Der Schnüffler von nebenan

Wochen hat es gedauert, bis ich ihn treffen konnte. Irgendwo in einem Hinterzimmer eines heruntergekommenen Wohnblocks.

Er kam mit einem alten, verbeulten Ford an, stieg aus, Schlapphut, zerknitterter Mantel, Sonnenbrille (obwohl es gerade zu regnen begann), ein schleppender Gang, ein mürrisches «Hi», kein «Sorry», dabei hatte er sich um eine Stunde verspätet. Mir war der Typ, unter uns gesagt, von Beginn weg unsympathisch. Ein alternder, halbversoffener, selbstverliebter Protz, der den ganzen Tag auf unerträglich cool macht. Hoffentlich kann der sich nicht leiden, wenn er sich im Spiegel sieht, dachte ich mir.

Natürlich stimmt nichts von alledem. Phil M. fährt einen flotten Hyundai, ist pünktlich wie unsere Bahn und sieht – gescheiteltes Haar, Schnäuzer, eine etwas altertümliche Brille – eher aus wie ein Lehrer oder ein Archivar. Sein Büro in der Altstadt ist geräumig, hell und schmuck und ziemlich ordentlich. Phil, etwa Mitte fünfzig, bringt Kaffee und schmunzelt: «Jaja, die Sache mit den Klischees. Eigentlich kannst du sie alle vergessen. Schliesslich sind wir nicht in einem dieser Krimis von Chandler.»

Lukrative Seitensprünge

Phil M. ist einer von schätzungsweise 500 Privatdetektiven in unserem Land. So genau weiss das niemand, denn «Privatdetektiv» ist kein geschützter Beruf und eine staatlich anerkannte Ausbildung gibt es auch nicht. In manchen Kantonen wie im Thurgau und in St. Gallen müssen angehende Detektive zwar eine Prüfung ablegen, aber das sind Ausnahmen. Dafür gibt es massig Verbände: der «Fachverband Schweizerischer Privatdetektive» etwa, der «Schweizerischen Privatdetektiv-Verband ehemaliger Polizei- und Kriminalbeamter» oder der «Schweizerische Verband der Berufsdetektive». Und eine «Akademie für Berufsdetektive GmbH». Dort kann sich, wer will, melden und Kurse belegen. Allerdings laufe das Geschäft nur mäs­sig, sagt Phil M., der seit anfangs der 1990er-Jahre dabei ist. «Früher konnten wir mit Seitensprüngen richtig viel Geld machen, doch das ist vorbei.» Grund ist das im Jahr 2000 in Kraft getretene Scheidungsrecht. Seither dürfen Ehen nicht nur dann geschieden werden, wenn einem der Partner die Schuld am Scheitern nachgewiesen werden kann, was eben meist das Fremdgehen war.

«Seien wir ehrlich, wir profitieren doch vom Misstrauen der Leute.»

Die Arbeit geht den Detektiven trotzdem nicht aus. «Wir profitieren vom Misstrauen der Leute. Und das wird in Zeiten wie diesen immer grösser», sagt Phil M. nüchtern. Zu seinen Klienten gehören Unternehmen, die ihren Angestellten nicht trauen, die glauben, dass sie Material aus der Bude mitgehen lassen oder mit dem Firmenauto in den Kurzurlaub fahren. Oder Headhunter, die befürchten, dass sich ehemalige Mitarbeiter nicht an das Wettbewerbsverbot halten. Oder Spediteure, die meinen, ihre LKW-Fahrer würden Sprit abzwacken. «Und ja, natürlich auch die Frau des Oberarztes, die überzeugt ist, ihr Mann habe eine Affäre mit der Assistentin», fügt Phil M. an.

Das letzte Geheimnis

So oder so gehört das Recherchieren und Observieren immer noch zum Kerngeschäft des Detektivs. «Wir verbringen viel Zeit am Schreibtisch, sammeln akribisch Daten, kombinieren die Infos, erstellen ein Profil der Zielperson. Erst dann gehen wir ins Feld.» Konkret kann das bedeuten, dass Phil M. einen GPS-Tracker an ein Auto anbringt oder über Stunden einer Person durch die Stras­sen, in die Cafés oder zum Coiffeur folgt. Allererst sei Geduld gefragt, aber auch Menschenkenntnis, denn ein guter Detektiv müsse sich in die Zielperson einfühlen, er müsse idealerweise vorwegnehmen können, was diese als nächstes tun wird, erklärt Phil M.
Dabei seien die Detektive oft mit völlig unvorhergesehenen Situationen konfrontiert, was Kreativität verlange. Auffliegen würden sie aber nur selten. Zudem arbeiten die Detektive von heute oft im Team. «Wenn ich den Eindruck habe, die Zielperson werde misstrauisch oder ich falle in irgendeiner Weise auf – etwa, nachdem ich wieder einmal eine Nacht im Auto vor der Wohnung einer verdächtigen Person verbracht habe –, so gebe ich direkt an einen Kollegen ab», sagt Phil M. «Vorsicht und Diskretion sind in diesem Geschäft alles.»

«Ob Facebook oder Mülltonne, wir finden immer etwas.»

Im Zeitalter von Internet und Sozialen Medien mag man sich fragen, wozu es noch Detektive braucht. Kann es überhaupt noch Verborgenes geben in diesen Zeiten der vollständigen Transparenz und totalen Verfügbarkeit schier endloser Datenmengen? Aber sicher, sagt Phil M. «Es gibt immer ein letztes Geheimnis. Vielleicht ist es heutzutage schwieriger herauszufinden, doch umso besser für uns. Denn dazu braucht es Profis.» Also Leute, für die das Internet keine Gefahr für ihre Arbeit darstellt, sondern vielmehr eine Chance, da einzigartige Quelle von Informationen. «Viele von uns hinterlassen auf Facebook, Instagram oder Xing eine Unmenge an Spuren: was wir gerade tun, wo wir sind, wen wir treffen, worüber wir uns ärgern, was wir denken und fühlen.» Die Kunst und Fertigkeit der Detektive besteht einmal mehr darin, all diese Informationen richtig zu lesen und aufeinander zu beziehen. «Ob Facebook oder Mülltonne, glaub mir, wir finden immer etwas», sagt Phil M.

Der Wunsch nach Überwachung

Bleibt die Frage, ob sich Phil M. denn nicht manchmal unwohl fühlt, so als Schnüffler von nebenan. «Meist reagieren die Leute sehr positiv, wenn sie erfahren, dass ich Privatdetektiv bin. Ich denke, das hat auch mit der allgemeinen Verunsicherung in unserer Gesellschaft zu tun.» Denn vielen sei ihre Umwelt zunehmend verdächtig geworden, meint Phil M. «Der Nachbar, der sich sonderbar benimmt, das junge Paar, das nicht arbeitet, der Arbeitskollege, der einen garantiert wieder über den Tisch ziehen will, die vielen Ausländer und Obdachlosen, die nachts herumstreunen.»

Je schlimmer die Unsicherheit, umso grösser der Wunsch nach Überwachung, auch davon ist Phil M. überzeugt. Tatsächlich sei die Bereitschaft der Bürger, den anderen zu «beschatten» oder zu «verpfeifen», inzwischen recht hoch. Das zeige sich auch daran, dass es kaum noch Widerstand gegen Überwachungsgesetze gebe. Ob der Detektiv recht hat, wird sich schon im kommenden Jahr zeigen, wenn die Schweizer Bevölkerung darüber abstimmen wird, ob Behörden die IV-Bezüger und Arbeitslosen von «Sozialdetektiven» beschatten lassen dürfen. Sicher, auch dann dürfen Detektive nicht alles tun. Doch anders als in Deutschland, wo es ein sogenanntes Stalking-Gesetz gibt und es Privatdetektiven z. B. untersagt ist, Peilsender an Autos anzubringen oder Privatpersonen abzuhören, braucht es hierzulande recht viel, damit Detektive gegen bestehende Gesetze verstossen.
Phil M. kann das natürlich nur recht sein. Doch ist der Ruf nach permanenter Überwachung auch gut für die Gesellschaft? Nein, sagt der Detektiv, Vertrauen sei der Grundpfeiler eines friedlichen Zusammenlebens. Je weniger in einer Gesellschaft herumgeschnüffelt werden müsse, umso besser. Zudem sei es schlecht für sein Geschäft, wenn jeder jeden beschatte – und also auch er, der Beschatter, beschattet würde und so seine Tarnung hinter der Tarnung auffliege.
Übrigens: Phil M. heisst natürlich nicht so. Es ist ein geheimnisvolles Kürzel für den knallhartesten, unbestechlichsten, melancholischsten Detektiv aller Zeiten. Einer, der immer Pfeife raucht und oft Bourbon trinkt. Und der, selbstverständlich, Probleme mit Frauen hat. Soweit ich weiss, trifft nichts davon auf Phil M. zu.   

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