«Décroissance» lernt Schweizerdeutsch

Die Spatzen pfeifen es mittlerweile von den Dächern: Wirtschaftswachstum kann schädlich sein. Die Décroissance-Bewegung, in Frankreich entstanden und erstarkt, in der Westschweiz auch schon etabliert, fasst jetzt Fuss in der deutschen Schweiz.

Zur Erinnerung: In Frankreich gibt es rund um die Zeitschrift «La Décroissance» eine wachstumskritische Bewegung gleichen Namens (vgl. Zeitpunkt Nr. 96 [1] und 97 [2]). Ihre Mitglieder nennen sich «Wachstumsverweigernde» (objecteurs de croissance). Bei allen Meinungsverschiedenheiten haben sie eine gemeinsame Grundüberzeugung: Wer die Lösung unserer sozialen und ökologischen Probleme im Wirtschaftswachstum sucht, macht Vogel-Strauss-Politik. Unsere Gesellschaft ist in den letzten dreissig Jahren trotz Wachstum weder gerechter noch menschlicher noch umweltfreundlicher geworden, und glücklicher schon gar nicht. Vielmehr hat der Wachstumszwang, unter dem die Wirtschaft steht, vieles kaputtgemacht oder verhindert. Das haben Finanzkrise und Kopenhagener Konferenz der ganzen Welt vor Augen geführt. Die Vermutung wird allmählich zur Gewissheit: In unseren hoch entwickelten westlichen Gesellschaften ist Wachstum nicht die Lösung der Probleme; es ist selbst das Problem.

Die französischen Décroissance-Leute haben zwei Ziele: Erstens wollen sie erreichen, dass die Wirtschaft die Führungsrolle, die sie sich seit Jahrzehnten anmasst, an andere Kräfte in der Gesellschaft abgibt. Politik darf nicht mehr wirtschaftshörig sein. Und zweitens arbeiten sie in Theorie  und Praxisan Alternativen zum heutigen Gewurstel. Was sie im Sinne haben, könnte freilich einen Herkules entmutigen. Es geht immerhin um einen neuen Gesellschaftsentwurf, einen Kulturwandel. Aber trotz aller Schwierigkeiten gewinnt die Bewegung rasch an Boden. Die Krise hat Wachstumskritik in Frankreich und europaweit salonfähig gemacht.

Seit 2007 sind in der Westschweiz vier regionale Décroissance-Gruppen entstanden. Der Boden war zumindest in Genf gut vorbereitet, wo der Pionier der Wachstumskritik Professor Jacques Grinevald seit den Siebzigerjahren unterrichtet. Die Website www.decroissance.ch informiert über die einzelnen Gruppen.

Im Januar 2010 ist der Funke auf die deutsche Schweiz übergesprungen. An der diesjährigen Tour de Lorraine in Bern stiess ein Informationsstand über Wachstumsverweigerung auf so viel Interesse, dass die Gründung einer Berner Regionalgruppe nun in Sichtweite ist.
Ein erstes Treffen im März hat zwei Ziele: 1) Information über Ideen und Ziele der Décroissance-Bewegung in Frankreich und der Westschweiz. 2) Gedankenaustausch über die Möglichkeiten einer künftigen Berner Décroissance-Gruppe.
Das Treffen findet statt am Dienstag, 16. März, 19.30 Uhr, in der Brasserie Lorraine, Bern, Quartiergasse 17 (ab Bahnhof Bern Trolleybuslinie 20 Richtung Wankdorf Bahnhof bis Lorraine). Interessierte sind herzlich eingeladen.
Infos (ab 1. März 2010) www.decroissance-bern.ch.

Download Informationsbroschüre (pdf, 2.7 MB)

1] http://www.zeitpunkt.ch/fileadmin/download/ZP_96/96_20_decroissance.pdf
2] http://www.zeitpunkt.ch/fileadmin/download/ZP_97/97_27-29_Decroissance.pdf
11. Februar 2010
von: