Der Mythos der Gebrechlichkeit im Alter

Unser sensomotorisches System reagiert mit bestimmten Muskelreflexen auf tägliche Bewegungen, Belastungen und psychischen Stress. Das Ergebnis sind Steifheit, Schmerzen und Einschränkung der Mobilität. Diesen Zustand nennt man «sensomotorische Amnesie». Er wird oft verwechselt mit dem Älterwerden.

Wir sollten öfters tanzen. (Bild: pexels.com)

Es kommt schleichend, irgendwann zwischen Dreissig und Vierzig. Eines Tages stellt man fest, dass im Freundeskreis über körperliche Beschwerden diskutiert wird.

Das war früher gar kein Thema.

Man kommt morgens nicht mehr so gut aus der Koje, fühlt sich steif und nicht mehr so beweglich. Von diffusen Schmerzen ist die Rede, von denen man nicht weiss, woher sie kommen und warum man sie hat. Und irgendwann sagt dann jemand: «Das kommt halt mit dem Älterwerden.»

Dass wir mit 50 nicht mehr herumhüpfen wie junge Hasen und uns körperlich verausgaben bis zur Besinnungslosigkeit, hat nicht nur körperliche, sondern auch spirituelle Gründe. Die Eroberung der Welt ist ein Privileg der Jüngeren, die voll im Saft stehen. Im Ayurveda, der indischen Gesundheitslehre, ist der mittlere Lebensabschnitt (16 bis ca. 60/70 Jahre) die so genannte Pitta-Zeit, die Zeit des Feuers. In dieser Zeit lodert die Flamme, da wollen wir etwas in die Welt bringen, etwas bewegen, uns manifestieren, Leistungen erbringen und Berge versetzen.

Wenn wir älter werden, rückt anderes in den Vordergrund: Unser Lebenswerk ist zu einem grossen Teil getan, der Nachwuchs ist aus dem Haus, die Hypothek ist abbezahlt. Nun können wir uns endlich mit den wirklich wichtigen Fragen des Lebens beschäftigen, eine Mentoren-Aufgabe wahrnehmen oder jene unterstützen, die von unserer Lebenserfahrung profitieren. Damit ist nicht gemeint, dass wir die Hände in den Schoss legen, keine Ziele und keinen Ehrgeiz mehr haben sollen. Fähigkeiten, die man nicht gebraucht, verliert man mit der Zeit.

Es ist unbestritten, dass der Körper sich mit zunehmendem Alter verändert und dass es von Vorteil ist, wenn wir darauf Rücksicht nehmen. Und es ist durchaus im Sinne des Erfinders, dass wir mit 50 körperlich anders unterwegs sind als mit 20. Das heisst aber nicht, dass wir in jeder Hinsicht kürzer treten sollen. Ebenso wenig heisst es, dass wir mit Schmerzen, Steifheit und Einschränkungen leben müssen, weil das nun mal zum Älterwerden gehört.

«Es ist möglich, sich wirklich ‘jung’ zu fühlen, ganz gleich, wie alt man ist. Praktisch bedeutet dies, sich eines Muskeltonus zu erfreuen, der sich durch eine geringe Kontraktion, einen niedrigen Energieverbrauch, Beschwerdefreiheit und effiziente Kontrolle auszeichnet.» Thomas Hanna

Der amerikanische Philosoph und Stressforscher Professor Thomas Hanna (1928-1990) entlarvte die Auffassung, Gebrechlichkeit und nachlassende Beweglichkeit seien mit zunehmendem Alter unausweichlich, als Mythos. Er entwickelte ein System von Übungen und nannte es Hanna Somatics. Es baut auf der Feldenkrais-Methode auf und ermöglicht einen bewussteren Umgang mit dem Körper und neue, gesündere Bewegungsmuster.

Gemäss Hanna ist es unbestritten, dass wir mit dem Alter normalerweise steif und unbeweglich werden, und wir finden das alle ganz normal, weil es in unserer Vorstellung zum Älterwerden gehört. Die Frage ist: Warum treten solche Degenerationserscheinungen auf, oft schon ab 30, wenn wir, statistisch gesehen, noch nicht einmal in der Lebensmitte stehen?

Unser sensomotorisches System reagiert auf tägliche Belastungen und Traumata mit spezifischen Muskelreflexen. Werden sie wiederholt ausgelöst, kommt es zu Muskelverspannungen, die wir willkürlich nicht entspannen können. Wir leben also mit diesen Muskelkontraktionen und gewöhnen uns daran, und irgendwann wissen wir nicht mehr, wie es war, als wir uns noch frei bewegten.

Das nennt man sensomotorische Amnesie.

Teile unseres Körpers befinden sich in ständiger Anspannung, und wir merken es nicht. So kommt es zum Verschleiss, und es kostet uns Energie, die wir anderswo besser einsetzen könnten. Die gute Nachricht ist: Sensomotorische Amnesie ist nicht nur vermeidbar, sondern kann auch aufgehoben werden. Das sensomotorische System kann Gelerntes (schädliche Bewegungsmuster) verlernen und sich an Vergessenes (freie Bewegung) erinnern.

Und wie geht das jetzt genau? Man kann die Übungen machen, die Thomas Hanna in seinem Buch beschreibt, oder man sucht sich einen Therapeuten, der Hanna Somatics anwendet. Oder man macht Feldenkrais. Es heisst, pro Lebensjahr brauche man eine Feldenkrais-Stunde, dann wird das Fahrgestell wieder wie neu.

Mehr dazu

- Beweglich sein - ein Leben lang, von Thomas Hanna
- Übungen von Thomas Hanna auf Youtube

06. August 2019
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