«Die Diktatur ist nicht ganz ausgereift, sie übt noch»

Gelenkte Scheindemokratie, Angriff auf die Menschenwürde und «faschistische Verschiebung» - Ein Versuch, unsere Epoche zu porträtieren, einmal nicht als Essay, sondern als politisches Gedicht. (Von Roland Rottenfußer)

Habt ihr uns gefragt?



Die Ausgegrenzten ziehen Wartenummern.


Die Luft ist stickig und verbraucht, nirgendwo Mut.


Die Händler schreien und die Sänger werden stummer,


Nur in den Schächten schwelt verhalten etwas Wut.



Die Visionäre sparen sich kühnere Entwürfe,


Selbst die Satiren wirken blutleer, wie kastriert.


Die Demonstranten fragen scheu, was sie noch dürfen,


Und an der Börse wird ein Gesslerhut platziert.



Die Menschenwürde, hieß es, wäre unantastbar.


Jetzt steht sie unter Finanzierungsvorbehalt.


Ein Volk in Duldungsstarre, grenzenlos belastbar.


Die Wärmestuben überfüllt, denn es wird kalt.



Wie effizient ihr uns in euer Netz einspinnt – ich muss euch fast Bewunderung zollen!


Aber habt ihr uns gefragt, ob wir die Welt, die ihr geschaffen habt, auch wollen?



Für eure Spielschulden bezahlen unsere Kinder.


Die habt ihr fürsorglich schon pränatal versklavt.


Ab und zu muckt ein Grieche auf oder ein Inder,


Die Deutschen nicht, die sind seit jeher eher brav.



Und die Altvorderen fördern keinen mehr, sie casten.


Die Jungen leben nur noch für den Lebenslauf.


Man mahnt die Ausgezehrten, konsequent zu fasten,


Und tischt den Übersättigten ein Festmahl auf.



Die Saubermänner fordern harte Strafen,


So können sie sich jede Selbstkritik ersparen.


Denn sehr viel leichter regiert es sich mit Schafen,


Die sich verstört um ihre schlechten Hirten scharen.



Wir dürfen wählen, was wir wollen, solang wir nur das denken können, was wir sollen.


Aber habt ihr uns gefragt, ob wir die Welt, die ihr geschaffen habt, auch wollen?



Den Technokraten ist es peinlich, noch zu fühlen,


Und statt der Güte hofiert man Bonität.


Ihr lullt uns ein mit Euren Hamburgern und Spielen,


Schauen wir vom Bildschirm auf, ist es vielleicht zu spät.



Zu tausenden als Nutzmenschen gezüchtet,


Den Ökonomen zur Verwertung überstellt.


Ein wenig Aufschub finden wir nur in den Süchten.


Gibt es noch etwas, irgendetwas, was uns hält?



Die Diktatur ist nicht ganz ausgereift, sie übt noch.


Wer ihren Atem spürt, duckt sich schon präventiv.


Und nur der Narr ist noch nicht ganz erstarrt, er liebt noch


Und wagt zu träumen, deshalb nennt Ihr ihn naiv.



Und mit sanfter Penetranz sachzwängt ihr uns in unsere vorgeschriebenen Rollen.


Aber habt ihr uns gefragt, ob wir die Welt, die ihr geschaffen habt, auch wollen?

05. Oktober 2009
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