberalisierung die Weltwirtschaft insgesamt nicht stimulieren.
In einigen Ländern (etwa auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa), denen man die neoliberale «Schocktherapie» verordnet hatte, kam es zu katastrophalen Einbrüchen. In Russland schrumpfte das Pro-Kopf-Einkommen in den 1990er-Jahren um jährlich 3,5 Prozent. Weite Teile der Bevölkerung stürzten in die Armut ab, wodurch sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei den Männern um fünf Jahre verkürzte. ähnlich verlief die Entwicklung in der Ukraine. Nur Polen, das die Ratschläge des IWF nicht befolgte, erlebte eine gewisse Besserung.
In weiten Teilen Lateinamerikas führte die neoliberale Strategie entweder zur Stagnation – die 1980er-Jahre gelten hier als ‹verlorenes Jahrzehnt› – oder zu einem Wachstumsschub, dem ein ökonomischer Zusammenbruch folgte, so etwa in Argentinien. Auch in Afrika bewirkte die Neoliberalisierung keinerlei Wandel zum Guten. Nur in Ost- und Südostasien, und neuerdings auch in Indien, lässt sich die Neoliberalisierung mit einer positiven Wachstumsbilanz assoziieren. Doch gerade in diesen Entwicklungsstaaten spielte die nicht besonders neoliberale Regierungspolitik eine sehr bedeutsame Rolle. Man beachte etwa den deutlichen Kontrast zwischen dem Wirtschaftswachstum in China, das bei fast 10 Prozent jährlich liegt, und dem Rückgang in Russland um 3,5 Prozent.
Würden mehr Menschen solche Fakten kennen, fiele das Lob für die neoliberale Strategie und ihre besondere Form der Globalisierung sicherlich viel gedämpfter aus. Warum also ist die Überzeugung so weitverbreitet, dass Neoliberalisierung mittels Globalisierung erstens die «einzige Alternative» und zweitens so überaus erfolgreich sei? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe:
Erstens bringt es die zunehmende Volatilität der geografisch ungleichmässigen Entwicklung mit sich, dass bestimmte Gebiete zumindest vorübergehend spektakuläre Fortschritte gemacht haben, wenn auch auf Kosten von anderen. Die 1980er-Jahre waren zum Beispiel weitgehend das Jahrzehnt Japans, der asiatischen Tigerstaaten und Westdeutschlands, so wie die 1990er-Jahre den USA und Grossbritannien gehörten. Diese Erfolgsgeschichten überdeckten in gewisser Weise die Tatsache, dass die Neoliberalisierung keineswegs generell das Wachstum stimuliert oder den Wohlstand erhöht hat.
Zweitens war die Neoliberalisierung in der Praxis ein gigantischer Erfolg für die Oberschichten. Sie stellte entweder die Klassenmacht der herrschenden Eliten wieder her – wie in den USA und in gewissem Masse in Grossbritannien –, oder sie schuf die Bedingungen für die Entstehung einer solchen Klasse – so in China, Indien, Russland und anderen Ländern. Da in den Medien die Interessen der Oberschichten dominieren, konnte sich der Mythos verbreiten, dass Staaten ökonomisch scheiterten, weil sie nicht konkurrenzfähig seien was dann Forderungen nach noch konsequenteren neoliberalen Reformen zur Folge hatte.»
27. August 2007
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