Das Wunder von Tiedoli

Alte Menschen beleben ein Bergdorf

Pflege- und Altersheime sind die letzte Station für viele betagte Menschen. Von der Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen und ihrer Würde beraubt warten sie hier auf das Sterben. Ein lukratives Geschäft übrigens, an dem die Sozial- und Wohlfahrtsinstitutionen kräftig mitverdienen. Doch es geht auch anders. Ein kleines, verlassenes Dorf im Norden Italiens wurde in den letzten Jahren zur grössten Landkommune Europas für 70- bis 90-Jährige. Ihr Motto: Tun und lassen, was man will und noch kann und – das Leben geniessen. Der Nebeneffekt der Rentnerkommune: Entvölkerte Landstriche erwachen wieder zu neuem Leben.

Es gibt Geschichten, die deshalb überzeugen, weil sie einfach sind. Geschichten, in denen Herzenswärme und Verstand, Menschlichkeit und Pragmatismus vorkommen, und sich jeder fragt: Warum ist vorher noch niemand darauf gekommen? Dorette Deutsch erzählt in ihrem neuen Buch eine solche Geschichte aus der Emilia Romagna im Norden Italiens.
Dort hat Mario Tommasini, einst Lokalpolitiker der kommunistischen Partei und Bürgerschreck, begonnen, die Altersheime aufzulösen, und die früheren Bewohner in einem einst verlassenen Bergdorf und umliegenden Weilern angesiedelt. Die Betagten haben eine eigene Wohnung oder gar ein seniorenfreundliches Haus und können tun und lassen, was sie wollen. Da die meisten nicht mehr so viel können, wie sie möchten, werden sie von Pflegerinnen im eigenen Haus versorgt. Das Personal kocht, wäscht, putzt, pflegt und redet mit den Betagten, die in ihren eigenen vier Wänden mehr Fähigkeiten entwickeln, als ihnen im Heim jemand zugetraut hätte. Unkraut jäten im gemeinsamen Gemüsegarten, die Polenta im Kessel über dem Feuer rühren, die Katzen versorgen und vor allem – das Leben geniessen.
Dorette Deutsch berichtet glaubwürdig, dass die betagten Bewohner des Weilers Tiedoli einen zufriedenen, ja glücklichen Eindruck machen und die Atmosphäre des Ortes nichts von der Ausstrahlung eines Altersheimes hat. Im Gegenteil, die Landkommune der 70- bis 90-Jährigen ist zu einem beliebten Ausflugsziel für Familienangehörige und Neugierige geworden, die das Wunder von Tiedoli sehen wollen. Viele von ihnen hat die Atmosphäre in den Bergen überzeugt. Sie haben die verlassenen Häuser des Ortes und in der Umgebung gekauft, renoviert und besiedeln die entvölkerte Region wieder. Und so hat sich in der Gegend eine wirtschaftliche Infrastruktur mit Bäcker, Gemüsehändler und Trattoria entwickelt. Eine Busgesellschaft verbindet neu den Weiler mit der nächsten Kleinstadt. Drei Mal in der Woche kommen zudem die Bewohner des Altenheims aus der nahe gelegenen Stadt den Berg herauf, helfen im Garten oder in der Küche und geniessen das Landleben und das sorgfältig gekochte Mittagsmenü.
Tiedoli und die anderen wieder belebten Orte der Emilia-Romagna sind in Italien Vorbilder für ähnlich entvölkerte Regionen, deren Lokalpolitiker das Modell Tiedoli nachahmen wollen. Denn die Landkommune ist deutlich billiger als die Unterbringung der Betagten in einem Heim. Und Tiedoli ist eine Antwort auf die Frage, wie eine Gesellschaft mit einer wachsenden Anzahl älterer und eventuell hilfsbedürftiger Menschen umgehen kann. Italien hat bereits den höchsten Anteil an betagten Menschen in der EU und in wenigen Jahren werden 40 Prozent der Italiener über 65 Jahre alt sein. Das Land muss also lebenswerte Alternativen zu Altersheimen entwickeln, denn weder menschlich noch finanziell kann Italien die Unterbringung in Heimen von Hunderttausenden Menschen verkraften.
Für die Freiheit von psychisch Kranken hat Italien bereits in den 1960er Jahren Massstäbe gesetzt. Damals wurden – ebenfalls auf Initiative von Mario Tommasini – die geschlossenen Psychiatrien aufgelöst und die psychisch Kranken in der Gemeinschaft untergebracht. Tommasini hat auch Heime für Behinderte geöffnet, die Gefängnisse und die ehemals geschlossene Unterbringung von Drogenabhängigen reformiert und Heime für Waisen aufgelöst. Die Freiheit hat nach bisherigen Erkenntnissen allen Beteiligten gut getan – und kostet die Gesellschaft erst noch weniger.

Alternativen zum Betagtenghetto
Um die Kosten für Seniorenbetreuung und Pflege geht es auch hierzulande, denn auch in Deutschland (und der Schweiz) werden in wenigen Jahren ein Drittel der Menschen über 65 Jahre alt sein. Da sie dann noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von 20 Jahren haben, ist es höchste Zeit, sich über Alternativen zu den üblichen Heimen Gedanken zu machen. Nicht jeder wird in der verbleibenden Lebenszeit pflegebedürftig, aber mit Sicherheit werden die SeniorInnen andere Bedürfnisse im Alltag haben als jüngere Generationen.
Dorette Deutsch hat auch in Deutschland nach Alternativen zu Pflege- und Wohnheimen gesucht und hat erste Ansätze zu einer «offensiven Betagtenpolitik» gefunden. Sozialarbeiter einer Stadt oder einer Wohlfahrtseinrichtung kümmern sich ambulant um die SeniorInnen in ihrer Wohnung und «übernehmen die klassischen Aufgaben, die die Töchter und Schwiegertöchter früher übernommen haben». Ein Wunder von Tiedoli hat sie aber nicht entdeckt, denn auch hier verhindert das hoch entwickelte Abrechnungssystem der Pflegeversicherungen eine richtige Neuerung. Die Sozial- und Wohlfahrtsverbände verdienen nämlich deutlich mehr an internierten SeniorInnen, wenn sie das Geld der Pflegeversicherung ganz einstreichen. Solange das System es ermöglicht, dass an den alten Menschen gut verdient werden kann, wird sich nicht viel ändern. Es sei denn, die nachwachsende ältere Generation organisiert sich selbst und besetzt die Dörfer und Weiler in den brachliegenden Regionen – und schafft so kleine Wirtschaftswunder in blühenden Landschaften.

Ulrike Fokken ist Journalistin und changeX-Autorin. In ihrem neuesten Buch «So geht’s, Deutschland» beschreibt sie die erfolgreiche Reformpolitik in europäischen Nachbarländern. http://www.changeX.de

Dorette Deutsch: Schöne Aussichten fürs Alter – wie ein italienisches Dorf unser Leben verändern kann. Piper Verlag, München 2006, 240 Seiten, 6.90 Euro, http://www.piper-verlag.de 
01. November 2006
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