Das IKRK unter Beschuss
Das IKRK leistet zwar humanitäre Hilfe in der Ukraine, tut aber fast nichts für die Kriegsgefangenen – seinen eigentlichen Zweck. Der IKRK-Präsident Peter Maurer trägt eine russische Auszeichnung, sitzt im Führungsgremium des WEFund lässt Projekte von «Philantropen» gegen Zins finanzieren.
Die grosse humanitäre Maschine mit Sitz in Genf leistet viel für die vom Krieg betroffene ukrainische Bevölkerung. Medikamente, Lebensmittel und Sanitätsmaterial werden zu Hunderten von Tonnen geliefert. Mit zahlreichen Delegierten verschiedener Nationalitäten (über 600) und mit der Hilfe verschiedener nationaler Rotkreuz-Gesellschaften, allen voran der ukrainischen.
Sie tat, was sie konnte, um die eingeschlossenen Zivilisten aus Mariupol zu evakuieren, und erst kürzlich, zusammen mit den Vereinten Nationen, die Soldaten aus Azovstal, die ihre Waffen abgaben und ordnungsgemäss registriert wurden. Dies kann man nur begrüssen.
Aber im Kapitel über den Schutz der Gefangenen beider Seiten und das Schicksal der in Massen Vertrieben kein einziges lautes Wort. Ein Zeichen von Hilflosigkeit? Oder eine Änderung der Prioritäten? Das ist beunruhigend. Auch aus anderen Gründen ist das Klima an der Spitze des IKRK belastet.
Internationale humanitäre Organisationen, die Not leidenden Menschen auf der ganzen Welt Hilfe leisten, gibt es viele. Aber nur eine hat das spezifische und historische Mandat, Kriegsgefangene und Gefangene, die aufgrund eines bewaffneten Konflikts inhaftiert sind, zu schützen, wie es in den Genfer Konventionen (1949) festgelegt ist, die von den meisten Staaten unterzeichnet wurden. Auch Russland und die Ukraine haben sie ratifiziert.
Diese Aufgabe – Besuche, Information und Unterstützung der Familien – erwies sich als sehr schwierig und war in den jüngsten Kriegen, in denen nicht Staaten, sondern bewaffnete Gruppen innerhalb der Staaten gegeneinander antraten, meist unmöglich.
Die Staaten akzeptierten oft die humanitäre Hilfe des IKRK, lehnten jedoch die Anwendung dieser zentralen Klausel der Genfer Konventionen ab. In vorliegenden Fall sind es zwei Staaten, die sich gegenseitig bekriegen. Die angesehene Institution hätte die Autorität und allen Grund, laut und deutlich die Aufklärung des Schicksals der Gefangenen zu fordern.
In ihrer offiziellen Mitteilung, die übrigens erstaunlich zurückhaltend ist, tut sie dies nicht. Auf Nachfrage lässt sie uns wissen, dass «das IKRK mit den Konfliktparteien in der Ukraine Gespräche über unseren Zugang zu Kriegsgefangenen führt. Dieser Prozess findet im Rahmen unseres vertraulichen Dialogs statt, und wir können derzeit keine weiteren aktuellen Informationen bekannt geben».
Nach einer Flut von Fragen veröffentlichte das IKRK schliesslich am 20. Mai, nach fast drei Monaten Krieg, eine Erklärung: Gefangene wurden auf beiden Seiten besucht, aber es wurde nicht gesagt, wie viele es waren, wie oft und wo sie festgehalten wurden.
Die Kriegsparteien nutzen und missbrauchen die Kommunikation, deren immense Bedeutung bekannt ist. Warum sollte das IKRK nicht auch verstärkt darauf zurückgreifen und seine Stimme in Ausgewogenheit und Fairness erheben, um die Weltöffentlichkeit an die wichtigsten Grundsätze in Kriegssituationen zu erinnern?
Es verfügt über einen mächtigen Apparat (50 Millionen stehen ihm zur Verfügung), um dies zu tun. Die Verbreitung von kurzen Tweets und Retweets reicht nicht aus. Diplomatisches Geflüster ist gut. Aber ein starkes öffentliches Wort, inhaltlich und formal, kann auch seine Wirkung haben. Vor allem, wenn sie von allen diplomatischen Schaltstellen, die der Institution zur Verfügung stehen, unterstützt wird. Sie würde einen spürbaren Druck auf die betreffenden Mächte ausüben. So wie es in den 70er und 90er Jahren mehrfach der Fall war, als es um Gefängnisbesuche ging.
Der derzeitige Präsident des IKRK scheint mehr um die humanitäre Hilfe im Allgemeinen sorgen, die weniger strittig ist. Sie verärgert niemanden. Während die Frage der Gefangenen die Staaten stark irritiert, deren Führer vielleicht weniger zu einem warmen, ordnungsgemäss fotografierten Händedruck mit dem Präsidenten neigen, der für die Anwendung der Genfer Konventionen zuständig ist, die für einige so peinlich sind.
Das Ausmass und der Schrecken des gegenwärtigen Krieges stellen das Spiel auf den Kopf. Die Situation in diesem vernachlässigten Bereich ist katastrophal. Im Internet verbreitete Videos, die von «Le Monde» authentifiziert wurden, zeigen zum Beispiel blutige, gefesselte russische Gefangene in den Händen ukrainischer Kämpfer, die ihnen sogar in die Beine schiessen.
In diesem Fall zeigt die genaue Prüfung des Dokuments die Verantwortung der Neonazi-Miliz Slobozhanshchyna, die 2014 gegründet, dann von der Regierung wegen Gräueltaten und Veruntreuung von Geldern aufgelöst, am 24. Februar 2022 wieder aufgetaucht und wieder in den Rahmen der Armee aufgenommen worden ist.
Wer erhebt seine Stimme am lautesten über die Verstösse gegen die Genfer Konventionen? Die Organisation Human Rights Watch, die sich häufig auf die Genfer Konventionen beruft. In diesem Fall berichtet sie detailliert und beweiskräftig über Fälle von Folter, Übergriffen, summarischen Hinrichtungen und Entführungen durch russische Truppen, insbesondere während sie sich in den Regionen Kiew und Tschernihiw befanden. Die NGO hält sich bedeckt, was die Entgleisungen auf ukrainischer Seite betrifft.
Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass wenig über das Schicksal der von den Russen gefangen genommenen Soldaten bekannt ist. Einige Verwundete wurden Berichten zufolge in Donezk ins Krankenhaus eingeliefert. In rachsüchtigen Tweets wird ihre Tötung gefordert. Die Sorge der Familien auf beiden Seiten ist gross.
Der einzige bekannte Fortschritt ist, dass das IKRK seit dem 17. Mai die Erlaubnis hat, die Angehörigen von Kämpfern aus dem Azovtal, die sich ergeben haben, zu registrieren und zu kontaktieren. Der Krieg dauert jedoch seit zweieinhalb Monaten an.
Tausende Gefangene auf beiden Seiten befinden sich weiterhin ausserhalb des humanitären Radars. Die Möglichkeit eines Gefangenenaustauschs wurde angesprochen. Einige haben bereits stattgefunden, die von den Russen und Ukrainern vereinbart wurden. Wird es dem IKRK gelingen, weitere zu erwirken und zu begleiten?
Hinzu kommt das Kopfzerbrechen über den Transfer von mehreren hunderttausend Zivilisten, die aus den Kampfgebieten geholt und nach Russland geleitet wurden. Haben sie sich alle freiwillig für dieses Ziel entschieden? Dies darf bezweifelt werden. Nach einer sorgfältigen Prüfung der lokalen Medien und von Luftaufnahmen soll es in dem riesigen Gebiet 66 Aufnahmezentren geben.
Laut Regierung könnten Menschen, die lieber in den Westen der Ukraine gehen möchten, dies mit Hilfe der Vereinten Nationen und des IKRK tun. Es gibt jedoch keine faktische Bestätigung für diesen guten Willen. In Kiew beschuldigten mehrere Politiker, darunter die Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments, das IKRK, diese Umsiedlungen in Absprache mit den Russen zu erleichtern. Dies wurde energisch dementiert.
Das politische Klima in der Ukraine rund um das IKRK ist alles andere als gut. Die Fotos von dem herzlichen Treffen zwischen seinem Präsidenten und dem russischen Aussenminister Lavrov haben die Ukrainer verkrampft. Einige kramten die Tweets hervor, in denen Peter Maurer seine herzlichen Beziehungen zu dem Minister erwähnte.
Russland ehrte den IKRK-Präsidenten übrigens letztes Jahr in seiner Genfer Mission mit der Martens-Medaille, der höchsten Auszeichnung des russischen Aussenministeriums, «für die Förderung der Werte des humanitären Völkerrechts». War es geschickt, dies anzunehmen?
Schweizer Diplomaten hingegen ist es verboten, sich mit solchen Auszeichnungen zu schmücken – nicht ohne Grund. Der Präsident des IKRK wird in Kiew wohl kaum eine solche Auszeichnung erhalten! Die Menschen dort haben ein ungutes Verhältnis zu ihm. Viele IKRK-Delegierte, die in der Ukraine vor Ort sind, vermeiden es, das IKRK-Zeichen auf ihren Armbinden und Fahrzeugen zu tragen.
Zwei weitere Themen machen das bevorstehende Ende der Amtszeit von Peter Maurer besonders heikel. Vor allem unter den älteren Mitarbeitern des Hauses werden Stimmen laut, die eine übermässige Annäherung an die Schweizer Regierung anprangern, während das IKRK laut seiner Satzung und seinem Mandat von allen Staaten unabhängig bleiben muss.
Das IKRK hat seine eigene Definition von Neutralität. Diese stimmt nicht mit derjenigen der Schweiz überein, deren Geometrie sehr variabel ist. Nun kommt es vor, dass sein Präsident, ein ehemaliger Staatssekretär, der mit dem EDA sehr vertraut ist, unseren Aussenminister auf einer internationalen Tournee begleitet, um für die humanitäre Schweiz und nebenbei für den Beitritt zum UNO-Sicherheitsrat zu werben. Instrumentalisierung?
Im Mai 2021 wurde sogar ein kurioses Tandem offiziell ins Leben gerufen. Das IKRK und das EDA kündigten, sehr diskret, eine «Globale Allianz für Vermisste» an. Ein edles Anliegen. Unzählige Menschen verschwinden in der Tat in so vielen Ländern. Wir leben in Zeiten von Kriegen, Unterdrückung und Migration. Ein erstes Treffen fand am 7. April 2022 in Bern statt.
Das Problem: Nur zehn Staaten sind beigetreten: Argentinien, Aserbaidschan, Estland, Kuwait, Mexiko, Nigeria, Norwegen, Peru, die Republik Korea und die Schweiz. Was man als ein Konstrukt mit unklaren Konturen bezeichnen muss – man weiss nichts über seine Funktionsweise und Finanzierung –, blieb völlig unbeachtet. Viele der Schweizer Diplomaten haben nicht einmal davon gehört! Es bleibt zu hoffen, dass sie dieses schöne Projekt der chinesischen Führung unter die Nase reiben, die im Bereich des politischen Verschwindens einiges zu bieten hat.
Schliesslich taucht eine Polemik auf: Ist es angemessen, dass der Präsident des IKRK im Führungsgremium des World Economic Forum sitzt? Diese Stiftung unter der Leitung ihres Gründers Klaus Schwab (84) und mit grossen Apparat in Genf, wird und von den mächtigsten Unternehmen der westlichen Welt unterstützt, mischt eine Vielzahl von Themen auf, von der «globalen Intelligenz» bis zur humanitären Hilfe, mit einer Fülle von wirtschaftlichen, philosophischen, gesellschaftlichen – und politischen Anliegen.
Es steht dem WEF frei, in den nächsten Tagen jegliche russische Präsenz in Davos zu verbieten und den Bürgermeister von Kiew, den hitzigen Vitaly Klitschko oder den unvermeidlichen Volodymir Zelensky mit allen Ehren einzuladen. Die Anwesenheit von Peter Maurer, dem Präsidenten des IKRK, auf höchster Ebene des WEF wirft jedoch ein echtes Problem hinsichtlich der Neutralität des IKRK auf, wie sie in kriegstraumatisierten Ländern mit blank liegenden Nerven wahrgenommen wird.
Diese Doppelrolle hat zu einem konkreten Gespann geführt. Im Jahr 2020 engagierte sich das Weltwirtschaftsforum offiziell beim IKRK, «um eine Plattform zu entwickeln, die Projektträger und Investoren im Bereich der humanitären Hilfe und der Entwicklung zusammenbringt». Mit welchen Ergebnissen? Das bleibt unklar.
Beide Organisationen, die 1863 von Henry Dunant gegründete und die 1971 von Klaus Schwab zu ganz anderen Zwecken ins Leben gerufene, haben in ihren aktuellen Reden eines gemeinsam: Sie fördern grosse Ideale – die naturgemäss nicht unbedingt konvergierend sind!
Sie sagen, dass sie sich für eine bessere Welt einsetzen, sie appellieren an die Grosszügigkeit der Spender, aber sie bleiben unklar, was die Informationen über ihre tatsächlichen Ergebnisse und ihre Verwaltung, insbesondere ihre internen Betriebskosten, angeht.
In dieser Verbindung findet sich jedoch die grosse Idee von Peter Maurer wieder: die Verbindung von Privatwirtschaft und humanitärer Hilfe. So wurde auch ein kurioses System von «humanitarian impact bonds» («Anleihen mit humanitärer Wirkung») geschaffen. Privatunternehmen werden aufgefordert, vom IKRK geleitete Projekte zu finanzieren, mit einer Prüfung ihrer Wirkung nach einer gewissen Zeit.
Im Erfolgsfall werden diese «Philanthropen» samt Zinszahlungen entschädigt. Bei Misserfolgen geht ein Teil des Einsatzes verloren. Das Ganze wird von wohlwollenden Staaten garantiert. Wie sieht die Bilanz aus? Mit den so beschafften Mitteln – 26 Millionen Franken – konnten drei Zentren für körperliche Rehabilitation in Afrika (in Nigeria, Mali und der Demokratischen Republik Kongo) errichtet und betrieben werden. Angesichts des Budgets des IKRK von 2,2 Milliarden Dollar ein sehr bescheidener Beitrag. Davon werden mehr als 80 Prozent von einigen Staaten und der Europäischen Union bereitgestellt.
Die Schweiz zahlt 156 Milliarden, wovon 80 Millionen für den Betrieb der Genfer Zentrale bestimmt sind. Die Öffentlichkeit hat also hier wie dort ein Recht auf klare und möglichst umfassende Informationen über die Arbeit des IKRK.
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Jacques Pilet (1943) ist der Doyen des Westschweizer Journalismus. Er leitete wichtige Sendungen des Westschweizer Fernsehens (table ouverte, temps présent), gründete das Nachrichtenmagazin «L’Hebdo» und zuletzt das online-Magazin «Bon pour la tête», wo der vorliegende Text am 20. Mai erstmals erschienen ist («Le CICR sous le feu des critiques»)
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