Das Joch des Mangels ablegen
Wer in Abhängigkeit von etwas lebt, was nicht da ist, trägt anstatt eines sprudelnden Füllhornes ein gähnendes Loch in sich. Das Gegengift heisst Dankbarkeit. Die Samstagskolumne.
Unsere Entwicklung, so wird sie gemeinhin dargestellt, findet auf einer aufsteigenden Gerade statt. Wir befinden uns an einem Punkt A und gelangen zu einem Punkt B. Bei A zu sein bedeutet, noch nicht bei B angekommen zu sein. Es ist noch nicht so weit. Etwas fehlt. Wenn ich einmal gross bin. Wenn erst Weihnachten ist. Wenn erst Ferien sind. Wenn ich Geld habe. Wenn erst der Traumpartner da ist. Wenn die Welt eine andere ist. Wenn erst dieses oder jenes geschieht, dann wird alles besser.
Doch das wird es meistens nicht. Wer in Abhängigkeit von etwas lebt, was nicht da ist, trägt anstatt eines sprudelnden Füllhornes ein gähnendes Loch in sich. Stets in Erwartung, dass sich draussen etwas verändert, kommt er nie wirklich ans Ziel. Nie wird er genug erreicht haben. Immer will er mehr. Um es zu bekommen, muss er etwas tun: im Schweisse seines Angesichts leben, sich gewaltig anstrengen, betrügen, lügen, erobern, notfalls töten.
Auf dieser Haltung basiert eine ganze Zivilisation. Seit wir aus der Fülle des ursprünglichen Paradieses ausgezogen sind, klebt an unseren Händen Blut. Es ist nicht genug für alle da. Nicht genug Nahrung, nicht genug Energie, nicht genug Platz auf dem Planeten. So ist ein Klima der Angst entstanden, in dem die meisten nur allzu schnell bereit sind, die Ellbogen auszufahren. Nicht mit Grosszügigkeit, Wohlwollen und Güte erhoffen wir uns weiterzukommen, sondern mit Konkurrenzdenken, Gier und Neid.
Unersättlich
Es ist weniger der Mangel selbst als die Angst vor Mangel, die in uns das Niedrigste hervorruft und uns bereit dazu macht, in jeden Krieg zu ziehen, wenn er uns nur ein Mehr verspricht. Mehr Wohlstand. Mehr Erfolg. Mehr Ansehen. Mehr Schönheit. Mehr Gesundheit. Mehr Sicherheit. Mehr Toleranz. Mehr Demokratie. Egal, was es ist: Wovon wir meinen, nicht genug zu haben, wollen wir vor allem eines: mehr.
Mit geballter Faust fordern wir mehr Lohn, mehr Rechte, mehr Freiheit. Jemand anderes soll uns geben, was wir wollen. Wir müssen nur laut genug rufen oder lange genug kämpfen, dann wird es uns gegeben. So beschäftigt kommen wir überhaupt nicht auf die Idee, dass es anders gehen könnte. Wir bitten, fordern, flehen, beten, drängen, skandieren – doch nichts wird uns gegeben, ausser vielleicht ein paar Almosen, die uns ruhig genug stellen, um nicht zur Gefahr zu werden für die, die uns im Mangeldenken gefangen halten.
Die Ohnmacht angesichts der Ereignisse, die viele von uns heute empfinden, ist das Resultat einer kindlichen Erwartungshaltung, die die Kleinen immer kleiner und die Grossen immer grösser gemacht hat. Papa macht das schon. Ob Gott oder Vater Staat – eine männliche Autorität soll uns geben, was wir ersehnen und erhoffen. Keine grosszügige Mutter gibt mehr allen ihren Kindern. Ein eifersüchtiger Vater belohnt die, die es sich verdient haben.
Zur Sache, Schätzchen
Das Patriarchat hat uns den Mangel gewissermassen ins Erbgut geschrieben. Tief ist er in uns eingeprägt. In diesen Tiefen geht es hinein, wenn wir uns aus der Angst vor dem Mangel lösen wollen und die erniedrigenden Glaubenssätze löschen, die uns in der Erwartungshaltung lähmen: Ich bin es nicht wert. Ich bin nicht gut genug. Das schaffe ich nie.
Ja, es gibt sogenannte Eliten, die über die ganze Welt herrschen wollen. Ja, ihre Methoden sind so weit vorgedrungen, dass es immer schwieriger wird, sich ihnen zu entziehen. Doch nein, nichts hindert uns daran, unsere Energie auf den einzigen Menschen auf der ganzen Welt zu richten, bei dem wir etwas bewirken können: uns selbst.
Da ist kein Politiker, der die Welt rettet, kein Übervater, der uns gibt, was wir uns von ihm erhoffen. Auch die Ausserirdischen werden es nicht richten. Die Fixierung auf das Aussen hält uns in der Rolle des Bittstellers gefangen und verhindert die Lösung. «Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe.» So formulierte es der Dominikanermönch Meister Eckhart im Spätmittelalter. Es gibt kein Aussen. Es gibt nur ein Innen.
Wie es euch gefällt
Die Vorstellung, dass da niemand ist, niemand, der das letzte Wort spricht, niemand, der für uns die Kartoffeln aus dem Feuer holt, niemand, der alles doch noch zum Guten wenden lässt, ist für viele unerträglich. Niemand, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Niemand, der uns sagt, wo es langgeht. Es ist, als segelte man mutterseelenallein und ohne Rückfahrschein durchs Weltall.
Doch nur im Innen ist zu finden, was wir im Aussen so verzweifelt umsonst suchen. Im Innen jedes Einzelnen gibt es die Quelle, die wir woanders vermuten. Hier ist sie versteckt. Nur der findet sie, der den Mut hat, sich auf eigenen Beinen auf den Weg zu machen. Nur er hat die Reife, sich nicht wie Goethes Zauberlehrling vom Besen aus dem Labor fegen zu lassen, sondern etwas zu erschaffen, was niemandem schadet.
Es ist hier und jetzt zu finden. Kinder machen es uns vor. Erwachsenwerden bedeutet nicht, nicht mehr an Feen, Drachen und verborgene Schätze zu glauben, sondern sich mit ihnen sozusagen immer mehr anzufreunden und sich immer weiter in eine Welt leiten zu lassen, in der alles möglich ist. Hier wartet niemand darauf, etwas oder jemand zu werden. Hier ist man, was man entscheidet zu sein.
Neue Räume
Als Erwachsene ist es an uns, uns darum zu kümmern, dass dieser Kanal wieder frei wird. Es ist an uns, die Schichten abzutragen, die die ursprüngliche Geschichte von einer Erde bedecken, auf der es alles im Überfluss gibt und kein Mangel herrscht, der uns kleinlich, hartherzig und böse macht. Wir sind dafür verantwortlich, welche Eigenschaften wir in uns entwickeln.
Das Gegengift heisst Dankbarkeit. Wer den Mangel fokussiert, schafft immer mehr Mangel. Wer aufrichtig dankbar ist, dem fehlt es an nichts. Wie im Märchen macht er den Dingen Lust, zu ihm zu kommen. Er zieht sie förmlich an, indem er einen Raum dafür schafft, in dem sie willkommen sind.
Das ist etwas ganz Anderes, als Wunschlisten ans Universum zu schicken oder seine Zukunft in den schillerndsten Farben zu visualisieren. Es findet jetzt statt. Hinter dieser Haltung steht keine Erwartung, sondern das tiefe Wissen um die eigene Schöpferkraft: die Möglichkeit, in Räume zu gelangen, in denen alles da ist. Kaum auszumalen, was passieren würde, wenn das jeder täte.
von:
Über
Kerstin Chavent
Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung, In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.
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